Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.La kleines Repetitorium wird, ohne zur Besinnung zu kommen, beim flüchtigen Zahlen seiner Aus¬ La kleines Repetitorium wird, ohne zur Besinnung zu kommen, beim flüchtigen Zahlen seiner Aus¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0158" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219160"/> <fw type="header" place="top"> La kleines Repetitorium</fw><lb/> <p xml:id="ID_437" prev="#ID_436" next="#ID_438"> wird, ohne zur Besinnung zu kommen, beim flüchtigen Zahlen seiner Aus¬<lb/> gaben für schwarze Kleider, weiße Wäsche n. f. w. meist überteuert wird, und<lb/> wenn er einmal einen freien Tag oder eine freie Nacht hat, durch eine kost¬<lb/> spielige Vergnügungshetze in wenigen Stunden einzubringen sucht, was ihm<lb/> sein gewöhnliches Dasein an Gemütlichkeit und Behaglichkeit versagt. Ist er<lb/> sehr klug und besonnen und hat er viel Selbstbeherrschung, so spart er viel¬<lb/> leicht soviel, daß er sich später eine Existenz gründen kann; in den meisten<lb/> Fällen, besonders wenn er oft wechseln muß, wird er den größten Teil seiner<lb/> Einnahme ohne Vorteil und Genuß vertrödeln. Aber die Zahlen selbst sind<lb/> doch auch wahrlich schon genng dazu angethan, sehr ernst zu stimmen. Sieben<lb/> Zehntel, 21 Millionen Menschen, müssen sich mit einem Einkommen von<lb/> weniger als 900 Mark begnügen. Nehmen wir als Durchschnittseinkommen<lb/> 600 Mark an. Wir denken nicht daran, die Leute zu beklagen, die mit solchem<lb/> Einkommen auf eigner Scholle sitzen; unser Volk ist nicht so weichlich senti¬<lb/> mental, daß es sich bei harter Arbeit und grober Kost unglücklich fühlen<lb/> sollte, wenn es sich nur satt essen kann, wenn man ihm sein volkstümliches<lb/> Vergnügen nicht wehrt, und wenn es von der Obrigkeit nicht mit unverstän¬<lb/> digen Zumutungen, Forderungen und Verboten geplagt wird. Aber 600 Mark<lb/> Familieneinkommen, die man heute hat und morgen nicht hat, wovon man<lb/> 150 Mark auf ein Hundeloch von Wohnung zahlen muß, die zu erlangen<lb/> man sich ein halbes Jahr lang unter Kämpfen mit der Polizei abhetzen muß —<lb/> was das für ein Leben ist, das mag sich der Leser einmal zuerst mit Beihilfe<lb/> der marktkundigen Hausfrau ausrechnen und dann ausmalen! Daß das an¬<lb/> ständige, behagliche und sorgenfreie Daheim für den Gebildeten erst bei einem<lb/> Familieneinkvmmen von 6000 Mark anfängt, darin sind wir wohl alle einig.<lb/> Die Zahl derer, die mehr als 6000 Mark versteuern, beträgt aber wenig über<lb/> 100000, mit Familiengliedern also wird diese Bevölkerungsschicht bei weitem<lb/> noch nicht 500000 Seelen zahlen, nehmen wir aber 500000 an. Wenn nnn<lb/> einer von diesen 500000, von diesem Sechzigste! des preußischen Volkes, ver¬<lb/> wundert fragt: was hat sich denn eigentlich gegen früher geändert, daß man von<lb/> einer sozialen Frage spricht, was werden da wohl die sieben Zehntel, die 21<lb/> Millionen, antworten? Kann man ihnen auf ihre Antwort die gefüllten<lb/> Kneipen und Biergärten und die Vereinsfeste entgegenhalten? Hätten wir<lb/> die Zeit dazu übrig, so würden wir uns anheischig machen, die Klagen über<lb/> die Vergnügungssucht des Volkes in ununterbrochner Reihe bis in das vierte<lb/> christliche Jahrhundert zurückzuführen. Damit ist es also wirklich „immer so<lb/> gewesen." Man kann beklagen, daß ein Teil des sauer verdienten und un¬<lb/> zureichenden Einkommens in unzweckmäßiger Weise vergeudet wird, aber man<lb/> kann aus einer Erscheinung, die, nur die Formen wechselnd, durch alle Zeiten<lb/> beharrt, nicht den Schluß ziehen, daß es dem Volke heute besser oder weniger<lb/> schlecht gehe als früher. Oder können wir ihnen ihre 3282 Millionen Spar-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0158]
La kleines Repetitorium
wird, ohne zur Besinnung zu kommen, beim flüchtigen Zahlen seiner Aus¬
gaben für schwarze Kleider, weiße Wäsche n. f. w. meist überteuert wird, und
wenn er einmal einen freien Tag oder eine freie Nacht hat, durch eine kost¬
spielige Vergnügungshetze in wenigen Stunden einzubringen sucht, was ihm
sein gewöhnliches Dasein an Gemütlichkeit und Behaglichkeit versagt. Ist er
sehr klug und besonnen und hat er viel Selbstbeherrschung, so spart er viel¬
leicht soviel, daß er sich später eine Existenz gründen kann; in den meisten
Fällen, besonders wenn er oft wechseln muß, wird er den größten Teil seiner
Einnahme ohne Vorteil und Genuß vertrödeln. Aber die Zahlen selbst sind
doch auch wahrlich schon genng dazu angethan, sehr ernst zu stimmen. Sieben
Zehntel, 21 Millionen Menschen, müssen sich mit einem Einkommen von
weniger als 900 Mark begnügen. Nehmen wir als Durchschnittseinkommen
600 Mark an. Wir denken nicht daran, die Leute zu beklagen, die mit solchem
Einkommen auf eigner Scholle sitzen; unser Volk ist nicht so weichlich senti¬
mental, daß es sich bei harter Arbeit und grober Kost unglücklich fühlen
sollte, wenn es sich nur satt essen kann, wenn man ihm sein volkstümliches
Vergnügen nicht wehrt, und wenn es von der Obrigkeit nicht mit unverstän¬
digen Zumutungen, Forderungen und Verboten geplagt wird. Aber 600 Mark
Familieneinkommen, die man heute hat und morgen nicht hat, wovon man
150 Mark auf ein Hundeloch von Wohnung zahlen muß, die zu erlangen
man sich ein halbes Jahr lang unter Kämpfen mit der Polizei abhetzen muß —
was das für ein Leben ist, das mag sich der Leser einmal zuerst mit Beihilfe
der marktkundigen Hausfrau ausrechnen und dann ausmalen! Daß das an¬
ständige, behagliche und sorgenfreie Daheim für den Gebildeten erst bei einem
Familieneinkvmmen von 6000 Mark anfängt, darin sind wir wohl alle einig.
Die Zahl derer, die mehr als 6000 Mark versteuern, beträgt aber wenig über
100000, mit Familiengliedern also wird diese Bevölkerungsschicht bei weitem
noch nicht 500000 Seelen zahlen, nehmen wir aber 500000 an. Wenn nnn
einer von diesen 500000, von diesem Sechzigste! des preußischen Volkes, ver¬
wundert fragt: was hat sich denn eigentlich gegen früher geändert, daß man von
einer sozialen Frage spricht, was werden da wohl die sieben Zehntel, die 21
Millionen, antworten? Kann man ihnen auf ihre Antwort die gefüllten
Kneipen und Biergärten und die Vereinsfeste entgegenhalten? Hätten wir
die Zeit dazu übrig, so würden wir uns anheischig machen, die Klagen über
die Vergnügungssucht des Volkes in ununterbrochner Reihe bis in das vierte
christliche Jahrhundert zurückzuführen. Damit ist es also wirklich „immer so
gewesen." Man kann beklagen, daß ein Teil des sauer verdienten und un¬
zureichenden Einkommens in unzweckmäßiger Weise vergeudet wird, aber man
kann aus einer Erscheinung, die, nur die Formen wechselnd, durch alle Zeiten
beharrt, nicht den Schluß ziehen, daß es dem Volke heute besser oder weniger
schlecht gehe als früher. Oder können wir ihnen ihre 3282 Millionen Spar-
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