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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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<Lin Humorist als Politiker

Wird zwar mit einem gewissen snssr gesagt, aber es ist eine Ehre für unsre
Nation, und wir können stolz darauf sein." Er wünscht, daß die Prediger
und Vormünder des Volkes den Wegziehenden in das Gesangbuch des Heimats¬
dorfes den Spruch schreiben: "Vergesse ich dein, Deutschland, großes Vater¬
land, so werde meiner Rechten vergessen!" und er schließt: "Der Spruch in
aller Herzen, und das Vaterland ist ewig!"

Man könnte in lebensvollen Entwicklungsprozeß aus dieser und ähn¬
lichen Stellen der "Chronik" die politischen Grundideen Raabes ableiten und
zeigen, wie sich alle wichtigen Schicksale der Nation, von ihnen erfüllt, in
seinen Werken abspiegeln. Aber das würde zu weit führen. Hier genügt es,
sie aus seinen drei letzten Werken zu entfalten. Sie werden, das hoffen wir,
wichtige Schlüssel zu Raabes Werken, vielleicht auch zu den politischen Auf¬
gaben der Gegenwart in die Hand geben.

Die beiden letzten Bücher, Gutmanns Reisen (Raabes Bismarckiade!)
und Kloster Lugau, biete" auffallende Parallelen. Das erste stellt uns in
den Anfang von Deutschlands Einigung, in den September 1860, in die
Versammlung des Nationalvereins zu Koburg, wo das Ziel in greifbare Nähe
gerückt schien. Das zweite versetzt uns in die Zeit des deutsch-französischen
Krieges, wo der Schlußstein zu dem Bau gelegt wurde.

In beiden Büchern gipfeln die Begebenheiten in einer Heirat. Im ersten
handelt es sich darum, daß Klotilde Blume aus Wunsiedcl nicht den Öster¬
reicher von Pürnreuther, sondern den Norddeutschen Willy Gntmann heirate.
Im zweiten dürfen wir die Verlobung von Evchen Kleynkauer mit dem Streber
Eckbert Scriewer aus Norddeutschland als gelöst und das Mädchen als mut¬
maßliche Braut des biedern schwäbischen Kernmenschen und Juristen Eberhard
Meyer betrachten. Beidemal wird über die Mainlinie hinübergehochzeitet, und
beide Werke gipfeln in der Idee des deutschen Nationalismus, der deutschen
Volksfamilienidee.

Die eignen Lebensschicksale haben den Dichter zu einem berufnen Ver¬
treter dieses Standpunkts gemacht. In den Jahren 1862 bis 1870, wo seine
Romantrilvgie "Der Hungerpastor," "Abu Telfan," "Schüdderump" entstand,
wohnte er in Stuttgart. Und so sind ans dem Lande südlich vom Main
prächtige Gestalten in seine Werke übergegangen. Auf den Münchner Doktor
Wimmer aus der "Chronik" folgten Charaktere wie Doktor Winckelspinuer aus
Ulm ("Deutscher Adel"), der derbere Christoph Pensum und der feinere Eber¬
hard Meyer ("Kloster Lugau") u. s. w., sämtlich mit Vorliebe und Lebens¬
wahrheit hingemalt. Einem vagen Kosmopolitismus, der die Errungenschaften
des neunzehnten Jahrhunderts auf den Kopf stellen oder aus der Welt schaffen
möchte, stellt der Dichter nnn, mehr als zwanzig Jahr nachdem das teure
Gut der deutschen Einheit errungen ist, seinen Nationalismus gegenüber.

Daß Alois von Pürnreuther, der Österreicher, Klotilde Blume aus Süd-


Grenzboten 1 1895 35
<Lin Humorist als Politiker

Wird zwar mit einem gewissen snssr gesagt, aber es ist eine Ehre für unsre
Nation, und wir können stolz darauf sein." Er wünscht, daß die Prediger
und Vormünder des Volkes den Wegziehenden in das Gesangbuch des Heimats¬
dorfes den Spruch schreiben: „Vergesse ich dein, Deutschland, großes Vater¬
land, so werde meiner Rechten vergessen!" und er schließt: „Der Spruch in
aller Herzen, und das Vaterland ist ewig!"

Man könnte in lebensvollen Entwicklungsprozeß aus dieser und ähn¬
lichen Stellen der „Chronik" die politischen Grundideen Raabes ableiten und
zeigen, wie sich alle wichtigen Schicksale der Nation, von ihnen erfüllt, in
seinen Werken abspiegeln. Aber das würde zu weit führen. Hier genügt es,
sie aus seinen drei letzten Werken zu entfalten. Sie werden, das hoffen wir,
wichtige Schlüssel zu Raabes Werken, vielleicht auch zu den politischen Auf¬
gaben der Gegenwart in die Hand geben.

Die beiden letzten Bücher, Gutmanns Reisen (Raabes Bismarckiade!)
und Kloster Lugau, biete» auffallende Parallelen. Das erste stellt uns in
den Anfang von Deutschlands Einigung, in den September 1860, in die
Versammlung des Nationalvereins zu Koburg, wo das Ziel in greifbare Nähe
gerückt schien. Das zweite versetzt uns in die Zeit des deutsch-französischen
Krieges, wo der Schlußstein zu dem Bau gelegt wurde.

In beiden Büchern gipfeln die Begebenheiten in einer Heirat. Im ersten
handelt es sich darum, daß Klotilde Blume aus Wunsiedcl nicht den Öster¬
reicher von Pürnreuther, sondern den Norddeutschen Willy Gntmann heirate.
Im zweiten dürfen wir die Verlobung von Evchen Kleynkauer mit dem Streber
Eckbert Scriewer aus Norddeutschland als gelöst und das Mädchen als mut¬
maßliche Braut des biedern schwäbischen Kernmenschen und Juristen Eberhard
Meyer betrachten. Beidemal wird über die Mainlinie hinübergehochzeitet, und
beide Werke gipfeln in der Idee des deutschen Nationalismus, der deutschen
Volksfamilienidee.

Die eignen Lebensschicksale haben den Dichter zu einem berufnen Ver¬
treter dieses Standpunkts gemacht. In den Jahren 1862 bis 1870, wo seine
Romantrilvgie „Der Hungerpastor," „Abu Telfan," „Schüdderump" entstand,
wohnte er in Stuttgart. Und so sind ans dem Lande südlich vom Main
prächtige Gestalten in seine Werke übergegangen. Auf den Münchner Doktor
Wimmer aus der „Chronik" folgten Charaktere wie Doktor Winckelspinuer aus
Ulm („Deutscher Adel"), der derbere Christoph Pensum und der feinere Eber¬
hard Meyer („Kloster Lugau") u. s. w., sämtlich mit Vorliebe und Lebens¬
wahrheit hingemalt. Einem vagen Kosmopolitismus, der die Errungenschaften
des neunzehnten Jahrhunderts auf den Kopf stellen oder aus der Welt schaffen
möchte, stellt der Dichter nnn, mehr als zwanzig Jahr nachdem das teure
Gut der deutschen Einheit errungen ist, seinen Nationalismus gegenüber.

Daß Alois von Pürnreuther, der Österreicher, Klotilde Blume aus Süd-


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[0281] <Lin Humorist als Politiker Wird zwar mit einem gewissen snssr gesagt, aber es ist eine Ehre für unsre Nation, und wir können stolz darauf sein." Er wünscht, daß die Prediger und Vormünder des Volkes den Wegziehenden in das Gesangbuch des Heimats¬ dorfes den Spruch schreiben: „Vergesse ich dein, Deutschland, großes Vater¬ land, so werde meiner Rechten vergessen!" und er schließt: „Der Spruch in aller Herzen, und das Vaterland ist ewig!" Man könnte in lebensvollen Entwicklungsprozeß aus dieser und ähn¬ lichen Stellen der „Chronik" die politischen Grundideen Raabes ableiten und zeigen, wie sich alle wichtigen Schicksale der Nation, von ihnen erfüllt, in seinen Werken abspiegeln. Aber das würde zu weit führen. Hier genügt es, sie aus seinen drei letzten Werken zu entfalten. Sie werden, das hoffen wir, wichtige Schlüssel zu Raabes Werken, vielleicht auch zu den politischen Auf¬ gaben der Gegenwart in die Hand geben. Die beiden letzten Bücher, Gutmanns Reisen (Raabes Bismarckiade!) und Kloster Lugau, biete» auffallende Parallelen. Das erste stellt uns in den Anfang von Deutschlands Einigung, in den September 1860, in die Versammlung des Nationalvereins zu Koburg, wo das Ziel in greifbare Nähe gerückt schien. Das zweite versetzt uns in die Zeit des deutsch-französischen Krieges, wo der Schlußstein zu dem Bau gelegt wurde. In beiden Büchern gipfeln die Begebenheiten in einer Heirat. Im ersten handelt es sich darum, daß Klotilde Blume aus Wunsiedcl nicht den Öster¬ reicher von Pürnreuther, sondern den Norddeutschen Willy Gntmann heirate. Im zweiten dürfen wir die Verlobung von Evchen Kleynkauer mit dem Streber Eckbert Scriewer aus Norddeutschland als gelöst und das Mädchen als mut¬ maßliche Braut des biedern schwäbischen Kernmenschen und Juristen Eberhard Meyer betrachten. Beidemal wird über die Mainlinie hinübergehochzeitet, und beide Werke gipfeln in der Idee des deutschen Nationalismus, der deutschen Volksfamilienidee. Die eignen Lebensschicksale haben den Dichter zu einem berufnen Ver¬ treter dieses Standpunkts gemacht. In den Jahren 1862 bis 1870, wo seine Romantrilvgie „Der Hungerpastor," „Abu Telfan," „Schüdderump" entstand, wohnte er in Stuttgart. Und so sind ans dem Lande südlich vom Main prächtige Gestalten in seine Werke übergegangen. Auf den Münchner Doktor Wimmer aus der „Chronik" folgten Charaktere wie Doktor Winckelspinuer aus Ulm („Deutscher Adel"), der derbere Christoph Pensum und der feinere Eber¬ hard Meyer („Kloster Lugau") u. s. w., sämtlich mit Vorliebe und Lebens¬ wahrheit hingemalt. Einem vagen Kosmopolitismus, der die Errungenschaften des neunzehnten Jahrhunderts auf den Kopf stellen oder aus der Welt schaffen möchte, stellt der Dichter nnn, mehr als zwanzig Jahr nachdem das teure Gut der deutschen Einheit errungen ist, seinen Nationalismus gegenüber. Daß Alois von Pürnreuther, der Österreicher, Klotilde Blume aus Süd- Grenzboten 1 1895 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/281>, abgerufen am 23.07.2024.