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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

geprügelter Verbrecher andres empfinden, als die Begierde nach Rache, die er
natürlich erst nach seiner Befreiung und meistens nur an Unschuldigen aus¬
lassen kann! Gerade so hat der mißhandelte Lehrling keinen andern Gedanken
als: wie will ich die Lehrlinge schinden, wenn ich Geselle oder Meister sein
werde! Es müssen schon sehr edle und zarte Gemüter sein, bei denen Prügel
die entgegengesetzte Wirkung haben sollen, und solche bilden doch hoffentlich
in unsern Gefängnissen noch nicht die Mehrzahl; in den sibirischen soll es
allerdings mitunter der Fall sein. Dazu kommt, daß grausame Strafen, also
die Vermehrung des Entsetzliche" in der Welt, außer der Roheit und dem
Stumpfsinn noch eine andre Art sittlicher Krankheit befördern: das Wohl¬
gefallen an: Entsetzlichen. Namentlich Frauen und Knaben neigen dazu, große
Verbrecher interessant zu finden; Frauen verlieben sich förmlich in sie, und
bei Knaben und jüngern Mädchen kommt es vor, daß, wenn sie von einem
großen Verbrechen hören oder lesen, sie sich einbilden, ein ähnliches begangen
zu haben, und sich fälschlich denunziren. Schreckliche Strafen aber machen
den Verbrecher nur noch interessanter, indem sie ihn als Helden und Märtyrer
erscheinen lassen; Ellis führt einen Bericht an, wonach unter Heinrich VIII.
vielen der Feuertod begehrenswert erschienen sei. Auch darf man Wohl an
manche Erzählungen der Märtyrerlegende erinnern von Christen, die nichts
weniger im Sinne gehabt Hütten als den Märtyrertod, sich aber beim Anblick
der grausamen Hinrichtung von christlichen Brüdern so hingerissen gefühlt
hätten, daß sie plötzlich mit dem Bekenntnis zum Christentum hervorgetreten
seien, um ihren Leib den Henkern darzubieten. Also auf die abschreckende
Wirkung von Strafverschärfuugen kann nicht gerechnet werden; übrigens aber
ist für Menschen, die noch nicht heruntergekommen sind, die heutige Gefängnis¬
strafe hart und grausam genug.

Von der Besserung des Verbrechers wollen wir nicht erst reden. Kor¬
ruptionshäuser werden von Kennern nicht allein die gewöhnlichen Gefünguisfe,
sondern auch die Korrektionshäuser genannt. Und zwar wirken gemeinsame
und Einzelhaft in gleichem Grade, wenn auch in verschiedner Weise, verderblich;
die eine ist die hohe Schule des Verbrechens, die andre führt zu völliger Zer¬
rüttung des Seelenlebens. Dazu kommt, daß es trotz aller Anstrengung
frommer und wohlthätiger Vereine nur selten gelingt, entlassenen Strafgefangnen
dauernde Beschäftigung zu verschaffen. Wer wird denn auch in einer Zeit,
wo sich unbescholtene und tüchtige Arbeiter im Überfluß anbieten, untüchtige
Leute annehmen, die noch dazu mit einem schauderten Brandmale behaftet
sind! In neuerer Zeit wird es sogar mehr und mehr Sitte, daß Gemeinden
von dem ihnen zustehenden Rechte Gebrauch machen, bescholtenen Personen
den Aufenthalt zu versagen, auch wenn diese nur wegen unbedeutender Ver¬
gehungen und schon vor Jahren bestraft worden sind und sich seitdem gut ge¬
halten haben. Mehr und mehr sehen sich also die Entlassener auf Bettel und


Natur und Behandlung des Verbrechers

geprügelter Verbrecher andres empfinden, als die Begierde nach Rache, die er
natürlich erst nach seiner Befreiung und meistens nur an Unschuldigen aus¬
lassen kann! Gerade so hat der mißhandelte Lehrling keinen andern Gedanken
als: wie will ich die Lehrlinge schinden, wenn ich Geselle oder Meister sein
werde! Es müssen schon sehr edle und zarte Gemüter sein, bei denen Prügel
die entgegengesetzte Wirkung haben sollen, und solche bilden doch hoffentlich
in unsern Gefängnissen noch nicht die Mehrzahl; in den sibirischen soll es
allerdings mitunter der Fall sein. Dazu kommt, daß grausame Strafen, also
die Vermehrung des Entsetzliche» in der Welt, außer der Roheit und dem
Stumpfsinn noch eine andre Art sittlicher Krankheit befördern: das Wohl¬
gefallen an: Entsetzlichen. Namentlich Frauen und Knaben neigen dazu, große
Verbrecher interessant zu finden; Frauen verlieben sich förmlich in sie, und
bei Knaben und jüngern Mädchen kommt es vor, daß, wenn sie von einem
großen Verbrechen hören oder lesen, sie sich einbilden, ein ähnliches begangen
zu haben, und sich fälschlich denunziren. Schreckliche Strafen aber machen
den Verbrecher nur noch interessanter, indem sie ihn als Helden und Märtyrer
erscheinen lassen; Ellis führt einen Bericht an, wonach unter Heinrich VIII.
vielen der Feuertod begehrenswert erschienen sei. Auch darf man Wohl an
manche Erzählungen der Märtyrerlegende erinnern von Christen, die nichts
weniger im Sinne gehabt Hütten als den Märtyrertod, sich aber beim Anblick
der grausamen Hinrichtung von christlichen Brüdern so hingerissen gefühlt
hätten, daß sie plötzlich mit dem Bekenntnis zum Christentum hervorgetreten
seien, um ihren Leib den Henkern darzubieten. Also auf die abschreckende
Wirkung von Strafverschärfuugen kann nicht gerechnet werden; übrigens aber
ist für Menschen, die noch nicht heruntergekommen sind, die heutige Gefängnis¬
strafe hart und grausam genug.

Von der Besserung des Verbrechers wollen wir nicht erst reden. Kor¬
ruptionshäuser werden von Kennern nicht allein die gewöhnlichen Gefünguisfe,
sondern auch die Korrektionshäuser genannt. Und zwar wirken gemeinsame
und Einzelhaft in gleichem Grade, wenn auch in verschiedner Weise, verderblich;
die eine ist die hohe Schule des Verbrechens, die andre führt zu völliger Zer¬
rüttung des Seelenlebens. Dazu kommt, daß es trotz aller Anstrengung
frommer und wohlthätiger Vereine nur selten gelingt, entlassenen Strafgefangnen
dauernde Beschäftigung zu verschaffen. Wer wird denn auch in einer Zeit,
wo sich unbescholtene und tüchtige Arbeiter im Überfluß anbieten, untüchtige
Leute annehmen, die noch dazu mit einem schauderten Brandmale behaftet
sind! In neuerer Zeit wird es sogar mehr und mehr Sitte, daß Gemeinden
von dem ihnen zustehenden Rechte Gebrauch machen, bescholtenen Personen
den Aufenthalt zu versagen, auch wenn diese nur wegen unbedeutender Ver¬
gehungen und schon vor Jahren bestraft worden sind und sich seitdem gut ge¬
halten haben. Mehr und mehr sehen sich also die Entlassener auf Bettel und


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[0264] Natur und Behandlung des Verbrechers geprügelter Verbrecher andres empfinden, als die Begierde nach Rache, die er natürlich erst nach seiner Befreiung und meistens nur an Unschuldigen aus¬ lassen kann! Gerade so hat der mißhandelte Lehrling keinen andern Gedanken als: wie will ich die Lehrlinge schinden, wenn ich Geselle oder Meister sein werde! Es müssen schon sehr edle und zarte Gemüter sein, bei denen Prügel die entgegengesetzte Wirkung haben sollen, und solche bilden doch hoffentlich in unsern Gefängnissen noch nicht die Mehrzahl; in den sibirischen soll es allerdings mitunter der Fall sein. Dazu kommt, daß grausame Strafen, also die Vermehrung des Entsetzliche» in der Welt, außer der Roheit und dem Stumpfsinn noch eine andre Art sittlicher Krankheit befördern: das Wohl¬ gefallen an: Entsetzlichen. Namentlich Frauen und Knaben neigen dazu, große Verbrecher interessant zu finden; Frauen verlieben sich förmlich in sie, und bei Knaben und jüngern Mädchen kommt es vor, daß, wenn sie von einem großen Verbrechen hören oder lesen, sie sich einbilden, ein ähnliches begangen zu haben, und sich fälschlich denunziren. Schreckliche Strafen aber machen den Verbrecher nur noch interessanter, indem sie ihn als Helden und Märtyrer erscheinen lassen; Ellis führt einen Bericht an, wonach unter Heinrich VIII. vielen der Feuertod begehrenswert erschienen sei. Auch darf man Wohl an manche Erzählungen der Märtyrerlegende erinnern von Christen, die nichts weniger im Sinne gehabt Hütten als den Märtyrertod, sich aber beim Anblick der grausamen Hinrichtung von christlichen Brüdern so hingerissen gefühlt hätten, daß sie plötzlich mit dem Bekenntnis zum Christentum hervorgetreten seien, um ihren Leib den Henkern darzubieten. Also auf die abschreckende Wirkung von Strafverschärfuugen kann nicht gerechnet werden; übrigens aber ist für Menschen, die noch nicht heruntergekommen sind, die heutige Gefängnis¬ strafe hart und grausam genug. Von der Besserung des Verbrechers wollen wir nicht erst reden. Kor¬ ruptionshäuser werden von Kennern nicht allein die gewöhnlichen Gefünguisfe, sondern auch die Korrektionshäuser genannt. Und zwar wirken gemeinsame und Einzelhaft in gleichem Grade, wenn auch in verschiedner Weise, verderblich; die eine ist die hohe Schule des Verbrechens, die andre führt zu völliger Zer¬ rüttung des Seelenlebens. Dazu kommt, daß es trotz aller Anstrengung frommer und wohlthätiger Vereine nur selten gelingt, entlassenen Strafgefangnen dauernde Beschäftigung zu verschaffen. Wer wird denn auch in einer Zeit, wo sich unbescholtene und tüchtige Arbeiter im Überfluß anbieten, untüchtige Leute annehmen, die noch dazu mit einem schauderten Brandmale behaftet sind! In neuerer Zeit wird es sogar mehr und mehr Sitte, daß Gemeinden von dem ihnen zustehenden Rechte Gebrauch machen, bescholtenen Personen den Aufenthalt zu versagen, auch wenn diese nur wegen unbedeutender Ver¬ gehungen und schon vor Jahren bestraft worden sind und sich seitdem gut ge¬ halten haben. Mehr und mehr sehen sich also die Entlassener auf Bettel und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/264>, abgerufen am 26.06.2024.