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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Ein kleines Repetitorium

so sind das oft arme Arbeiter, deren Erfindungen sich die Unternehmer trotz
der Patentgesetzgebung oder durch sie aneignen. Edison hat beteuert, wenn es
ihm nicht gelungen wäre, selbst Unternehmer zu werden, so hätte er mit allen
seinen Erfindungen verhungern müssen. Und im sozialpolitischen Zentralblatt
Ur. 16 lesen wir: "Die Steigerung der Produktivität betrachtet der Unter¬
nehmer als sein Eigentum, wie denn ja auch das Pateutgesetz jede technische
Verbesserung, die ein Arbeiter im Betrieb einer Fabrik erfindet, bei mangelnder
besondrer Abmachung ohne weiteres dem Lohnherrn als industrielles Eigentum
zuspricht. Versucht ein Arbeiter, dieses Produkt seines Genies, seiner Er¬
fahrung, seines körperlichen Risikos für sich selbst auszubeuten, so macht er
sich einer Unterschlagung schuldig, ein Rechtverhältnis, das schon tausende
von industriellen Fortschritten im Keime erstickt hat." Es ist rein zufällig,
wenn einmal Reichtum, Unternehmertalent und Ersindergenie in einer Person
zusammentreffen. Der Krupp und Borsig giebt es nicht unzählige, sondern
sie lassen sich an den Fingern herzählen; unter den heutigen Verhältnissen
sind solche Lebenslüufe überhaupt nicht mehr möglich.

Die Hauptsache bleibt, daß in jenem Aufsatze die Kernwahrheit: Übervöl¬
kerung, nicht bestritten wird, die über kurz oder lang die maßgebenden Kreise zu
der Entscheidung: Zweikindersystem oder Expansion zwingen muß. Die Parteien
haben auf eine allgemeine Lösung der innern Schwierigkeiten verzichtet, ja sie
gehen allen Lösungsversuchen grundsätzlich aus dem Wege und verführen einen
betäubenden Lärm um Interessen, wobei jede im Trüben zu fischen gedenkt.
Nur zwei Parteien, die Sozialdemokraten und die Antisemiten, steuern auf
eine grundsätzliche Lösung zu, die aber in beiden Fällen phantastisch ist. Ob
die Regierung über eine grundsätzliche Lösung nachdenkt, wissen wir nicht,
denn sie verrät nichts. Wir beteiligen uns weder an der Beutejagd, noch
halten wir müßiges Abwarten für erlaubt, noch lassen wir uns auf den phan¬
tastischen Plan einer Neuordnung der Gesellschaft ein, sondern halten an der
uralten Praxis fest, die sich noch immer bewährt hat, daß die innern Schwierig¬
keiten eines Volkes, dessen Bedürfnis und Spannkraft über seine Grenzen
hinausreichen, nur durch eine Expansion zu überwinden sind, die eine breitere
Grundlage schafft, auf der wieder einfache, natürliche, gesunde Verhältnisse
hergestellt werden können.




Ein kleines Repetitorium

so sind das oft arme Arbeiter, deren Erfindungen sich die Unternehmer trotz
der Patentgesetzgebung oder durch sie aneignen. Edison hat beteuert, wenn es
ihm nicht gelungen wäre, selbst Unternehmer zu werden, so hätte er mit allen
seinen Erfindungen verhungern müssen. Und im sozialpolitischen Zentralblatt
Ur. 16 lesen wir: „Die Steigerung der Produktivität betrachtet der Unter¬
nehmer als sein Eigentum, wie denn ja auch das Pateutgesetz jede technische
Verbesserung, die ein Arbeiter im Betrieb einer Fabrik erfindet, bei mangelnder
besondrer Abmachung ohne weiteres dem Lohnherrn als industrielles Eigentum
zuspricht. Versucht ein Arbeiter, dieses Produkt seines Genies, seiner Er¬
fahrung, seines körperlichen Risikos für sich selbst auszubeuten, so macht er
sich einer Unterschlagung schuldig, ein Rechtverhältnis, das schon tausende
von industriellen Fortschritten im Keime erstickt hat." Es ist rein zufällig,
wenn einmal Reichtum, Unternehmertalent und Ersindergenie in einer Person
zusammentreffen. Der Krupp und Borsig giebt es nicht unzählige, sondern
sie lassen sich an den Fingern herzählen; unter den heutigen Verhältnissen
sind solche Lebenslüufe überhaupt nicht mehr möglich.

Die Hauptsache bleibt, daß in jenem Aufsatze die Kernwahrheit: Übervöl¬
kerung, nicht bestritten wird, die über kurz oder lang die maßgebenden Kreise zu
der Entscheidung: Zweikindersystem oder Expansion zwingen muß. Die Parteien
haben auf eine allgemeine Lösung der innern Schwierigkeiten verzichtet, ja sie
gehen allen Lösungsversuchen grundsätzlich aus dem Wege und verführen einen
betäubenden Lärm um Interessen, wobei jede im Trüben zu fischen gedenkt.
Nur zwei Parteien, die Sozialdemokraten und die Antisemiten, steuern auf
eine grundsätzliche Lösung zu, die aber in beiden Fällen phantastisch ist. Ob
die Regierung über eine grundsätzliche Lösung nachdenkt, wissen wir nicht,
denn sie verrät nichts. Wir beteiligen uns weder an der Beutejagd, noch
halten wir müßiges Abwarten für erlaubt, noch lassen wir uns auf den phan¬
tastischen Plan einer Neuordnung der Gesellschaft ein, sondern halten an der
uralten Praxis fest, die sich noch immer bewährt hat, daß die innern Schwierig¬
keiten eines Volkes, dessen Bedürfnis und Spannkraft über seine Grenzen
hinausreichen, nur durch eine Expansion zu überwinden sind, die eine breitere
Grundlage schafft, auf der wieder einfache, natürliche, gesunde Verhältnisse
hergestellt werden können.




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[0164] Ein kleines Repetitorium so sind das oft arme Arbeiter, deren Erfindungen sich die Unternehmer trotz der Patentgesetzgebung oder durch sie aneignen. Edison hat beteuert, wenn es ihm nicht gelungen wäre, selbst Unternehmer zu werden, so hätte er mit allen seinen Erfindungen verhungern müssen. Und im sozialpolitischen Zentralblatt Ur. 16 lesen wir: „Die Steigerung der Produktivität betrachtet der Unter¬ nehmer als sein Eigentum, wie denn ja auch das Pateutgesetz jede technische Verbesserung, die ein Arbeiter im Betrieb einer Fabrik erfindet, bei mangelnder besondrer Abmachung ohne weiteres dem Lohnherrn als industrielles Eigentum zuspricht. Versucht ein Arbeiter, dieses Produkt seines Genies, seiner Er¬ fahrung, seines körperlichen Risikos für sich selbst auszubeuten, so macht er sich einer Unterschlagung schuldig, ein Rechtverhältnis, das schon tausende von industriellen Fortschritten im Keime erstickt hat." Es ist rein zufällig, wenn einmal Reichtum, Unternehmertalent und Ersindergenie in einer Person zusammentreffen. Der Krupp und Borsig giebt es nicht unzählige, sondern sie lassen sich an den Fingern herzählen; unter den heutigen Verhältnissen sind solche Lebenslüufe überhaupt nicht mehr möglich. Die Hauptsache bleibt, daß in jenem Aufsatze die Kernwahrheit: Übervöl¬ kerung, nicht bestritten wird, die über kurz oder lang die maßgebenden Kreise zu der Entscheidung: Zweikindersystem oder Expansion zwingen muß. Die Parteien haben auf eine allgemeine Lösung der innern Schwierigkeiten verzichtet, ja sie gehen allen Lösungsversuchen grundsätzlich aus dem Wege und verführen einen betäubenden Lärm um Interessen, wobei jede im Trüben zu fischen gedenkt. Nur zwei Parteien, die Sozialdemokraten und die Antisemiten, steuern auf eine grundsätzliche Lösung zu, die aber in beiden Fällen phantastisch ist. Ob die Regierung über eine grundsätzliche Lösung nachdenkt, wissen wir nicht, denn sie verrät nichts. Wir beteiligen uns weder an der Beutejagd, noch halten wir müßiges Abwarten für erlaubt, noch lassen wir uns auf den phan¬ tastischen Plan einer Neuordnung der Gesellschaft ein, sondern halten an der uralten Praxis fest, die sich noch immer bewährt hat, daß die innern Schwierig¬ keiten eines Volkes, dessen Bedürfnis und Spannkraft über seine Grenzen hinausreichen, nur durch eine Expansion zu überwinden sind, die eine breitere Grundlage schafft, auf der wieder einfache, natürliche, gesunde Verhältnisse hergestellt werden können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/164>, abgerufen am 22.07.2024.