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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

sind. Von großer Wichtigkeit würde auch die Unempfindlichkeit vieler Ver¬
brecher gegen körperliche Schmerzen sein, wenn der Zusammenhang dieser Eigen¬
schaft mit ihrer Entwicklung erforscht wäre. Es ließe sich zweierlei denken:
daß die häufige Zufügung von Verwundungen und Mißhandlungen, wie sie
im Proletarierleben vorkommen, die Erregungsfähigkeit der Empfindungsnerven
erschöpfte, und daß angeborne körperliche Empfindungslosigkeit die seelische zur
Folge hätte, also den gebornen Verbrecher ausmache, wenigstens den einer
bestimmten Art. Es ist klar, daß ein Mensch, der selbst nicht weiß, was
Schmerzen sind, kein Mitgefühl für die Schmerzen andrer haben kann, daß
ihm also eine der wichtigsten Wurzeln der Sittlichkeit fehlt. Die sogenannte
Grausamkeit der Kiuder ist meistens keine, sondern nnr Lust an der Kraft¬
bethätigung und am Experimentiren. Daß es dem mißhandelten Tiere, dessen
Zappeln dem kleinen Jungen Spaß macht, wehthut, davon hat er keinen
Begriff. Wenn man dem Bürschchen an seinem eignen Leibe zeigt, wies thut,
nicht zur Strafe, sondern nur zur Belehrung, so wird das in den meisten
Füllen genügen, ihm das abzugewöhnen. Empfände ein Kind, das geschlagen,
gerauft, gebrannt oder gestochen wird, keinen Schmerz, so wäre diese Art der
Belehrung erfolglos, und das unglückliche Wesen würde wahrscheinlich ein
geborner Verbrecher sein. Thöricht aber ist eS, wenn von manchen Anthropo¬
logen die Empfindlichkeit der innern Handfläche bei Prostituirten, die im übrigen
den Verbrechertypus in höherm Grade zeigen sollen als die Verbrecherinnen,
zu den Anomalien gezählt wird. Ellis sagt allerdings selbst, das komme einfach
daher, daß die Prostituirten nicht arbeiten; die Bäuerinnen, die grobe und
schwere Arbeiten verrichteten, hätten sehr unempfindliche Hände. Das sollten
wir meinen! Wir kennen Kleinbänerinnen, die ihre Hände ohne Beschwerden
als Nadelkissen verwenden könnten; aber solche selbstverständliche Dinge braucht
mau in die wissenschaftliche Erörterung doch gar nicht auzufnehmen.

Erwähnen wir noch ein paar Forschungsergebnisse, denen der Verfasser
eine kurze Bemerkung hätte beifügen sollen, um der Verwirrung vorzubeugen,
die sie leicht anrichten können. Wenn Unfähigkeit zu anhaltender Arbeit als
ein Bestandteil des Verbrechertypus und dann eine nordamerikanische Ver-
brecherfmnilie, die in fünf Generationen 1200 Köpfe auszuweisen hatte, als
Beispiel der Vererbung dieser Eigenschaft angeführt wird, fo müßte ausdrücklich
hervorgehoben werden, daß dabei nicht an den physiologischen Begriff der
Vererbung zu denken ist. Der Stammvater dieser Familie, ein holländischer
Hinterwäldler, führte ein wildes Jägerleben nach Jndianerart, und seine Sprö߬
linge suchten das fortzusetzen; da gerieten sie denn natürlich in immer stärkere
Konflikte mit der sie immer enger einschließenden Zivilisation. Der Versuch,
inmitten einer spätern Zivilisation die Lebensart einer frühern fortzusetzen,
führt nicht allein zu Verbrechen, sondern läßt auch, wie Ellis ganz richtig
bemerkt, solche sonderbare Wildengebräuche wie das Tätvwiren wieder auf-


Grenzboteu 1 1895 1?.
Natur und Behandlung des Verbrechers

sind. Von großer Wichtigkeit würde auch die Unempfindlichkeit vieler Ver¬
brecher gegen körperliche Schmerzen sein, wenn der Zusammenhang dieser Eigen¬
schaft mit ihrer Entwicklung erforscht wäre. Es ließe sich zweierlei denken:
daß die häufige Zufügung von Verwundungen und Mißhandlungen, wie sie
im Proletarierleben vorkommen, die Erregungsfähigkeit der Empfindungsnerven
erschöpfte, und daß angeborne körperliche Empfindungslosigkeit die seelische zur
Folge hätte, also den gebornen Verbrecher ausmache, wenigstens den einer
bestimmten Art. Es ist klar, daß ein Mensch, der selbst nicht weiß, was
Schmerzen sind, kein Mitgefühl für die Schmerzen andrer haben kann, daß
ihm also eine der wichtigsten Wurzeln der Sittlichkeit fehlt. Die sogenannte
Grausamkeit der Kiuder ist meistens keine, sondern nnr Lust an der Kraft¬
bethätigung und am Experimentiren. Daß es dem mißhandelten Tiere, dessen
Zappeln dem kleinen Jungen Spaß macht, wehthut, davon hat er keinen
Begriff. Wenn man dem Bürschchen an seinem eignen Leibe zeigt, wies thut,
nicht zur Strafe, sondern nur zur Belehrung, so wird das in den meisten
Füllen genügen, ihm das abzugewöhnen. Empfände ein Kind, das geschlagen,
gerauft, gebrannt oder gestochen wird, keinen Schmerz, so wäre diese Art der
Belehrung erfolglos, und das unglückliche Wesen würde wahrscheinlich ein
geborner Verbrecher sein. Thöricht aber ist eS, wenn von manchen Anthropo¬
logen die Empfindlichkeit der innern Handfläche bei Prostituirten, die im übrigen
den Verbrechertypus in höherm Grade zeigen sollen als die Verbrecherinnen,
zu den Anomalien gezählt wird. Ellis sagt allerdings selbst, das komme einfach
daher, daß die Prostituirten nicht arbeiten; die Bäuerinnen, die grobe und
schwere Arbeiten verrichteten, hätten sehr unempfindliche Hände. Das sollten
wir meinen! Wir kennen Kleinbänerinnen, die ihre Hände ohne Beschwerden
als Nadelkissen verwenden könnten; aber solche selbstverständliche Dinge braucht
mau in die wissenschaftliche Erörterung doch gar nicht auzufnehmen.

Erwähnen wir noch ein paar Forschungsergebnisse, denen der Verfasser
eine kurze Bemerkung hätte beifügen sollen, um der Verwirrung vorzubeugen,
die sie leicht anrichten können. Wenn Unfähigkeit zu anhaltender Arbeit als
ein Bestandteil des Verbrechertypus und dann eine nordamerikanische Ver-
brecherfmnilie, die in fünf Generationen 1200 Köpfe auszuweisen hatte, als
Beispiel der Vererbung dieser Eigenschaft angeführt wird, fo müßte ausdrücklich
hervorgehoben werden, daß dabei nicht an den physiologischen Begriff der
Vererbung zu denken ist. Der Stammvater dieser Familie, ein holländischer
Hinterwäldler, führte ein wildes Jägerleben nach Jndianerart, und seine Sprö߬
linge suchten das fortzusetzen; da gerieten sie denn natürlich in immer stärkere
Konflikte mit der sie immer enger einschließenden Zivilisation. Der Versuch,
inmitten einer spätern Zivilisation die Lebensart einer frühern fortzusetzen,
führt nicht allein zu Verbrechen, sondern läßt auch, wie Ellis ganz richtig
bemerkt, solche sonderbare Wildengebräuche wie das Tätvwiren wieder auf-


Grenzboteu 1 1895 1?.
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[0121] Natur und Behandlung des Verbrechers sind. Von großer Wichtigkeit würde auch die Unempfindlichkeit vieler Ver¬ brecher gegen körperliche Schmerzen sein, wenn der Zusammenhang dieser Eigen¬ schaft mit ihrer Entwicklung erforscht wäre. Es ließe sich zweierlei denken: daß die häufige Zufügung von Verwundungen und Mißhandlungen, wie sie im Proletarierleben vorkommen, die Erregungsfähigkeit der Empfindungsnerven erschöpfte, und daß angeborne körperliche Empfindungslosigkeit die seelische zur Folge hätte, also den gebornen Verbrecher ausmache, wenigstens den einer bestimmten Art. Es ist klar, daß ein Mensch, der selbst nicht weiß, was Schmerzen sind, kein Mitgefühl für die Schmerzen andrer haben kann, daß ihm also eine der wichtigsten Wurzeln der Sittlichkeit fehlt. Die sogenannte Grausamkeit der Kiuder ist meistens keine, sondern nnr Lust an der Kraft¬ bethätigung und am Experimentiren. Daß es dem mißhandelten Tiere, dessen Zappeln dem kleinen Jungen Spaß macht, wehthut, davon hat er keinen Begriff. Wenn man dem Bürschchen an seinem eignen Leibe zeigt, wies thut, nicht zur Strafe, sondern nur zur Belehrung, so wird das in den meisten Füllen genügen, ihm das abzugewöhnen. Empfände ein Kind, das geschlagen, gerauft, gebrannt oder gestochen wird, keinen Schmerz, so wäre diese Art der Belehrung erfolglos, und das unglückliche Wesen würde wahrscheinlich ein geborner Verbrecher sein. Thöricht aber ist eS, wenn von manchen Anthropo¬ logen die Empfindlichkeit der innern Handfläche bei Prostituirten, die im übrigen den Verbrechertypus in höherm Grade zeigen sollen als die Verbrecherinnen, zu den Anomalien gezählt wird. Ellis sagt allerdings selbst, das komme einfach daher, daß die Prostituirten nicht arbeiten; die Bäuerinnen, die grobe und schwere Arbeiten verrichteten, hätten sehr unempfindliche Hände. Das sollten wir meinen! Wir kennen Kleinbänerinnen, die ihre Hände ohne Beschwerden als Nadelkissen verwenden könnten; aber solche selbstverständliche Dinge braucht mau in die wissenschaftliche Erörterung doch gar nicht auzufnehmen. Erwähnen wir noch ein paar Forschungsergebnisse, denen der Verfasser eine kurze Bemerkung hätte beifügen sollen, um der Verwirrung vorzubeugen, die sie leicht anrichten können. Wenn Unfähigkeit zu anhaltender Arbeit als ein Bestandteil des Verbrechertypus und dann eine nordamerikanische Ver- brecherfmnilie, die in fünf Generationen 1200 Köpfe auszuweisen hatte, als Beispiel der Vererbung dieser Eigenschaft angeführt wird, fo müßte ausdrücklich hervorgehoben werden, daß dabei nicht an den physiologischen Begriff der Vererbung zu denken ist. Der Stammvater dieser Familie, ein holländischer Hinterwäldler, führte ein wildes Jägerleben nach Jndianerart, und seine Sprö߬ linge suchten das fortzusetzen; da gerieten sie denn natürlich in immer stärkere Konflikte mit der sie immer enger einschließenden Zivilisation. Der Versuch, inmitten einer spätern Zivilisation die Lebensart einer frühern fortzusetzen, führt nicht allein zu Verbrechen, sondern läßt auch, wie Ellis ganz richtig bemerkt, solche sonderbare Wildengebräuche wie das Tätvwiren wieder auf- Grenzboteu 1 1895 1?.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/121>, abgerufen am 23.07.2024.