Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ein Humorist als Politiker

mainland nicht heimführen kann, daß dieser Nationalismus nicht großdeutsch,
sondern kleindeutsch ist, bedarf heute keiner Erörterung mehr. Viel schwerer
fällt für uns die Gestalt des Scriewer in "Kloster Lügen" ins Gewicht, ein
großartig und grimmig durchgeführter Charakter, der einem verständnisvollen
Leser wohl das Herz klopfen machen kann. Scriewer ist Gefühlskomödiant.
Seine ehrgeizigen unredlichen Strebereien verfolgt er unter der Maske des
Gefühls. Was dem deutscheu Nationalcharakter seine Art und seinen Wert
verleiht, das hängt sich dieser Wolf als Schafskleid um. Über "Gutmcmns
Reisen" stand das heiter-ernste Motto: "Nach dreißig Jahren begreift es kein
Mensch mehr, wie mau sich hat plagen müssen, um die lieben Kleinen zu¬
sammenzubringen!" Michels Mutter steht als Verfasserin unter dem bedeut¬
samen Wort, das man inrlwtis lautg-natis auch über das Seitenstück "Kloster
Lugau" setzen kann.

Kann einem nicht manchmal im deutschen Vaterlande zu Mute sein, als
ob der Nationalismus als eine sichere Hypothek im "Tresor" des deutschen
Volkes läge? Als ob viel wichtigere Angelegenheiten im Vordergrunde stünden?
Wenn wir den Dichter recht verstehen, so will er sagen: die Einigung Deutsch¬
lands ist die große Erbschaft des Zeitalters Kaiser Wilhelms I. und Bis-
mcircks. Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu be¬
sitzen! Es kann nicht genug betont werden, daß die deutsche Einheit ein Acker
ist, der bebaut werden muß, daß die deutschen Stämme sich in einander ein¬
leben, innere Berührung, innigeres Verständnis und Einverständnis erstreben
müssen. Raabe reicht mit seinem Leben in drei Zeitalter hinein, er hat die
Zeit der Sehnsucht und der Erfüllung erlebt, und er lebt in der Zeit der
Erben. Er kennt den Erbfeind der deutschen Nation, den Partikularismus.
Das Wort, das die Prediger (in der "Chronik") der deutschen Jugend ins
Gesangbuch schreiben sollen, er hat es in allen seinen Werken dem deutschen
Volke ans Herz legen wollen. Seine Bücher sind Offenbarungen des deutschen
Gemütslebens in seiner ganzen Tiefe. Und im deutschen Gemüt kann einzig
der deutsche Familiensinn wurzeln, der das ganze Volk erst in Wahrheit zu
einer großen Familie macht und alle deutschen Angelegenheiten, mögen sie
sein, welcher Art sie wollen, zu Familienangelegenheiten.

Die Wendung, die Raabes politisches Denken hier nimmt, ist über¬
raschender, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Aus der Einheit durch
die Mannichfaltigkeit zurück zur Einheit, das ist nach unser aller Glauben die
Idee der Mcnschheitsentwicklung, uns so sicher wie das Wort: Von der Natur
durch die Kultur zurück zur Natur! Aber während wir das Endziel aller
Entwicklung in weiter Ferne, am Ende der Geschichte wühlten, sagt Raabe:
Nein! Es liegt viel näher, als ihr glaubt! In dem Nahmen des Natio¬
nalismus, der Vvlksfcimilie, liegt es dicht vor euch! Betrage euch mir nicht
wie Parzival, als er den Gral verscherzte! Wenn die verblendeten Schwärmer,


Ein Humorist als Politiker

mainland nicht heimführen kann, daß dieser Nationalismus nicht großdeutsch,
sondern kleindeutsch ist, bedarf heute keiner Erörterung mehr. Viel schwerer
fällt für uns die Gestalt des Scriewer in „Kloster Lügen" ins Gewicht, ein
großartig und grimmig durchgeführter Charakter, der einem verständnisvollen
Leser wohl das Herz klopfen machen kann. Scriewer ist Gefühlskomödiant.
Seine ehrgeizigen unredlichen Strebereien verfolgt er unter der Maske des
Gefühls. Was dem deutscheu Nationalcharakter seine Art und seinen Wert
verleiht, das hängt sich dieser Wolf als Schafskleid um. Über „Gutmcmns
Reisen" stand das heiter-ernste Motto: „Nach dreißig Jahren begreift es kein
Mensch mehr, wie mau sich hat plagen müssen, um die lieben Kleinen zu¬
sammenzubringen!" Michels Mutter steht als Verfasserin unter dem bedeut¬
samen Wort, das man inrlwtis lautg-natis auch über das Seitenstück „Kloster
Lugau" setzen kann.

Kann einem nicht manchmal im deutschen Vaterlande zu Mute sein, als
ob der Nationalismus als eine sichere Hypothek im „Tresor" des deutschen
Volkes läge? Als ob viel wichtigere Angelegenheiten im Vordergrunde stünden?
Wenn wir den Dichter recht verstehen, so will er sagen: die Einigung Deutsch¬
lands ist die große Erbschaft des Zeitalters Kaiser Wilhelms I. und Bis-
mcircks. Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu be¬
sitzen! Es kann nicht genug betont werden, daß die deutsche Einheit ein Acker
ist, der bebaut werden muß, daß die deutschen Stämme sich in einander ein¬
leben, innere Berührung, innigeres Verständnis und Einverständnis erstreben
müssen. Raabe reicht mit seinem Leben in drei Zeitalter hinein, er hat die
Zeit der Sehnsucht und der Erfüllung erlebt, und er lebt in der Zeit der
Erben. Er kennt den Erbfeind der deutschen Nation, den Partikularismus.
Das Wort, das die Prediger (in der „Chronik") der deutschen Jugend ins
Gesangbuch schreiben sollen, er hat es in allen seinen Werken dem deutschen
Volke ans Herz legen wollen. Seine Bücher sind Offenbarungen des deutschen
Gemütslebens in seiner ganzen Tiefe. Und im deutschen Gemüt kann einzig
der deutsche Familiensinn wurzeln, der das ganze Volk erst in Wahrheit zu
einer großen Familie macht und alle deutschen Angelegenheiten, mögen sie
sein, welcher Art sie wollen, zu Familienangelegenheiten.

Die Wendung, die Raabes politisches Denken hier nimmt, ist über¬
raschender, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Aus der Einheit durch
die Mannichfaltigkeit zurück zur Einheit, das ist nach unser aller Glauben die
Idee der Mcnschheitsentwicklung, uns so sicher wie das Wort: Von der Natur
durch die Kultur zurück zur Natur! Aber während wir das Endziel aller
Entwicklung in weiter Ferne, am Ende der Geschichte wühlten, sagt Raabe:
Nein! Es liegt viel näher, als ihr glaubt! In dem Nahmen des Natio¬
nalismus, der Vvlksfcimilie, liegt es dicht vor euch! Betrage euch mir nicht
wie Parzival, als er den Gral verscherzte! Wenn die verblendeten Schwärmer,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0282" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219284"/>
          <fw type="header" place="top"> Ein Humorist als Politiker</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_817" prev="#ID_816"> mainland nicht heimführen kann, daß dieser Nationalismus nicht großdeutsch,<lb/>
sondern kleindeutsch ist, bedarf heute keiner Erörterung mehr. Viel schwerer<lb/>
fällt für uns die Gestalt des Scriewer in &#x201E;Kloster Lügen" ins Gewicht, ein<lb/>
großartig und grimmig durchgeführter Charakter, der einem verständnisvollen<lb/>
Leser wohl das Herz klopfen machen kann. Scriewer ist Gefühlskomödiant.<lb/>
Seine ehrgeizigen unredlichen Strebereien verfolgt er unter der Maske des<lb/>
Gefühls. Was dem deutscheu Nationalcharakter seine Art und seinen Wert<lb/>
verleiht, das hängt sich dieser Wolf als Schafskleid um. Über &#x201E;Gutmcmns<lb/>
Reisen" stand das heiter-ernste Motto: &#x201E;Nach dreißig Jahren begreift es kein<lb/>
Mensch mehr, wie mau sich hat plagen müssen, um die lieben Kleinen zu¬<lb/>
sammenzubringen!" Michels Mutter steht als Verfasserin unter dem bedeut¬<lb/>
samen Wort, das man inrlwtis lautg-natis auch über das Seitenstück &#x201E;Kloster<lb/>
Lugau" setzen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_818"> Kann einem nicht manchmal im deutschen Vaterlande zu Mute sein, als<lb/>
ob der Nationalismus als eine sichere Hypothek im &#x201E;Tresor" des deutschen<lb/>
Volkes läge? Als ob viel wichtigere Angelegenheiten im Vordergrunde stünden?<lb/>
Wenn wir den Dichter recht verstehen, so will er sagen: die Einigung Deutsch¬<lb/>
lands ist die große Erbschaft des Zeitalters Kaiser Wilhelms I. und Bis-<lb/>
mcircks. Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu be¬<lb/>
sitzen! Es kann nicht genug betont werden, daß die deutsche Einheit ein Acker<lb/>
ist, der bebaut werden muß, daß die deutschen Stämme sich in einander ein¬<lb/>
leben, innere Berührung, innigeres Verständnis und Einverständnis erstreben<lb/>
müssen. Raabe reicht mit seinem Leben in drei Zeitalter hinein, er hat die<lb/>
Zeit der Sehnsucht und der Erfüllung erlebt, und er lebt in der Zeit der<lb/>
Erben. Er kennt den Erbfeind der deutschen Nation, den Partikularismus.<lb/>
Das Wort, das die Prediger (in der &#x201E;Chronik") der deutschen Jugend ins<lb/>
Gesangbuch schreiben sollen, er hat es in allen seinen Werken dem deutschen<lb/>
Volke ans Herz legen wollen. Seine Bücher sind Offenbarungen des deutschen<lb/>
Gemütslebens in seiner ganzen Tiefe. Und im deutschen Gemüt kann einzig<lb/>
der deutsche Familiensinn wurzeln, der das ganze Volk erst in Wahrheit zu<lb/>
einer großen Familie macht und alle deutschen Angelegenheiten, mögen sie<lb/>
sein, welcher Art sie wollen, zu Familienangelegenheiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_819" next="#ID_820"> Die Wendung, die Raabes politisches Denken hier nimmt, ist über¬<lb/>
raschender, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Aus der Einheit durch<lb/>
die Mannichfaltigkeit zurück zur Einheit, das ist nach unser aller Glauben die<lb/>
Idee der Mcnschheitsentwicklung, uns so sicher wie das Wort: Von der Natur<lb/>
durch die Kultur zurück zur Natur! Aber während wir das Endziel aller<lb/>
Entwicklung in weiter Ferne, am Ende der Geschichte wühlten, sagt Raabe:<lb/>
Nein! Es liegt viel näher, als ihr glaubt! In dem Nahmen des Natio¬<lb/>
nalismus, der Vvlksfcimilie, liegt es dicht vor euch! Betrage euch mir nicht<lb/>
wie Parzival, als er den Gral verscherzte! Wenn die verblendeten Schwärmer,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0282] Ein Humorist als Politiker mainland nicht heimführen kann, daß dieser Nationalismus nicht großdeutsch, sondern kleindeutsch ist, bedarf heute keiner Erörterung mehr. Viel schwerer fällt für uns die Gestalt des Scriewer in „Kloster Lügen" ins Gewicht, ein großartig und grimmig durchgeführter Charakter, der einem verständnisvollen Leser wohl das Herz klopfen machen kann. Scriewer ist Gefühlskomödiant. Seine ehrgeizigen unredlichen Strebereien verfolgt er unter der Maske des Gefühls. Was dem deutscheu Nationalcharakter seine Art und seinen Wert verleiht, das hängt sich dieser Wolf als Schafskleid um. Über „Gutmcmns Reisen" stand das heiter-ernste Motto: „Nach dreißig Jahren begreift es kein Mensch mehr, wie mau sich hat plagen müssen, um die lieben Kleinen zu¬ sammenzubringen!" Michels Mutter steht als Verfasserin unter dem bedeut¬ samen Wort, das man inrlwtis lautg-natis auch über das Seitenstück „Kloster Lugau" setzen kann. Kann einem nicht manchmal im deutschen Vaterlande zu Mute sein, als ob der Nationalismus als eine sichere Hypothek im „Tresor" des deutschen Volkes läge? Als ob viel wichtigere Angelegenheiten im Vordergrunde stünden? Wenn wir den Dichter recht verstehen, so will er sagen: die Einigung Deutsch¬ lands ist die große Erbschaft des Zeitalters Kaiser Wilhelms I. und Bis- mcircks. Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu be¬ sitzen! Es kann nicht genug betont werden, daß die deutsche Einheit ein Acker ist, der bebaut werden muß, daß die deutschen Stämme sich in einander ein¬ leben, innere Berührung, innigeres Verständnis und Einverständnis erstreben müssen. Raabe reicht mit seinem Leben in drei Zeitalter hinein, er hat die Zeit der Sehnsucht und der Erfüllung erlebt, und er lebt in der Zeit der Erben. Er kennt den Erbfeind der deutschen Nation, den Partikularismus. Das Wort, das die Prediger (in der „Chronik") der deutschen Jugend ins Gesangbuch schreiben sollen, er hat es in allen seinen Werken dem deutschen Volke ans Herz legen wollen. Seine Bücher sind Offenbarungen des deutschen Gemütslebens in seiner ganzen Tiefe. Und im deutschen Gemüt kann einzig der deutsche Familiensinn wurzeln, der das ganze Volk erst in Wahrheit zu einer großen Familie macht und alle deutschen Angelegenheiten, mögen sie sein, welcher Art sie wollen, zu Familienangelegenheiten. Die Wendung, die Raabes politisches Denken hier nimmt, ist über¬ raschender, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Aus der Einheit durch die Mannichfaltigkeit zurück zur Einheit, das ist nach unser aller Glauben die Idee der Mcnschheitsentwicklung, uns so sicher wie das Wort: Von der Natur durch die Kultur zurück zur Natur! Aber während wir das Endziel aller Entwicklung in weiter Ferne, am Ende der Geschichte wühlten, sagt Raabe: Nein! Es liegt viel näher, als ihr glaubt! In dem Nahmen des Natio¬ nalismus, der Vvlksfcimilie, liegt es dicht vor euch! Betrage euch mir nicht wie Parzival, als er den Gral verscherzte! Wenn die verblendeten Schwärmer,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/282
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/282>, abgerufen am 23.07.2024.