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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

Verbrechen als die einzigen ihnen offenstehenden Erwerbsarten angewiesen.
Und wie unnötigerweise wird die Zahl dieser Unglücklichen vergrößert durch
die Sitte der politischen Verfolgungen, durch die ungemessene Vermehrung der
Polizeivorschriften, von denen viele nicht bloß überflüssig, sondern auch un¬
zweckmäßig und schädlich sind, und durch die Sucht, selbst läppische Kleinig¬
keiten, wie Ungezogenheiten oder harmlose mutwillige Streiche von Kindern,
als Kriminalverbrecher zu behandeln! Wenn von allen denen, die so alljährlich
aus Erwerb und Familie herausgerissen und mit einem schimpflichen Makel
befleckt werden, die also nach ihrer Befreiung den Kampf ums Dasein unter
erschwerten Umständen wieder aufnehmen müssen, die meisten sich über Wasser
halten und nicht in den Sumpf des Verbrechertums versinken, so ist das
wahrlich nicht der Weisheit unsrer Staatsbehörden zu danken.

Dieser Sumpf ist ein Erzeugnis der modernen Kultur, die immer mehr
Menschenmassen vom Boden loslöst und ohne sichere Existenz in der Welt
herumwirft; die die Zahl der Gesetze und Verbote und daher auch die Anlässe
zu Übertretungen ins Ungemessene vermehrt; die durch raffinirte Genüsse reizt
und zur rastlosen Jagd nach Erwerb treibt unter verwickelten Verhältnissen,
in denen sich die Grenzen zwischen dem erlaubten und unerlaubten Gewinn so
oft verwischen, daß sich leicht der Sinn für die Unterscheidung verliert; die
den Energischen durch übermäßige Beschränkungen wild macht und den Schwachen
erdrückt, indem sie ihm übermäßige Kraftanstrengungen zumutet; die endlich
den Begriff der rsspsctiMlit^ erfunden und um die bevorzugte Stellung der
respektabel,? Leute aufrecht zu erhalten, ein Strafsystem und Sitten geschaffen
hat, die zwischen ihnen und den nicht respektabeln eine unüberschreitbare Kluft
reißen. Auch das ist eine neue Erscheinung. Bei den Germanen, um die
antike Welt beiseite zu lassen, konnte eine solche Kluft nicht entstehen. Die
niedrigste Klasse bestand aus Sklaven, die Freien aber hielten es unter sich
so, daß Männer, die durch Feigheit oder Verrat ihre Manneswürde preis¬
gaben und dem Volke gefährlich werden konnten, durch Hinrichtung unschädlich
gemacht, alle übrigen Vergehungen aber als Privatschädignngen behandelt
wurden, die den Thäter nicht ehrlos machten, sondern nur zur Entschädigung
des Geschädigten verpflichteten. Die Kirche kannte nicht Verbrechen und Ver¬
brecher, sondern nur Sünden und Sünder, und da nach Christi und Pauli
Wort alle Menschen Sünder sind, und die Bewahrung vor groben Sünden
nicht Verdienst des Gerechten, sondern ein Werk unverdienter Gnade ist, so
konnten verbrecherische Handlungen keine Scheidewand ziehen zwischen dem Ver¬
brecher und den übrigen Christen. Der Verbrecher wurde zwar eine Zeit
lang (nur wegen Abfalls vom Glauben bis zur Todesstunde) von der Kirchen¬
gemeinschaft teilweise ausgeschlossen, indem ihm der Vollgenuß der Gnaden-
mittel für die Bußzeit versagt blieb, aber sein allsonntägliches Erscheinen vor
der Kirchthür oder in der Vorhalle bewies, daß er dem Leibe der Kirche noch


Grenzboten I 1895 33
Natur und Behandlung des Verbrechers

Verbrechen als die einzigen ihnen offenstehenden Erwerbsarten angewiesen.
Und wie unnötigerweise wird die Zahl dieser Unglücklichen vergrößert durch
die Sitte der politischen Verfolgungen, durch die ungemessene Vermehrung der
Polizeivorschriften, von denen viele nicht bloß überflüssig, sondern auch un¬
zweckmäßig und schädlich sind, und durch die Sucht, selbst läppische Kleinig¬
keiten, wie Ungezogenheiten oder harmlose mutwillige Streiche von Kindern,
als Kriminalverbrecher zu behandeln! Wenn von allen denen, die so alljährlich
aus Erwerb und Familie herausgerissen und mit einem schimpflichen Makel
befleckt werden, die also nach ihrer Befreiung den Kampf ums Dasein unter
erschwerten Umständen wieder aufnehmen müssen, die meisten sich über Wasser
halten und nicht in den Sumpf des Verbrechertums versinken, so ist das
wahrlich nicht der Weisheit unsrer Staatsbehörden zu danken.

Dieser Sumpf ist ein Erzeugnis der modernen Kultur, die immer mehr
Menschenmassen vom Boden loslöst und ohne sichere Existenz in der Welt
herumwirft; die die Zahl der Gesetze und Verbote und daher auch die Anlässe
zu Übertretungen ins Ungemessene vermehrt; die durch raffinirte Genüsse reizt
und zur rastlosen Jagd nach Erwerb treibt unter verwickelten Verhältnissen,
in denen sich die Grenzen zwischen dem erlaubten und unerlaubten Gewinn so
oft verwischen, daß sich leicht der Sinn für die Unterscheidung verliert; die
den Energischen durch übermäßige Beschränkungen wild macht und den Schwachen
erdrückt, indem sie ihm übermäßige Kraftanstrengungen zumutet; die endlich
den Begriff der rsspsctiMlit^ erfunden und um die bevorzugte Stellung der
respektabel,? Leute aufrecht zu erhalten, ein Strafsystem und Sitten geschaffen
hat, die zwischen ihnen und den nicht respektabeln eine unüberschreitbare Kluft
reißen. Auch das ist eine neue Erscheinung. Bei den Germanen, um die
antike Welt beiseite zu lassen, konnte eine solche Kluft nicht entstehen. Die
niedrigste Klasse bestand aus Sklaven, die Freien aber hielten es unter sich
so, daß Männer, die durch Feigheit oder Verrat ihre Manneswürde preis¬
gaben und dem Volke gefährlich werden konnten, durch Hinrichtung unschädlich
gemacht, alle übrigen Vergehungen aber als Privatschädignngen behandelt
wurden, die den Thäter nicht ehrlos machten, sondern nur zur Entschädigung
des Geschädigten verpflichteten. Die Kirche kannte nicht Verbrechen und Ver¬
brecher, sondern nur Sünden und Sünder, und da nach Christi und Pauli
Wort alle Menschen Sünder sind, und die Bewahrung vor groben Sünden
nicht Verdienst des Gerechten, sondern ein Werk unverdienter Gnade ist, so
konnten verbrecherische Handlungen keine Scheidewand ziehen zwischen dem Ver¬
brecher und den übrigen Christen. Der Verbrecher wurde zwar eine Zeit
lang (nur wegen Abfalls vom Glauben bis zur Todesstunde) von der Kirchen¬
gemeinschaft teilweise ausgeschlossen, indem ihm der Vollgenuß der Gnaden-
mittel für die Bußzeit versagt blieb, aber sein allsonntägliches Erscheinen vor
der Kirchthür oder in der Vorhalle bewies, daß er dem Leibe der Kirche noch


Grenzboten I 1895 33
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[0265] Natur und Behandlung des Verbrechers Verbrechen als die einzigen ihnen offenstehenden Erwerbsarten angewiesen. Und wie unnötigerweise wird die Zahl dieser Unglücklichen vergrößert durch die Sitte der politischen Verfolgungen, durch die ungemessene Vermehrung der Polizeivorschriften, von denen viele nicht bloß überflüssig, sondern auch un¬ zweckmäßig und schädlich sind, und durch die Sucht, selbst läppische Kleinig¬ keiten, wie Ungezogenheiten oder harmlose mutwillige Streiche von Kindern, als Kriminalverbrecher zu behandeln! Wenn von allen denen, die so alljährlich aus Erwerb und Familie herausgerissen und mit einem schimpflichen Makel befleckt werden, die also nach ihrer Befreiung den Kampf ums Dasein unter erschwerten Umständen wieder aufnehmen müssen, die meisten sich über Wasser halten und nicht in den Sumpf des Verbrechertums versinken, so ist das wahrlich nicht der Weisheit unsrer Staatsbehörden zu danken. Dieser Sumpf ist ein Erzeugnis der modernen Kultur, die immer mehr Menschenmassen vom Boden loslöst und ohne sichere Existenz in der Welt herumwirft; die die Zahl der Gesetze und Verbote und daher auch die Anlässe zu Übertretungen ins Ungemessene vermehrt; die durch raffinirte Genüsse reizt und zur rastlosen Jagd nach Erwerb treibt unter verwickelten Verhältnissen, in denen sich die Grenzen zwischen dem erlaubten und unerlaubten Gewinn so oft verwischen, daß sich leicht der Sinn für die Unterscheidung verliert; die den Energischen durch übermäßige Beschränkungen wild macht und den Schwachen erdrückt, indem sie ihm übermäßige Kraftanstrengungen zumutet; die endlich den Begriff der rsspsctiMlit^ erfunden und um die bevorzugte Stellung der respektabel,? Leute aufrecht zu erhalten, ein Strafsystem und Sitten geschaffen hat, die zwischen ihnen und den nicht respektabeln eine unüberschreitbare Kluft reißen. Auch das ist eine neue Erscheinung. Bei den Germanen, um die antike Welt beiseite zu lassen, konnte eine solche Kluft nicht entstehen. Die niedrigste Klasse bestand aus Sklaven, die Freien aber hielten es unter sich so, daß Männer, die durch Feigheit oder Verrat ihre Manneswürde preis¬ gaben und dem Volke gefährlich werden konnten, durch Hinrichtung unschädlich gemacht, alle übrigen Vergehungen aber als Privatschädignngen behandelt wurden, die den Thäter nicht ehrlos machten, sondern nur zur Entschädigung des Geschädigten verpflichteten. Die Kirche kannte nicht Verbrechen und Ver¬ brecher, sondern nur Sünden und Sünder, und da nach Christi und Pauli Wort alle Menschen Sünder sind, und die Bewahrung vor groben Sünden nicht Verdienst des Gerechten, sondern ein Werk unverdienter Gnade ist, so konnten verbrecherische Handlungen keine Scheidewand ziehen zwischen dem Ver¬ brecher und den übrigen Christen. Der Verbrecher wurde zwar eine Zeit lang (nur wegen Abfalls vom Glauben bis zur Todesstunde) von der Kirchen¬ gemeinschaft teilweise ausgeschlossen, indem ihm der Vollgenuß der Gnaden- mittel für die Bußzeit versagt blieb, aber sein allsonntägliches Erscheinen vor der Kirchthür oder in der Vorhalle bewies, daß er dem Leibe der Kirche noch Grenzboten I 1895 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/265>, abgerufen am 28.09.2024.