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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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zuverlässigsten Anhalt für Urteile gewährt immer noch die Physiognomie, aber
wie alle Welt weiß, keinen unbedingt zuverlässigen. Ellis selbst führt Fülle
an, wo verschiedne Beobachter, ja ein und derselbe Beobachter an zwei ver-
schiednen, aber einander naheliegenden Tagen von demselben Verbrecher ganz
verschiedne Bilder entworfen haben. Zudem ist es beinahe unmöglich, mit
wissenschaftlicher Genauigkeit anzugeben, worin das abschreckende oder an¬
ziehende eines Gesichts besteht. Der anatomische Bau, die Bekleidung mit
Muskelfleisch und die Hautfarbe machen ein Gesicht wohl leiblich schön oder
häßlich, aber die seelische Schönheit und Häßlichkeit, die bald den Eindruck
der leiblichen Erscheinung verstärkt, bald damit in Widerspruch steht, ist etwas
andres. Die Runzeln und Falten macheu es auch nicht; das Gesicht des
schwer arbeitenden Bauern ist runzlig, das des wohlhabenden Phlegmatikers
voll und glatt; schwere Arbeit unter Entbehrungen macht die Gesichter dreißig¬
jähriger Frauen häßlich, manche Dirne bleibt bis zum funfzigsten Jahre schön.
Auch der scheue Blick und "das Benehmen des gepeitschten Hundes" sind kein
sichres Merkmal eines schlechten Charakters. Selbstverständlich zeigen sehr viele
Verbrecher diese Eigentümlichkeit, aber nicht deshalb, weil sie Verbrecher sind,
sondern deshalb, weil sie Grund haben, sich zu fürchten. Wenn man solches Be¬
nehmen, samt verkümmerten und verzwickten Gesichtern, an Kindern sieht, so weiß
man aus der Stelle -- uicht, daß sie geborne Verbrecher sind, fondern, daß sie zu
Hause mißhandelt werden. Das Tier wie das Kind kennt solange keine Scheu,
als ihm nichts schlimmes widerfahren ist; Tiere in Einöden, wohin der Mensch
noch nicht gedrungen ist, nahen sich dein ersten menschlichen Besucher neugierig
und zutraulich oder frech. Erst wenn sie ihn kennen gelernt haben, laufen
und fliegen sie fort vor ihm. Der Bernhardiner, die Dogge können leicht
einen edeln Charakter zeigen, werden sie doch stets anständig behandelt und
nie gepeitscht. Vor hundert Jahren waren auch die Wanderburschen nicht
scheu. Aufrechten Hauptes und fröhlich singend zogen sie Arm in Arm ihre
Straße. Heutiges Tags wird ein junger Mensch, der Arbeit sucht, oft so
angeschnauzt und mit solchem Argwohn behandelt, daß er schon nach einem
halben Jahre das Benehmen des gepeitschten Hundes zeigt.

Soviel dürfen wir den Anthropologen ohne weiteres glauben, daß bei
den Verbrechern die Abweichungen vom akademischen Schönheitsthpns ver-
hältnisinüßig häusiger sein werden, als beim Durchschnitt der übrigen Menschen,
weil sie ja größtenteils aus ungünstigen Lagen hervorgehen, und weil ein mit
körperlichen Fehlern behafteter Mensch schwerer sein Fortkommen findet als
ein vollkommen gesunder. Schönheit ist ja nur die Form der vollkommnen
Gesundheit; das Verbrecherleben verschlechtert dann natürlich das Aussehen
noch mehr. Von Wichtigkeit ist der Umstand, daß ein sehr großer Teil der
Verbrecher engbrüstig und schwindsüchtig gefunden wird: zu Verbrechern werden
eben meistens Leute, die für deu Kampf ums Dasein unvollständig ausgerüstet


zuverlässigsten Anhalt für Urteile gewährt immer noch die Physiognomie, aber
wie alle Welt weiß, keinen unbedingt zuverlässigen. Ellis selbst führt Fülle
an, wo verschiedne Beobachter, ja ein und derselbe Beobachter an zwei ver-
schiednen, aber einander naheliegenden Tagen von demselben Verbrecher ganz
verschiedne Bilder entworfen haben. Zudem ist es beinahe unmöglich, mit
wissenschaftlicher Genauigkeit anzugeben, worin das abschreckende oder an¬
ziehende eines Gesichts besteht. Der anatomische Bau, die Bekleidung mit
Muskelfleisch und die Hautfarbe machen ein Gesicht wohl leiblich schön oder
häßlich, aber die seelische Schönheit und Häßlichkeit, die bald den Eindruck
der leiblichen Erscheinung verstärkt, bald damit in Widerspruch steht, ist etwas
andres. Die Runzeln und Falten macheu es auch nicht; das Gesicht des
schwer arbeitenden Bauern ist runzlig, das des wohlhabenden Phlegmatikers
voll und glatt; schwere Arbeit unter Entbehrungen macht die Gesichter dreißig¬
jähriger Frauen häßlich, manche Dirne bleibt bis zum funfzigsten Jahre schön.
Auch der scheue Blick und „das Benehmen des gepeitschten Hundes" sind kein
sichres Merkmal eines schlechten Charakters. Selbstverständlich zeigen sehr viele
Verbrecher diese Eigentümlichkeit, aber nicht deshalb, weil sie Verbrecher sind,
sondern deshalb, weil sie Grund haben, sich zu fürchten. Wenn man solches Be¬
nehmen, samt verkümmerten und verzwickten Gesichtern, an Kindern sieht, so weiß
man aus der Stelle — uicht, daß sie geborne Verbrecher sind, fondern, daß sie zu
Hause mißhandelt werden. Das Tier wie das Kind kennt solange keine Scheu,
als ihm nichts schlimmes widerfahren ist; Tiere in Einöden, wohin der Mensch
noch nicht gedrungen ist, nahen sich dein ersten menschlichen Besucher neugierig
und zutraulich oder frech. Erst wenn sie ihn kennen gelernt haben, laufen
und fliegen sie fort vor ihm. Der Bernhardiner, die Dogge können leicht
einen edeln Charakter zeigen, werden sie doch stets anständig behandelt und
nie gepeitscht. Vor hundert Jahren waren auch die Wanderburschen nicht
scheu. Aufrechten Hauptes und fröhlich singend zogen sie Arm in Arm ihre
Straße. Heutiges Tags wird ein junger Mensch, der Arbeit sucht, oft so
angeschnauzt und mit solchem Argwohn behandelt, daß er schon nach einem
halben Jahre das Benehmen des gepeitschten Hundes zeigt.

Soviel dürfen wir den Anthropologen ohne weiteres glauben, daß bei
den Verbrechern die Abweichungen vom akademischen Schönheitsthpns ver-
hältnisinüßig häusiger sein werden, als beim Durchschnitt der übrigen Menschen,
weil sie ja größtenteils aus ungünstigen Lagen hervorgehen, und weil ein mit
körperlichen Fehlern behafteter Mensch schwerer sein Fortkommen findet als
ein vollkommen gesunder. Schönheit ist ja nur die Form der vollkommnen
Gesundheit; das Verbrecherleben verschlechtert dann natürlich das Aussehen
noch mehr. Von Wichtigkeit ist der Umstand, daß ein sehr großer Teil der
Verbrecher engbrüstig und schwindsüchtig gefunden wird: zu Verbrechern werden
eben meistens Leute, die für deu Kampf ums Dasein unvollständig ausgerüstet


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[0120] zuverlässigsten Anhalt für Urteile gewährt immer noch die Physiognomie, aber wie alle Welt weiß, keinen unbedingt zuverlässigen. Ellis selbst führt Fülle an, wo verschiedne Beobachter, ja ein und derselbe Beobachter an zwei ver- schiednen, aber einander naheliegenden Tagen von demselben Verbrecher ganz verschiedne Bilder entworfen haben. Zudem ist es beinahe unmöglich, mit wissenschaftlicher Genauigkeit anzugeben, worin das abschreckende oder an¬ ziehende eines Gesichts besteht. Der anatomische Bau, die Bekleidung mit Muskelfleisch und die Hautfarbe machen ein Gesicht wohl leiblich schön oder häßlich, aber die seelische Schönheit und Häßlichkeit, die bald den Eindruck der leiblichen Erscheinung verstärkt, bald damit in Widerspruch steht, ist etwas andres. Die Runzeln und Falten macheu es auch nicht; das Gesicht des schwer arbeitenden Bauern ist runzlig, das des wohlhabenden Phlegmatikers voll und glatt; schwere Arbeit unter Entbehrungen macht die Gesichter dreißig¬ jähriger Frauen häßlich, manche Dirne bleibt bis zum funfzigsten Jahre schön. Auch der scheue Blick und „das Benehmen des gepeitschten Hundes" sind kein sichres Merkmal eines schlechten Charakters. Selbstverständlich zeigen sehr viele Verbrecher diese Eigentümlichkeit, aber nicht deshalb, weil sie Verbrecher sind, sondern deshalb, weil sie Grund haben, sich zu fürchten. Wenn man solches Be¬ nehmen, samt verkümmerten und verzwickten Gesichtern, an Kindern sieht, so weiß man aus der Stelle — uicht, daß sie geborne Verbrecher sind, fondern, daß sie zu Hause mißhandelt werden. Das Tier wie das Kind kennt solange keine Scheu, als ihm nichts schlimmes widerfahren ist; Tiere in Einöden, wohin der Mensch noch nicht gedrungen ist, nahen sich dein ersten menschlichen Besucher neugierig und zutraulich oder frech. Erst wenn sie ihn kennen gelernt haben, laufen und fliegen sie fort vor ihm. Der Bernhardiner, die Dogge können leicht einen edeln Charakter zeigen, werden sie doch stets anständig behandelt und nie gepeitscht. Vor hundert Jahren waren auch die Wanderburschen nicht scheu. Aufrechten Hauptes und fröhlich singend zogen sie Arm in Arm ihre Straße. Heutiges Tags wird ein junger Mensch, der Arbeit sucht, oft so angeschnauzt und mit solchem Argwohn behandelt, daß er schon nach einem halben Jahre das Benehmen des gepeitschten Hundes zeigt. Soviel dürfen wir den Anthropologen ohne weiteres glauben, daß bei den Verbrechern die Abweichungen vom akademischen Schönheitsthpns ver- hältnisinüßig häusiger sein werden, als beim Durchschnitt der übrigen Menschen, weil sie ja größtenteils aus ungünstigen Lagen hervorgehen, und weil ein mit körperlichen Fehlern behafteter Mensch schwerer sein Fortkommen findet als ein vollkommen gesunder. Schönheit ist ja nur die Form der vollkommnen Gesundheit; das Verbrecherleben verschlechtert dann natürlich das Aussehen noch mehr. Von Wichtigkeit ist der Umstand, daß ein sehr großer Teil der Verbrecher engbrüstig und schwindsüchtig gefunden wird: zu Verbrechern werden eben meistens Leute, die für deu Kampf ums Dasein unvollständig ausgerüstet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/120>, abgerufen am 25.08.2024.