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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue Novellen

Novellenmarkt beinahe verschwunden. Einen Nachhall dieser ältern Weise ver¬
nehmen wir in dem kleinen Buche: Was man sich in Venedig erzählt,
nach italienischen Quellen von Robert Hamerling (Hamburg, Verlagsanstalt
und Druckerei A.-G., 1894). Die alten venezianischen Überlieferungen, die
hier in schlichter Weise erzählt werden, bergen eine Fülle echt novellistischer,
auch tragischer Motive. Die beiden Geschichten vom ?out>v ävIlÄ cloimiZ, oueÄÄ
und ?vues "Je-I1"z maravAg'ut, wie die vom "Raub der Venezianerinnen" ent¬
sprechen dem Vvrtragston des alten geselligen Novellcnerzählens noch besser
als die längern Erzählungen "Die weiße Frau im Schlosse von Collaltv" und
"Ein Frauenschicksal," deren Ausführung sich schon mehr der modernen Novel-
listik nähert.

subjektiver, aber gleichfalls auf Überlieferungen gestützt, erscheinen die
griechischen Geschichten, die Oskar Linke in der kleinen Sammlung Chrhso-
themis erzählt (Leipzig, A. G. Liebeskiud, 1894) vereinigt hat. Die Ein¬
leitung ist symbolisch, die Griechin Chrysothemis folgt dem germanischen See-
könig Harald freiwillig auf sein Dracheuschiff, um der Stickluft des justinin-
"löcher Zeitalters in der Heimat zu entrinnen, und erzählt ihm Geschichten,
die in ihrer Phantasie leben, und denen der heldenhafte nordische Barbar offnen
Sinnes lauscht. Unter diesen kleinern Novellen sind "Der neue Ganymed,"
"Amphigeneia," "Der himmlische Thalamos," "Die Fahrt nach dem Glücke"
besonders sinnige und von einem Hauch feiner Stimmung erfüllte Geschichten,
die in aller Kürze den poetischen Gehalt der Erfindung erschöpfen und in
diesem Sinne mit den ältern echten Novellen verglichen werden dürfen.

Während aber die älteste ursprünglichste Art der Novelle (aus der die
neuere erweiterte immerhin naturgemäß herausgewachsen ist) kaum uoch Ver¬
treter in der gegeuwürtigen Litteratur hat, ist eine neue Art gediehen, die das
Bedürfnis des modernen Feuilletons (die stork Stör^, die Vier- und SechS-
spaltennovelle) lind die moderne so unkünstlerische als stimmungslose Hast und
Sensationssucht zu Eltern hat. An der "Nvvellenbvrse" sind diese Geschichte"
die meist keine Erzählungen, sondern nur aufgeputzte Situationen sind, ziem¬
lich begehrt und beliebt. In ihre Reihe gehören z. B. die Lebeusstücke, ein
Novellen- und Skizzenbuch von Anna Crvissant-Rust (München, Dr. E. Albert
und Comp.), höchst unerquickliche und echt moderne Studien. Sie sind nicht
ohne Talent, aber es ist in ihnen alles beisammen, was die reine Wirkung
auch des größten Talents aufheben kann: die tagesübliche Bevorzugung der
physiologisch-geschlechtlichen (man kann nicht einmal sagen der erotischen) Pro¬
bleme und der brutalsten Erscheinungen des Lebens, die Verherrlichung des
Größenwahns, der Wettlauf mit Bilder" der jüngste" Malerschule, der Plakat¬
stil, die Mischung von Hyperidealismus und cynischen Pessimismus. Dazu
nimmt die Wiederholung dunkler und widerwärtiger Situationen, in denen sich
die Verfasserin mit so viel andern gefällt, nachgerade etwas von dem Wesen eines


Neue Novellen

Novellenmarkt beinahe verschwunden. Einen Nachhall dieser ältern Weise ver¬
nehmen wir in dem kleinen Buche: Was man sich in Venedig erzählt,
nach italienischen Quellen von Robert Hamerling (Hamburg, Verlagsanstalt
und Druckerei A.-G., 1894). Die alten venezianischen Überlieferungen, die
hier in schlichter Weise erzählt werden, bergen eine Fülle echt novellistischer,
auch tragischer Motive. Die beiden Geschichten vom ?out>v ävIlÄ cloimiZ, oueÄÄ
und ?vues «Je-I1«z maravAg'ut, wie die vom „Raub der Venezianerinnen" ent¬
sprechen dem Vvrtragston des alten geselligen Novellcnerzählens noch besser
als die längern Erzählungen „Die weiße Frau im Schlosse von Collaltv" und
„Ein Frauenschicksal," deren Ausführung sich schon mehr der modernen Novel-
listik nähert.

subjektiver, aber gleichfalls auf Überlieferungen gestützt, erscheinen die
griechischen Geschichten, die Oskar Linke in der kleinen Sammlung Chrhso-
themis erzählt (Leipzig, A. G. Liebeskiud, 1894) vereinigt hat. Die Ein¬
leitung ist symbolisch, die Griechin Chrysothemis folgt dem germanischen See-
könig Harald freiwillig auf sein Dracheuschiff, um der Stickluft des justinin-
»löcher Zeitalters in der Heimat zu entrinnen, und erzählt ihm Geschichten,
die in ihrer Phantasie leben, und denen der heldenhafte nordische Barbar offnen
Sinnes lauscht. Unter diesen kleinern Novellen sind „Der neue Ganymed,"
„Amphigeneia," „Der himmlische Thalamos," „Die Fahrt nach dem Glücke"
besonders sinnige und von einem Hauch feiner Stimmung erfüllte Geschichten,
die in aller Kürze den poetischen Gehalt der Erfindung erschöpfen und in
diesem Sinne mit den ältern echten Novellen verglichen werden dürfen.

Während aber die älteste ursprünglichste Art der Novelle (aus der die
neuere erweiterte immerhin naturgemäß herausgewachsen ist) kaum uoch Ver¬
treter in der gegeuwürtigen Litteratur hat, ist eine neue Art gediehen, die das
Bedürfnis des modernen Feuilletons (die stork Stör^, die Vier- und SechS-
spaltennovelle) lind die moderne so unkünstlerische als stimmungslose Hast und
Sensationssucht zu Eltern hat. An der „Nvvellenbvrse" sind diese Geschichte»
die meist keine Erzählungen, sondern nur aufgeputzte Situationen sind, ziem¬
lich begehrt und beliebt. In ihre Reihe gehören z. B. die Lebeusstücke, ein
Novellen- und Skizzenbuch von Anna Crvissant-Rust (München, Dr. E. Albert
und Comp.), höchst unerquickliche und echt moderne Studien. Sie sind nicht
ohne Talent, aber es ist in ihnen alles beisammen, was die reine Wirkung
auch des größten Talents aufheben kann: die tagesübliche Bevorzugung der
physiologisch-geschlechtlichen (man kann nicht einmal sagen der erotischen) Pro¬
bleme und der brutalsten Erscheinungen des Lebens, die Verherrlichung des
Größenwahns, der Wettlauf mit Bilder» der jüngste» Malerschule, der Plakat¬
stil, die Mischung von Hyperidealismus und cynischen Pessimismus. Dazu
nimmt die Wiederholung dunkler und widerwärtiger Situationen, in denen sich
die Verfasserin mit so viel andern gefällt, nachgerade etwas von dem Wesen eines


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[0224] Neue Novellen Novellenmarkt beinahe verschwunden. Einen Nachhall dieser ältern Weise ver¬ nehmen wir in dem kleinen Buche: Was man sich in Venedig erzählt, nach italienischen Quellen von Robert Hamerling (Hamburg, Verlagsanstalt und Druckerei A.-G., 1894). Die alten venezianischen Überlieferungen, die hier in schlichter Weise erzählt werden, bergen eine Fülle echt novellistischer, auch tragischer Motive. Die beiden Geschichten vom ?out>v ävIlÄ cloimiZ, oueÄÄ und ?vues «Je-I1«z maravAg'ut, wie die vom „Raub der Venezianerinnen" ent¬ sprechen dem Vvrtragston des alten geselligen Novellcnerzählens noch besser als die längern Erzählungen „Die weiße Frau im Schlosse von Collaltv" und „Ein Frauenschicksal," deren Ausführung sich schon mehr der modernen Novel- listik nähert. subjektiver, aber gleichfalls auf Überlieferungen gestützt, erscheinen die griechischen Geschichten, die Oskar Linke in der kleinen Sammlung Chrhso- themis erzählt (Leipzig, A. G. Liebeskiud, 1894) vereinigt hat. Die Ein¬ leitung ist symbolisch, die Griechin Chrysothemis folgt dem germanischen See- könig Harald freiwillig auf sein Dracheuschiff, um der Stickluft des justinin- »löcher Zeitalters in der Heimat zu entrinnen, und erzählt ihm Geschichten, die in ihrer Phantasie leben, und denen der heldenhafte nordische Barbar offnen Sinnes lauscht. Unter diesen kleinern Novellen sind „Der neue Ganymed," „Amphigeneia," „Der himmlische Thalamos," „Die Fahrt nach dem Glücke" besonders sinnige und von einem Hauch feiner Stimmung erfüllte Geschichten, die in aller Kürze den poetischen Gehalt der Erfindung erschöpfen und in diesem Sinne mit den ältern echten Novellen verglichen werden dürfen. Während aber die älteste ursprünglichste Art der Novelle (aus der die neuere erweiterte immerhin naturgemäß herausgewachsen ist) kaum uoch Ver¬ treter in der gegeuwürtigen Litteratur hat, ist eine neue Art gediehen, die das Bedürfnis des modernen Feuilletons (die stork Stör^, die Vier- und SechS- spaltennovelle) lind die moderne so unkünstlerische als stimmungslose Hast und Sensationssucht zu Eltern hat. An der „Nvvellenbvrse" sind diese Geschichte» die meist keine Erzählungen, sondern nur aufgeputzte Situationen sind, ziem¬ lich begehrt und beliebt. In ihre Reihe gehören z. B. die Lebeusstücke, ein Novellen- und Skizzenbuch von Anna Crvissant-Rust (München, Dr. E. Albert und Comp.), höchst unerquickliche und echt moderne Studien. Sie sind nicht ohne Talent, aber es ist in ihnen alles beisammen, was die reine Wirkung auch des größten Talents aufheben kann: die tagesübliche Bevorzugung der physiologisch-geschlechtlichen (man kann nicht einmal sagen der erotischen) Pro¬ bleme und der brutalsten Erscheinungen des Lebens, die Verherrlichung des Größenwahns, der Wettlauf mit Bilder» der jüngste» Malerschule, der Plakat¬ stil, die Mischung von Hyperidealismus und cynischen Pessimismus. Dazu nimmt die Wiederholung dunkler und widerwärtiger Situationen, in denen sich die Verfasserin mit so viel andern gefällt, nachgerade etwas von dem Wesen eines

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/224>, abgerufen am 22.07.2024.