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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zur Würdigung der gegenwärtigen Uunstbestrebungen

jetzt sind die Jungen in der Mode. Ihre Arbeiten finden in überraschend
großer Zahl zu guten Preisen schnell ihre Liebhaber; sie müssen also als Aus¬
druck einer breiten Strömling im geistigen Leben der Gegenwart gewürdigt
werden.

Die Kunsterzeugnisse spiegeln ihre Zeiten wieder. Wie damals jene klas¬
sische Richtung dem Geiste ihrer Zeit genau entsprach, so jetzt -- nun, wie
soll man denn die neumodische Richtung nennen? -- so entspricht jetzt die
sinnliche Richtung der Gegenwart. Die große Masse der Menschheit ist jetzt nicht
darnach angethan, den Werken der Dichtung und Kunst gegenüber in ernster
Weise mit dem eignen Geiste auch nur etwas selbstthätig zu sein. Wo sie sich
nur im geringsten mühen soll, da verzichtet sie sofort und bricht höhnisch den
Stab. Nur leichte Ware! Augen-, Ohren- und Sinnenkitzel, mehr nicht. Das
ist aber genau das, worauf die Jungen abzielen. Nur sinnlich sehen, nur
mit dem Auge genießen, nur kein Geist, kein Gedanke! Es müßte ein artiges
Gemälde abgeben, Herrn Begas zu sehen -- nicht in seiner Werkstatt, wie
man ihn aus der letzten Berliner Ausstellung bewundern konnte -- nein! im
Tempel der Kunst, angethan mit dem Kleide des Oberpriesters und umgeben
von den Priestern des jungen und allerjüngsten Heils, wie er unter Beihilfe
der ganzen Sippe dem armen Schmetterling, der Psyche, die Flügel aus-
reißt und zerreißt, wie er die Stücke und Fetzen schündet und zertritt. Dazu
ruft er Wehe und abermals Wehe über die arme Gemordete, und der Chor
stimmt einen Lobgesang an auf das Fleisch und des Fleisches Lust. Man
konnte das anmutige Bild "die Tötung der Seele" oder "die Ermordung der
Psyche" oder "die Verfluchung des Gedankens" nennen. Die Liebhaber würden
sich darum reißen und prügeln. Der Maler würde ein Krösus oder ein Roth¬
schild werden. Aber welche Ironie! Hätte das Bild denn nicht selbst einen
Gedanken? Natürlich. Aber diesen Fehler haben ja leider noch viele Arbeiten
der Jungen, denn sie geben ja nicht bloß "Kehrichthaufen," sondern stellen
doch meist einen gewissen Inhalt dar, einen Gedanken, mag er auch oft genug
unbedeutend und undichterisch sein, doch immerhin einen Gedanken, bei dem
man sich etwas muß denken können. Und so strafen diese Arbeiten die
Theorien ihrer eignen Urheber Lügen, was namentlich bei Begas selbst der
Fall ist.

Wenn aber auch die sinnliche Richtung einer breiten Strömung in den
Massen entspricht, wie damals die klassische der geistigen Strömung in den
höher gebildeten Kreisen, so ist der Unterschied doch eben der. daß damals die
Edelsten und Besten bestimmend waren, heute die breite und träge Masse be¬
stimmend ist. Damals strebte man aufwärts zum Ewigen, zum "Strahlensitz
der höchsten Schöne," heute geht man auf sinnliche Augenweide unter Ver¬
werfung von Gedanken und Geist aus. Aber mir der Geist macht lebendig.
So treibt denn die sinnliche Richtung der heutigen Kunst munter abwärts


Zur Würdigung der gegenwärtigen Uunstbestrebungen

jetzt sind die Jungen in der Mode. Ihre Arbeiten finden in überraschend
großer Zahl zu guten Preisen schnell ihre Liebhaber; sie müssen also als Aus¬
druck einer breiten Strömling im geistigen Leben der Gegenwart gewürdigt
werden.

Die Kunsterzeugnisse spiegeln ihre Zeiten wieder. Wie damals jene klas¬
sische Richtung dem Geiste ihrer Zeit genau entsprach, so jetzt — nun, wie
soll man denn die neumodische Richtung nennen? — so entspricht jetzt die
sinnliche Richtung der Gegenwart. Die große Masse der Menschheit ist jetzt nicht
darnach angethan, den Werken der Dichtung und Kunst gegenüber in ernster
Weise mit dem eignen Geiste auch nur etwas selbstthätig zu sein. Wo sie sich
nur im geringsten mühen soll, da verzichtet sie sofort und bricht höhnisch den
Stab. Nur leichte Ware! Augen-, Ohren- und Sinnenkitzel, mehr nicht. Das
ist aber genau das, worauf die Jungen abzielen. Nur sinnlich sehen, nur
mit dem Auge genießen, nur kein Geist, kein Gedanke! Es müßte ein artiges
Gemälde abgeben, Herrn Begas zu sehen — nicht in seiner Werkstatt, wie
man ihn aus der letzten Berliner Ausstellung bewundern konnte — nein! im
Tempel der Kunst, angethan mit dem Kleide des Oberpriesters und umgeben
von den Priestern des jungen und allerjüngsten Heils, wie er unter Beihilfe
der ganzen Sippe dem armen Schmetterling, der Psyche, die Flügel aus-
reißt und zerreißt, wie er die Stücke und Fetzen schündet und zertritt. Dazu
ruft er Wehe und abermals Wehe über die arme Gemordete, und der Chor
stimmt einen Lobgesang an auf das Fleisch und des Fleisches Lust. Man
konnte das anmutige Bild „die Tötung der Seele" oder „die Ermordung der
Psyche" oder „die Verfluchung des Gedankens" nennen. Die Liebhaber würden
sich darum reißen und prügeln. Der Maler würde ein Krösus oder ein Roth¬
schild werden. Aber welche Ironie! Hätte das Bild denn nicht selbst einen
Gedanken? Natürlich. Aber diesen Fehler haben ja leider noch viele Arbeiten
der Jungen, denn sie geben ja nicht bloß „Kehrichthaufen," sondern stellen
doch meist einen gewissen Inhalt dar, einen Gedanken, mag er auch oft genug
unbedeutend und undichterisch sein, doch immerhin einen Gedanken, bei dem
man sich etwas muß denken können. Und so strafen diese Arbeiten die
Theorien ihrer eignen Urheber Lügen, was namentlich bei Begas selbst der
Fall ist.

Wenn aber auch die sinnliche Richtung einer breiten Strömung in den
Massen entspricht, wie damals die klassische der geistigen Strömung in den
höher gebildeten Kreisen, so ist der Unterschied doch eben der. daß damals die
Edelsten und Besten bestimmend waren, heute die breite und träge Masse be¬
stimmend ist. Damals strebte man aufwärts zum Ewigen, zum „Strahlensitz
der höchsten Schöne," heute geht man auf sinnliche Augenweide unter Ver¬
werfung von Gedanken und Geist aus. Aber mir der Geist macht lebendig.
So treibt denn die sinnliche Richtung der heutigen Kunst munter abwärts


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[0133] Zur Würdigung der gegenwärtigen Uunstbestrebungen jetzt sind die Jungen in der Mode. Ihre Arbeiten finden in überraschend großer Zahl zu guten Preisen schnell ihre Liebhaber; sie müssen also als Aus¬ druck einer breiten Strömling im geistigen Leben der Gegenwart gewürdigt werden. Die Kunsterzeugnisse spiegeln ihre Zeiten wieder. Wie damals jene klas¬ sische Richtung dem Geiste ihrer Zeit genau entsprach, so jetzt — nun, wie soll man denn die neumodische Richtung nennen? — so entspricht jetzt die sinnliche Richtung der Gegenwart. Die große Masse der Menschheit ist jetzt nicht darnach angethan, den Werken der Dichtung und Kunst gegenüber in ernster Weise mit dem eignen Geiste auch nur etwas selbstthätig zu sein. Wo sie sich nur im geringsten mühen soll, da verzichtet sie sofort und bricht höhnisch den Stab. Nur leichte Ware! Augen-, Ohren- und Sinnenkitzel, mehr nicht. Das ist aber genau das, worauf die Jungen abzielen. Nur sinnlich sehen, nur mit dem Auge genießen, nur kein Geist, kein Gedanke! Es müßte ein artiges Gemälde abgeben, Herrn Begas zu sehen — nicht in seiner Werkstatt, wie man ihn aus der letzten Berliner Ausstellung bewundern konnte — nein! im Tempel der Kunst, angethan mit dem Kleide des Oberpriesters und umgeben von den Priestern des jungen und allerjüngsten Heils, wie er unter Beihilfe der ganzen Sippe dem armen Schmetterling, der Psyche, die Flügel aus- reißt und zerreißt, wie er die Stücke und Fetzen schündet und zertritt. Dazu ruft er Wehe und abermals Wehe über die arme Gemordete, und der Chor stimmt einen Lobgesang an auf das Fleisch und des Fleisches Lust. Man konnte das anmutige Bild „die Tötung der Seele" oder „die Ermordung der Psyche" oder „die Verfluchung des Gedankens" nennen. Die Liebhaber würden sich darum reißen und prügeln. Der Maler würde ein Krösus oder ein Roth¬ schild werden. Aber welche Ironie! Hätte das Bild denn nicht selbst einen Gedanken? Natürlich. Aber diesen Fehler haben ja leider noch viele Arbeiten der Jungen, denn sie geben ja nicht bloß „Kehrichthaufen," sondern stellen doch meist einen gewissen Inhalt dar, einen Gedanken, mag er auch oft genug unbedeutend und undichterisch sein, doch immerhin einen Gedanken, bei dem man sich etwas muß denken können. Und so strafen diese Arbeiten die Theorien ihrer eignen Urheber Lügen, was namentlich bei Begas selbst der Fall ist. Wenn aber auch die sinnliche Richtung einer breiten Strömung in den Massen entspricht, wie damals die klassische der geistigen Strömung in den höher gebildeten Kreisen, so ist der Unterschied doch eben der. daß damals die Edelsten und Besten bestimmend waren, heute die breite und träge Masse be¬ stimmend ist. Damals strebte man aufwärts zum Ewigen, zum „Strahlensitz der höchsten Schöne," heute geht man auf sinnliche Augenweide unter Ver¬ werfung von Gedanken und Geist aus. Aber mir der Geist macht lebendig. So treibt denn die sinnliche Richtung der heutigen Kunst munter abwärts

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/133>, abgerufen am 22.07.2024.