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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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kasseukapital entgegenhalten? Wenn es nur ihre wären! Aber beim heutigen
Zinsfuß liegt auch viel Geld höherer Schichten in den Sparkassen. Nehmen
wir jedoch an, ihnen gehörten 3 Milliarden, so kämen auf den Kopf jener
21 Millionen 156 Mark und auf die Familie, die mit durchschnittlich fünf
Köpfen noch zu hoch angenommen wird, 768 Mark oder 256 Thaler. Im
Mittelalter und stellenweise noch im Beginn unsers Jahrhunderts bildete der
hörige Bauer die unterste Schicht der Bevölkerung. Der hörige Bauer hatte
seine eigne Scholle, von der ihn der Gutsherr nicht vertreiben durfte, auf
der er ihn sogar ernähren mußte, wenn des Bauern eigne Ernte nicht hin¬
reichte. Sind 256 Thaler, die bei einer längern Krankheit des Mannes oder
der Frau, in einem arbeitslosen Jahre, bei zwei oder drei Umzügen wie
Schnee an der Sonne schmelzen, sind die ein Äquivalent für die Existenz¬
sicherheit, deren sich ehedem der Angehörige der untersten Volksschicht er¬
freute?

Da haben mirs, was gegen früher anders geworden ist: die vogelfreie
Schicht, die ehedem bloß in vereinzelten Anfängen vorhanden war, umfaßt
heute etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung. Das nächst höhere Drittel
schwebt in beständiger Gefahr und Angst, auf die unterste Stufe hinabzusinken.
Vom obersten Drittel befinden sich noch sieben Achtel (die 2160461 Steuer¬
zahler von 900 bis 3000 Mark Einkommen) in Gefahr, wenn auch nicht in
unmittelbar drohender, und von den übrigen lebt wiederum der größte Teil
(die 208568 Zensitcn mit 3000 bis 6000 Mark) in wohlbegründeter Sorge,
wenn nicht um sich selbst, so doch um die Kiuder, weil nur eine sehr kost¬
spielige Vorbildung für einen höhern Beruf oder ein bedeutendes Vermögen
vor sehr schlimmen Möglichkeiten zu sichern vermag. Noch bis in die fünf¬
ziger Jahre hinein konnte ein Gutsbesitzer die überzähligen Söhne mit wenige"?
hundert Thalern in Galizien, in Russisch-Polen, in Nordamerika versorgen.
Die ersten beiden Auswege sind heute versperrt, in den Vereinigten Staaten
aber ist das Land teuer und die Landwirtschaft des kleinern Bauern unrentabel
geworden. Karl Bücher hat in einer seiner feinen Studien (Die Entstehung
der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, H. Laupp, 1893) gezeigt,
wie gesund die gesellschaftliche Gliederung im fünfzehnten Jahrhundert war
und wie ungesund die heutige ist, indem er das Frankfurt am Main vom
Jahre 1440 mit dem von heute vergleicht. Das Ergebnis lautet: die Zahl
der produktiven Menschen war im Verhältnis zu den unproduktiven (nament¬
lich den besoldeten Beamten), die der auf eigner Scholle sitzenden zu den nicht¬
angesessenen, die der mittelmäßig Wohlhabenden zu den Armen und den sehr
Reichen größer, der Vermögensabstand zwischen den Reichsten und den Ärmsten
geringer als heute, und ein besitzloses Lohnarbciterproletariat so gut wie gar
nicht vorhanden.

Veranschaulichen wir uns den Gegensatz zwischen Einst und Jetzt noch an


kasseukapital entgegenhalten? Wenn es nur ihre wären! Aber beim heutigen
Zinsfuß liegt auch viel Geld höherer Schichten in den Sparkassen. Nehmen
wir jedoch an, ihnen gehörten 3 Milliarden, so kämen auf den Kopf jener
21 Millionen 156 Mark und auf die Familie, die mit durchschnittlich fünf
Köpfen noch zu hoch angenommen wird, 768 Mark oder 256 Thaler. Im
Mittelalter und stellenweise noch im Beginn unsers Jahrhunderts bildete der
hörige Bauer die unterste Schicht der Bevölkerung. Der hörige Bauer hatte
seine eigne Scholle, von der ihn der Gutsherr nicht vertreiben durfte, auf
der er ihn sogar ernähren mußte, wenn des Bauern eigne Ernte nicht hin¬
reichte. Sind 256 Thaler, die bei einer längern Krankheit des Mannes oder
der Frau, in einem arbeitslosen Jahre, bei zwei oder drei Umzügen wie
Schnee an der Sonne schmelzen, sind die ein Äquivalent für die Existenz¬
sicherheit, deren sich ehedem der Angehörige der untersten Volksschicht er¬
freute?

Da haben mirs, was gegen früher anders geworden ist: die vogelfreie
Schicht, die ehedem bloß in vereinzelten Anfängen vorhanden war, umfaßt
heute etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung. Das nächst höhere Drittel
schwebt in beständiger Gefahr und Angst, auf die unterste Stufe hinabzusinken.
Vom obersten Drittel befinden sich noch sieben Achtel (die 2160461 Steuer¬
zahler von 900 bis 3000 Mark Einkommen) in Gefahr, wenn auch nicht in
unmittelbar drohender, und von den übrigen lebt wiederum der größte Teil
(die 208568 Zensitcn mit 3000 bis 6000 Mark) in wohlbegründeter Sorge,
wenn nicht um sich selbst, so doch um die Kiuder, weil nur eine sehr kost¬
spielige Vorbildung für einen höhern Beruf oder ein bedeutendes Vermögen
vor sehr schlimmen Möglichkeiten zu sichern vermag. Noch bis in die fünf¬
ziger Jahre hinein konnte ein Gutsbesitzer die überzähligen Söhne mit wenige«?
hundert Thalern in Galizien, in Russisch-Polen, in Nordamerika versorgen.
Die ersten beiden Auswege sind heute versperrt, in den Vereinigten Staaten
aber ist das Land teuer und die Landwirtschaft des kleinern Bauern unrentabel
geworden. Karl Bücher hat in einer seiner feinen Studien (Die Entstehung
der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, H. Laupp, 1893) gezeigt,
wie gesund die gesellschaftliche Gliederung im fünfzehnten Jahrhundert war
und wie ungesund die heutige ist, indem er das Frankfurt am Main vom
Jahre 1440 mit dem von heute vergleicht. Das Ergebnis lautet: die Zahl
der produktiven Menschen war im Verhältnis zu den unproduktiven (nament¬
lich den besoldeten Beamten), die der auf eigner Scholle sitzenden zu den nicht¬
angesessenen, die der mittelmäßig Wohlhabenden zu den Armen und den sehr
Reichen größer, der Vermögensabstand zwischen den Reichsten und den Ärmsten
geringer als heute, und ein besitzloses Lohnarbciterproletariat so gut wie gar
nicht vorhanden.

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[0159] kasseukapital entgegenhalten? Wenn es nur ihre wären! Aber beim heutigen Zinsfuß liegt auch viel Geld höherer Schichten in den Sparkassen. Nehmen wir jedoch an, ihnen gehörten 3 Milliarden, so kämen auf den Kopf jener 21 Millionen 156 Mark und auf die Familie, die mit durchschnittlich fünf Köpfen noch zu hoch angenommen wird, 768 Mark oder 256 Thaler. Im Mittelalter und stellenweise noch im Beginn unsers Jahrhunderts bildete der hörige Bauer die unterste Schicht der Bevölkerung. Der hörige Bauer hatte seine eigne Scholle, von der ihn der Gutsherr nicht vertreiben durfte, auf der er ihn sogar ernähren mußte, wenn des Bauern eigne Ernte nicht hin¬ reichte. Sind 256 Thaler, die bei einer längern Krankheit des Mannes oder der Frau, in einem arbeitslosen Jahre, bei zwei oder drei Umzügen wie Schnee an der Sonne schmelzen, sind die ein Äquivalent für die Existenz¬ sicherheit, deren sich ehedem der Angehörige der untersten Volksschicht er¬ freute? Da haben mirs, was gegen früher anders geworden ist: die vogelfreie Schicht, die ehedem bloß in vereinzelten Anfängen vorhanden war, umfaßt heute etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung. Das nächst höhere Drittel schwebt in beständiger Gefahr und Angst, auf die unterste Stufe hinabzusinken. Vom obersten Drittel befinden sich noch sieben Achtel (die 2160461 Steuer¬ zahler von 900 bis 3000 Mark Einkommen) in Gefahr, wenn auch nicht in unmittelbar drohender, und von den übrigen lebt wiederum der größte Teil (die 208568 Zensitcn mit 3000 bis 6000 Mark) in wohlbegründeter Sorge, wenn nicht um sich selbst, so doch um die Kiuder, weil nur eine sehr kost¬ spielige Vorbildung für einen höhern Beruf oder ein bedeutendes Vermögen vor sehr schlimmen Möglichkeiten zu sichern vermag. Noch bis in die fünf¬ ziger Jahre hinein konnte ein Gutsbesitzer die überzähligen Söhne mit wenige«? hundert Thalern in Galizien, in Russisch-Polen, in Nordamerika versorgen. Die ersten beiden Auswege sind heute versperrt, in den Vereinigten Staaten aber ist das Land teuer und die Landwirtschaft des kleinern Bauern unrentabel geworden. Karl Bücher hat in einer seiner feinen Studien (Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen, H. Laupp, 1893) gezeigt, wie gesund die gesellschaftliche Gliederung im fünfzehnten Jahrhundert war und wie ungesund die heutige ist, indem er das Frankfurt am Main vom Jahre 1440 mit dem von heute vergleicht. Das Ergebnis lautet: die Zahl der produktiven Menschen war im Verhältnis zu den unproduktiven (nament¬ lich den besoldeten Beamten), die der auf eigner Scholle sitzenden zu den nicht¬ angesessenen, die der mittelmäßig Wohlhabenden zu den Armen und den sehr Reichen größer, der Vermögensabstand zwischen den Reichsten und den Ärmsten geringer als heute, und ein besitzloses Lohnarbciterproletariat so gut wie gar nicht vorhanden. Veranschaulichen wir uns den Gegensatz zwischen Einst und Jetzt noch an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/159>, abgerufen am 23.07.2024.