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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Freiheit für die evangelische Kirche

dort zur Alleinherrschaft gebracht worden ist, dafür soll nicht der Staat allein
verantwortlich gemacht werden, sondern sicher tragen einen Teil der Schuld
die Reformatoren. Freilich ist ihr Festhalten an der Kindertaufe aus dem
Bestreben, so viel als möglich aus der alten in die neue Kirche mit herüber¬
zunehmen, sehr erklärlich. Trotzdem ist es sicher, daß die Kindertaufe in der
Ausschließlichkeit, mit der sie heute herrscht, in der evangelischen Kirche ein
Mißbrauch ist. Der geeignetste Augenblick, diesen Mißbrauch abzustellen oder
wenigstens zu beschränken, wäre eben dann gekommen, wenn die evangelische
Kirche ihre Selbständigkeit erlangte. Es wäre tief zu bedauern, wenn sie ihn
unbenutzt vorübergehen ließe. Es müßte unbedingt der Grundsatz ausgestellt
werden, daß niemand vor einem gewissen Alter, in dem die nötige Reife und
Selbständigkeit erreicht sein kann -- etwa das Alter der Mündigkeit vor dem
Gesetz --, zur Taufe zugelassen würde; daß für die Übergangszeit und für
gewisse Fälle, z. B. in xsrivulo mortis, Ausnahmen zuzulassen wären, ist selbst¬
verständlich. Ebenso selbstverständlich ist, daß die christliche Familie, der Staat
(durch die Schule) und nicht zum wenigsten die Kirche viel mehr Eifer und
Fleiß als bisher darauf verwenden müßten, das heranwachsende Geschlecht in
dem zu unterrichten, was Christus seinen Jüngern aufgetragen hat, und da¬
durch in ihm den Wunsch zu erwecken, durch die Taufe in die Gemeinschaft
mit Gott und in die Kirche aufgenommen zu werden. Daß eine solche Tauf¬
praxis zunächst dazu beitragen würde, daß sich die Zahl evangelischer Christen
verminderte, ist klar, aber nach dem, was schon oben über die notwendig
eintretende vorübergehende Verminderung des äußern Bestandes der evan¬
gelischen Kirche gesagt worden ist, wäre es nicht zu beklagen.

Hätte sich nun die frei und selbständig gewordne evangelische Kirche der
Elemente entledigt, die nur äußerlich, d. h. mit Unrecht, zu ihr gerechnet
werden, hätte sie die ihr angebornen Rechte wieder aufgenommen, durch die
sie Elemente, die nichts in ihr zu suchen haben, ausscheiden und fernhalten
könnte, hätte sie sich endlich auf der Grundlage, die ihr ihr früherer Vormund,
der Staat, noch geschaffen hat, selbst organisirt, so könnte sie endlich auch
daran denken, sich von etwas zu befreien, was jetzt viele evangelische Christen
bedrückt: vom Dogma, wie der Tagesausdrnck lautet; richtiger: von den jetzt
geltenden Bekenntnissen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die es für möglich
halten, daß eine Kirche ohne Bekenntnis sei. Wer das für möglich hält, kennt
das Wesen der Kirche ebenso wenig wie die Geschichte und das aus ihr her¬
vorgegangn Wesen der Bekenntnisse. Was wir Kirche nennen, ist stets eine
(große) Gemeinschaft von Christen, d. h. von solchen Menschen, deren Ver¬
hältnis zu Gott (Religion) durch Christus vermittelt und bedingt ist. Nun
unterscheidet man innerhalb der allgemeinen Kirche einzelne besondre Kirchen,
deren Glieder in ihrer besondern Auffassung und Überzeugung von der Ver¬
mittlung Christi ihren Bereinigungspunkt haben. Jede Kirche hat ihr be-


Freiheit für die evangelische Kirche

dort zur Alleinherrschaft gebracht worden ist, dafür soll nicht der Staat allein
verantwortlich gemacht werden, sondern sicher tragen einen Teil der Schuld
die Reformatoren. Freilich ist ihr Festhalten an der Kindertaufe aus dem
Bestreben, so viel als möglich aus der alten in die neue Kirche mit herüber¬
zunehmen, sehr erklärlich. Trotzdem ist es sicher, daß die Kindertaufe in der
Ausschließlichkeit, mit der sie heute herrscht, in der evangelischen Kirche ein
Mißbrauch ist. Der geeignetste Augenblick, diesen Mißbrauch abzustellen oder
wenigstens zu beschränken, wäre eben dann gekommen, wenn die evangelische
Kirche ihre Selbständigkeit erlangte. Es wäre tief zu bedauern, wenn sie ihn
unbenutzt vorübergehen ließe. Es müßte unbedingt der Grundsatz ausgestellt
werden, daß niemand vor einem gewissen Alter, in dem die nötige Reife und
Selbständigkeit erreicht sein kann — etwa das Alter der Mündigkeit vor dem
Gesetz —, zur Taufe zugelassen würde; daß für die Übergangszeit und für
gewisse Fälle, z. B. in xsrivulo mortis, Ausnahmen zuzulassen wären, ist selbst¬
verständlich. Ebenso selbstverständlich ist, daß die christliche Familie, der Staat
(durch die Schule) und nicht zum wenigsten die Kirche viel mehr Eifer und
Fleiß als bisher darauf verwenden müßten, das heranwachsende Geschlecht in
dem zu unterrichten, was Christus seinen Jüngern aufgetragen hat, und da¬
durch in ihm den Wunsch zu erwecken, durch die Taufe in die Gemeinschaft
mit Gott und in die Kirche aufgenommen zu werden. Daß eine solche Tauf¬
praxis zunächst dazu beitragen würde, daß sich die Zahl evangelischer Christen
verminderte, ist klar, aber nach dem, was schon oben über die notwendig
eintretende vorübergehende Verminderung des äußern Bestandes der evan¬
gelischen Kirche gesagt worden ist, wäre es nicht zu beklagen.

Hätte sich nun die frei und selbständig gewordne evangelische Kirche der
Elemente entledigt, die nur äußerlich, d. h. mit Unrecht, zu ihr gerechnet
werden, hätte sie die ihr angebornen Rechte wieder aufgenommen, durch die
sie Elemente, die nichts in ihr zu suchen haben, ausscheiden und fernhalten
könnte, hätte sie sich endlich auf der Grundlage, die ihr ihr früherer Vormund,
der Staat, noch geschaffen hat, selbst organisirt, so könnte sie endlich auch
daran denken, sich von etwas zu befreien, was jetzt viele evangelische Christen
bedrückt: vom Dogma, wie der Tagesausdrnck lautet; richtiger: von den jetzt
geltenden Bekenntnissen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die es für möglich
halten, daß eine Kirche ohne Bekenntnis sei. Wer das für möglich hält, kennt
das Wesen der Kirche ebenso wenig wie die Geschichte und das aus ihr her¬
vorgegangn Wesen der Bekenntnisse. Was wir Kirche nennen, ist stets eine
(große) Gemeinschaft von Christen, d. h. von solchen Menschen, deren Ver¬
hältnis zu Gott (Religion) durch Christus vermittelt und bedingt ist. Nun
unterscheidet man innerhalb der allgemeinen Kirche einzelne besondre Kirchen,
deren Glieder in ihrer besondern Auffassung und Überzeugung von der Ver¬
mittlung Christi ihren Bereinigungspunkt haben. Jede Kirche hat ihr be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/20>, abgerufen am 22.07.2024.