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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Freiheit für die evangelische Kirche

Staatschristentum darbot; denn es kann einer auch dann ein gut katholischer
Christ sein, wenn seine Überzeugungen mit den Lehren der katholischen Kirche
nur sehr mangelhaft übereinstimmen; es wird weiter nichts von ihm verlangt,
als daß er die Satzungen der katholischen Kirche erfüllt, also äußerlich seine
Zugehörigkeit zur Kirche bekundet/") Wenn also der Staat, solange das
katholische Christentum Staatschristentum war, forderte, daß seine Bürger
Christen wären, und daß die heranwachsende Jugend der Kirche angehörte, so
forderte er nur das mindeste, die äußerliche Zugehörigkeit. Diese Forderung
hielt der Staat auch noch aufrecht, als er das evangelische Christentum ver¬
staatlichte. Dabei ist aber gänzlich außer Acht gelassen worden, daß eine
äußerliche Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche mit ihrem Wesen unvereinbar
ist. Die evangelische Kirche ist eine Bekenntniskirche. Zu ihr kann nur ge¬
hören, wer innerlich mit ihren Bekenntnissen übereinstimmt. Die evangelische
Kirche kann sogar so weit gehen, solche, die äußerlich gar nicht zu ihr ge¬
hören, doch als ihre Mitglieder zu betrachten, wenn sie nur ihrem innerlichen
Bekenntnis nach mit ihr einig sind. Um diese Grundverschiedenheit der evan¬
gelischen Kirche von der katholischen Kirche hat sich der Staat gar nicht ge¬
kümmert, hat gedankenlos das, was dem katholischen Staatschristentum gegen¬
über angebracht war, auch auf das evangelische übertragen. Die Folge davon
ist, daß heutzutage unermeßliche Scharen von Staats wegen zur evangelischen
Kirche gerechnet werden, denen diese selbst durchaus nicht die Zugehörigkeit
zuerkennen kann, und daß die Kirche, indem sie auch diesen evangelischen Staats¬
christen dienen muß, ihre Kräfte zersplittert und denen entzieht, die ein Recht
darauf haben. Erlangt die evangelische Kirche die ihr zukommende Selbständigkeit
und Freiheit, so muß es ihr erstes sein, sich von diesem ganz unnötigen und
ihr dabei außerordentlich hinderlichen Ballast zu befreien. Wie das geschehen
soll? Zunächst so, daß sie jeden, der jetzt von Staats wegen ihr angehört,
um seine Überzeugung befragt und nur die noch zu sich rechnet, die zu ihr
gehören wollen. Dabei sollte sie jedem, der nicht von ganzem Herzen mit
ihren Lehren übereinstimmt, das Fernbleiben in keiner Weise erschweren,
während sie andernfalls jeden, den seine Überzeugung zu ihr treibt, aufnehmen
müßte. Und nicht nur das, sondern sie müßte auch ihre Lehren in viel höherm
Maße, als es jetzt geschieht, jedem, der sie kennen lernen will, zugänglich machen
und nahebringen.

Was würde die Folge einer solchen Sichtung sein? Ohne Zweifel, daß
die Zahl der evangelischen Christen äußerlich bedeutend verringert werden
würde. Das würde sich statistisch sehr leicht nachweisen lassen. Aber die



*) Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es nicht auch in der katholischen Kirche als
das Ideal gilt, daß die Überzeugungen ihrer Glieder mit den Lehren der Kirche überein¬
stimmen.
Grenzboten I 1896 2
Freiheit für die evangelische Kirche

Staatschristentum darbot; denn es kann einer auch dann ein gut katholischer
Christ sein, wenn seine Überzeugungen mit den Lehren der katholischen Kirche
nur sehr mangelhaft übereinstimmen; es wird weiter nichts von ihm verlangt,
als daß er die Satzungen der katholischen Kirche erfüllt, also äußerlich seine
Zugehörigkeit zur Kirche bekundet/") Wenn also der Staat, solange das
katholische Christentum Staatschristentum war, forderte, daß seine Bürger
Christen wären, und daß die heranwachsende Jugend der Kirche angehörte, so
forderte er nur das mindeste, die äußerliche Zugehörigkeit. Diese Forderung
hielt der Staat auch noch aufrecht, als er das evangelische Christentum ver¬
staatlichte. Dabei ist aber gänzlich außer Acht gelassen worden, daß eine
äußerliche Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche mit ihrem Wesen unvereinbar
ist. Die evangelische Kirche ist eine Bekenntniskirche. Zu ihr kann nur ge¬
hören, wer innerlich mit ihren Bekenntnissen übereinstimmt. Die evangelische
Kirche kann sogar so weit gehen, solche, die äußerlich gar nicht zu ihr ge¬
hören, doch als ihre Mitglieder zu betrachten, wenn sie nur ihrem innerlichen
Bekenntnis nach mit ihr einig sind. Um diese Grundverschiedenheit der evan¬
gelischen Kirche von der katholischen Kirche hat sich der Staat gar nicht ge¬
kümmert, hat gedankenlos das, was dem katholischen Staatschristentum gegen¬
über angebracht war, auch auf das evangelische übertragen. Die Folge davon
ist, daß heutzutage unermeßliche Scharen von Staats wegen zur evangelischen
Kirche gerechnet werden, denen diese selbst durchaus nicht die Zugehörigkeit
zuerkennen kann, und daß die Kirche, indem sie auch diesen evangelischen Staats¬
christen dienen muß, ihre Kräfte zersplittert und denen entzieht, die ein Recht
darauf haben. Erlangt die evangelische Kirche die ihr zukommende Selbständigkeit
und Freiheit, so muß es ihr erstes sein, sich von diesem ganz unnötigen und
ihr dabei außerordentlich hinderlichen Ballast zu befreien. Wie das geschehen
soll? Zunächst so, daß sie jeden, der jetzt von Staats wegen ihr angehört,
um seine Überzeugung befragt und nur die noch zu sich rechnet, die zu ihr
gehören wollen. Dabei sollte sie jedem, der nicht von ganzem Herzen mit
ihren Lehren übereinstimmt, das Fernbleiben in keiner Weise erschweren,
während sie andernfalls jeden, den seine Überzeugung zu ihr treibt, aufnehmen
müßte. Und nicht nur das, sondern sie müßte auch ihre Lehren in viel höherm
Maße, als es jetzt geschieht, jedem, der sie kennen lernen will, zugänglich machen
und nahebringen.

Was würde die Folge einer solchen Sichtung sein? Ohne Zweifel, daß
die Zahl der evangelischen Christen äußerlich bedeutend verringert werden
würde. Das würde sich statistisch sehr leicht nachweisen lassen. Aber die



*) Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es nicht auch in der katholischen Kirche als
das Ideal gilt, daß die Überzeugungen ihrer Glieder mit den Lehren der Kirche überein¬
stimmen.
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[0017] Freiheit für die evangelische Kirche Staatschristentum darbot; denn es kann einer auch dann ein gut katholischer Christ sein, wenn seine Überzeugungen mit den Lehren der katholischen Kirche nur sehr mangelhaft übereinstimmen; es wird weiter nichts von ihm verlangt, als daß er die Satzungen der katholischen Kirche erfüllt, also äußerlich seine Zugehörigkeit zur Kirche bekundet/") Wenn also der Staat, solange das katholische Christentum Staatschristentum war, forderte, daß seine Bürger Christen wären, und daß die heranwachsende Jugend der Kirche angehörte, so forderte er nur das mindeste, die äußerliche Zugehörigkeit. Diese Forderung hielt der Staat auch noch aufrecht, als er das evangelische Christentum ver¬ staatlichte. Dabei ist aber gänzlich außer Acht gelassen worden, daß eine äußerliche Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche mit ihrem Wesen unvereinbar ist. Die evangelische Kirche ist eine Bekenntniskirche. Zu ihr kann nur ge¬ hören, wer innerlich mit ihren Bekenntnissen übereinstimmt. Die evangelische Kirche kann sogar so weit gehen, solche, die äußerlich gar nicht zu ihr ge¬ hören, doch als ihre Mitglieder zu betrachten, wenn sie nur ihrem innerlichen Bekenntnis nach mit ihr einig sind. Um diese Grundverschiedenheit der evan¬ gelischen Kirche von der katholischen Kirche hat sich der Staat gar nicht ge¬ kümmert, hat gedankenlos das, was dem katholischen Staatschristentum gegen¬ über angebracht war, auch auf das evangelische übertragen. Die Folge davon ist, daß heutzutage unermeßliche Scharen von Staats wegen zur evangelischen Kirche gerechnet werden, denen diese selbst durchaus nicht die Zugehörigkeit zuerkennen kann, und daß die Kirche, indem sie auch diesen evangelischen Staats¬ christen dienen muß, ihre Kräfte zersplittert und denen entzieht, die ein Recht darauf haben. Erlangt die evangelische Kirche die ihr zukommende Selbständigkeit und Freiheit, so muß es ihr erstes sein, sich von diesem ganz unnötigen und ihr dabei außerordentlich hinderlichen Ballast zu befreien. Wie das geschehen soll? Zunächst so, daß sie jeden, der jetzt von Staats wegen ihr angehört, um seine Überzeugung befragt und nur die noch zu sich rechnet, die zu ihr gehören wollen. Dabei sollte sie jedem, der nicht von ganzem Herzen mit ihren Lehren übereinstimmt, das Fernbleiben in keiner Weise erschweren, während sie andernfalls jeden, den seine Überzeugung zu ihr treibt, aufnehmen müßte. Und nicht nur das, sondern sie müßte auch ihre Lehren in viel höherm Maße, als es jetzt geschieht, jedem, der sie kennen lernen will, zugänglich machen und nahebringen. Was würde die Folge einer solchen Sichtung sein? Ohne Zweifel, daß die Zahl der evangelischen Christen äußerlich bedeutend verringert werden würde. Das würde sich statistisch sehr leicht nachweisen lassen. Aber die *) Damit ist natürlich nicht gesagt, daß es nicht auch in der katholischen Kirche als das Ideal gilt, daß die Überzeugungen ihrer Glieder mit den Lehren der Kirche überein¬ stimmen. Grenzboten I 1896 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/17>, abgerufen am 22.07.2024.