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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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fortwirkende Anziehungskraft, die bleibende Macht einer reichen und lebendigen
Poetischen Natur mit keinem Vauuspruch aus unsrer Litteratur hinwegdrängen
kann. Wenn etwas bei diesem ganzen Schauspiel erfreulich ist, so ist es die
uubeirrte Lust, mit der Hesse weiterschafft, und wenn etwas ärgerlich, so ist
es die nervöse Art, mit der der Dichter dem Naturalismus, der Ästhetik des
Häßlichen kleine Zugeständnisse macht, während er doch dem, dessen Abwesen¬
heit der wirkliche Mangel in seiner Weltdarstelluug ist, seiner innersten Natur
folgend, nach wie vor scheu ans dem Wege geht. Doch das gehört in eine
Gesamtcharakteristik des Dichters und uicht in das Referat über ein paar Bünde
seiner Novellen.

Der erste Band: In der Geisterstunde und andre Spukgeschichten
von Paul Heyse (Berlin, Wilhelm Hertz, 1894) bietet außer den vier kleinen
Gespenstergeschichten: "Die schöne Abigail," "Mittagszanber," "s'Lisabethle,"
"Das Waldlachen" die beiden Novellen: "Martin der Streber" und die köstliche
humoristische Geschichte: "Das Haus zum ungläubigen Thomas oder des Spirits
Rache," mit der sich der Dichter über seine eigne plötzliche Lust, Gespenstergeschichten
zu erzählen, und die Neigungen aller modernen Spiritisten, Mystagogen, Pro¬
pheten der vierten Dimension und Philosophen ans du Preis Schule sehr
hübsch lustig macht. Der Zauber lind Reiz des reinen Stils, des klaren,
überall anschaulichen, nirgends gespreizten, nur selten koketten Vortrags giebt
natürlich auch diesen Novellen einen höhern Wert und fesselt den Leser selbst
da, wo er weder poetisch ergriffen noch vollständig befriedigt wird. Bezüglich
des Hereinragens einer übersinnlichen Welt in die irdische wird wohl jeder
Leser dem liebenswürdig abschließenden Wort der Frau Professorin am Ende
der kleinen Spukgeschichte "Das Waldlachen" zustimmen: "Wir wollen uns
das Wort geben, über hundert Jahre wieder zusammenzukommen, geistweise
oder mittelst der Seelenwanderung. Dann wissen wir hoffentlich etwas mehr
von diesen Dingen." Aber jeder wird anch empfinden, zu wie feinen Spielen
der Phantasie und wie anmutigen Stimmungen das heikle Thema dem Dichter
Anlaß gegeben hat. Die zweite Sammlung nennt sich: Melusine und
andre Novellen (Berlin, Wilhelm Hertz, 1895) und enthält die fünf Novellen:
"Hochzeit auf Capri," "Fedja," "Donna Lionarda," "Die Rächerin," "Me¬
lusine." Entlehnt man den Maßstab zur Beurteilung dieser neuesten Schöpfungen
des Dichters von den Novellen, die wie "L'Arrabiata," "Der Verlorne Sohn,"
"Andrea Delfin," "Der letzte Centaur," "Der Weinhüter," "Grenzen der
Menschheit" u. a. ihre Wirkungsfähigkeit erst mit der heute erklingenden deutschen
Sprache, ihren dichterischen Wert niemals verlieren werden, so ist keine darunter,
die den Vergleich mit diesen Meisterstücken aushielte, obwohl "Die Rächerin"
nahe hinankommt. Aber sowohl diese bedeutendste Novelle des Bandes als
auch "Melusine" gehören doch zu den gehaltvollsten und in der Form voll¬
endetsten Erzählungen, die wir in der letzten Zeit gelesen haben. Was vor


fortwirkende Anziehungskraft, die bleibende Macht einer reichen und lebendigen
Poetischen Natur mit keinem Vauuspruch aus unsrer Litteratur hinwegdrängen
kann. Wenn etwas bei diesem ganzen Schauspiel erfreulich ist, so ist es die
uubeirrte Lust, mit der Hesse weiterschafft, und wenn etwas ärgerlich, so ist
es die nervöse Art, mit der der Dichter dem Naturalismus, der Ästhetik des
Häßlichen kleine Zugeständnisse macht, während er doch dem, dessen Abwesen¬
heit der wirkliche Mangel in seiner Weltdarstelluug ist, seiner innersten Natur
folgend, nach wie vor scheu ans dem Wege geht. Doch das gehört in eine
Gesamtcharakteristik des Dichters und uicht in das Referat über ein paar Bünde
seiner Novellen.

Der erste Band: In der Geisterstunde und andre Spukgeschichten
von Paul Heyse (Berlin, Wilhelm Hertz, 1894) bietet außer den vier kleinen
Gespenstergeschichten: „Die schöne Abigail," „Mittagszanber," „s'Lisabethle,"
„Das Waldlachen" die beiden Novellen: „Martin der Streber" und die köstliche
humoristische Geschichte: „Das Haus zum ungläubigen Thomas oder des Spirits
Rache," mit der sich der Dichter über seine eigne plötzliche Lust, Gespenstergeschichten
zu erzählen, und die Neigungen aller modernen Spiritisten, Mystagogen, Pro¬
pheten der vierten Dimension und Philosophen ans du Preis Schule sehr
hübsch lustig macht. Der Zauber lind Reiz des reinen Stils, des klaren,
überall anschaulichen, nirgends gespreizten, nur selten koketten Vortrags giebt
natürlich auch diesen Novellen einen höhern Wert und fesselt den Leser selbst
da, wo er weder poetisch ergriffen noch vollständig befriedigt wird. Bezüglich
des Hereinragens einer übersinnlichen Welt in die irdische wird wohl jeder
Leser dem liebenswürdig abschließenden Wort der Frau Professorin am Ende
der kleinen Spukgeschichte „Das Waldlachen" zustimmen: „Wir wollen uns
das Wort geben, über hundert Jahre wieder zusammenzukommen, geistweise
oder mittelst der Seelenwanderung. Dann wissen wir hoffentlich etwas mehr
von diesen Dingen." Aber jeder wird anch empfinden, zu wie feinen Spielen
der Phantasie und wie anmutigen Stimmungen das heikle Thema dem Dichter
Anlaß gegeben hat. Die zweite Sammlung nennt sich: Melusine und
andre Novellen (Berlin, Wilhelm Hertz, 1895) und enthält die fünf Novellen:
„Hochzeit auf Capri," „Fedja," „Donna Lionarda," „Die Rächerin," „Me¬
lusine." Entlehnt man den Maßstab zur Beurteilung dieser neuesten Schöpfungen
des Dichters von den Novellen, die wie „L'Arrabiata," „Der Verlorne Sohn,"
„Andrea Delfin," „Der letzte Centaur," „Der Weinhüter," „Grenzen der
Menschheit" u. a. ihre Wirkungsfähigkeit erst mit der heute erklingenden deutschen
Sprache, ihren dichterischen Wert niemals verlieren werden, so ist keine darunter,
die den Vergleich mit diesen Meisterstücken aushielte, obwohl „Die Rächerin"
nahe hinankommt. Aber sowohl diese bedeutendste Novelle des Bandes als
auch „Melusine" gehören doch zu den gehaltvollsten und in der Form voll¬
endetsten Erzählungen, die wir in der letzten Zeit gelesen haben. Was vor


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[0229] fortwirkende Anziehungskraft, die bleibende Macht einer reichen und lebendigen Poetischen Natur mit keinem Vauuspruch aus unsrer Litteratur hinwegdrängen kann. Wenn etwas bei diesem ganzen Schauspiel erfreulich ist, so ist es die uubeirrte Lust, mit der Hesse weiterschafft, und wenn etwas ärgerlich, so ist es die nervöse Art, mit der der Dichter dem Naturalismus, der Ästhetik des Häßlichen kleine Zugeständnisse macht, während er doch dem, dessen Abwesen¬ heit der wirkliche Mangel in seiner Weltdarstelluug ist, seiner innersten Natur folgend, nach wie vor scheu ans dem Wege geht. Doch das gehört in eine Gesamtcharakteristik des Dichters und uicht in das Referat über ein paar Bünde seiner Novellen. Der erste Band: In der Geisterstunde und andre Spukgeschichten von Paul Heyse (Berlin, Wilhelm Hertz, 1894) bietet außer den vier kleinen Gespenstergeschichten: „Die schöne Abigail," „Mittagszanber," „s'Lisabethle," „Das Waldlachen" die beiden Novellen: „Martin der Streber" und die köstliche humoristische Geschichte: „Das Haus zum ungläubigen Thomas oder des Spirits Rache," mit der sich der Dichter über seine eigne plötzliche Lust, Gespenstergeschichten zu erzählen, und die Neigungen aller modernen Spiritisten, Mystagogen, Pro¬ pheten der vierten Dimension und Philosophen ans du Preis Schule sehr hübsch lustig macht. Der Zauber lind Reiz des reinen Stils, des klaren, überall anschaulichen, nirgends gespreizten, nur selten koketten Vortrags giebt natürlich auch diesen Novellen einen höhern Wert und fesselt den Leser selbst da, wo er weder poetisch ergriffen noch vollständig befriedigt wird. Bezüglich des Hereinragens einer übersinnlichen Welt in die irdische wird wohl jeder Leser dem liebenswürdig abschließenden Wort der Frau Professorin am Ende der kleinen Spukgeschichte „Das Waldlachen" zustimmen: „Wir wollen uns das Wort geben, über hundert Jahre wieder zusammenzukommen, geistweise oder mittelst der Seelenwanderung. Dann wissen wir hoffentlich etwas mehr von diesen Dingen." Aber jeder wird anch empfinden, zu wie feinen Spielen der Phantasie und wie anmutigen Stimmungen das heikle Thema dem Dichter Anlaß gegeben hat. Die zweite Sammlung nennt sich: Melusine und andre Novellen (Berlin, Wilhelm Hertz, 1895) und enthält die fünf Novellen: „Hochzeit auf Capri," „Fedja," „Donna Lionarda," „Die Rächerin," „Me¬ lusine." Entlehnt man den Maßstab zur Beurteilung dieser neuesten Schöpfungen des Dichters von den Novellen, die wie „L'Arrabiata," „Der Verlorne Sohn," „Andrea Delfin," „Der letzte Centaur," „Der Weinhüter," „Grenzen der Menschheit" u. a. ihre Wirkungsfähigkeit erst mit der heute erklingenden deutschen Sprache, ihren dichterischen Wert niemals verlieren werden, so ist keine darunter, die den Vergleich mit diesen Meisterstücken aushielte, obwohl „Die Rächerin" nahe hinankommt. Aber sowohl diese bedeutendste Novelle des Bandes als auch „Melusine" gehören doch zu den gehaltvollsten und in der Form voll¬ endetsten Erzählungen, die wir in der letzten Zeit gelesen haben. Was vor

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/229>, abgerufen am 23.07.2024.