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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Natur und Behandlung des Verbrechers

ungeduldig, sie nimmt das Täschchen einstweilen in die Hand; endlich, da sie
gar nicht drankommt, steckt sie das Ding ein und geht fort, ohne zu bezahlen.
Von diesem Augenblick an, sagt ein Pariser Polizeibeamter, ist sie verloren;
sie wird weiterstehlen, aber von jetzt ab bewußt und mit Absicht. Es würde
sich also empfehlen, diese Klasse in zwei Unterklassen zu teilen. 7. Die Be¬
rufsverbrecher. Sie bilden die tiefste oder wenn man will höchste Stufe der
Gewohnheitsverbrecher. "Der Berufsverbrecher ist, wenn auch nicht ein mo¬
dernes Entwicklnngsprodnkt, doch den modernen fLebensjBedingnngen an¬
gepaßt; er stellt in intellektueller und anthropologischer Beziehung die krimi¬
nelle Aristokratie dar/') Er hat mit freiem Entschluß eine ganz bestimmte
Methode, seinen Unterhalt zu erwerben, gewählt, eine Methode, die große
Geschicklichkeit erfordert und große Gefahren birgt, aber auch reichen Lohn
verspricht." Eine Klasse hat Ellis übersehen, die zwischen der zweiten und
der vierten steht: Menschen, die nicht durch einen Ausbruch der Leidenschaft,
sondern, wie Macbeth, durch eine sie zeitlebens beherrschende Leidenschaft zu
Verbrechern werden, deren sittliche Krankheit also in einer angebornen oder
anerzognen Disharmonie der Triebe besteht.

Leider hat Ellis in seinem übrigens vortrefflichen, an interessantem Ma¬
terial wie an gesunden Urteilen reichem Buche den Fehler begangen, seine
richtige Einteilung nicht durchweg festzuhalten. Seite 220 sagt er selbst, die
bis dahin angeführten Thatsachen und Forschungsergebnisse stünden teilweise
im Widerspruch mit einander, das lasse sich jedoch "gewöhnlich auf die spe¬
ziellen Charaktere der Gruppen zurückführen, zu denen die einzelnen Individuen
gehören," z. V. wenn das einemal tierischer Stumpfsinn, ein andermal hohe
Intelligenz als Merkmal des Verbrechercharakters erscheint. Diese mir schein¬
baren Widersprüche, die bei weniger scharfsinnigen Lesern Verwirrung anrichten
können, würden gar nicht erst hervorgetreten sein, wenn Ellis nicht bloß
einigemal, wie er thut, sondern ausnahmslos die Verbrecherklasse bezeichnet
hätte, der die einander widersprechenden Merkmale angehören. Allerdings
hinderte ihn schon seine Einteilung, in dieser Beziehung genau zu sein. Der
erste vorzugsweise pathologische Teil des Buches nämlich enthält fünf Kapitel,
die überschrieben sind: 1. Einleitung. 2. Der Verbrecher als Objekt der For¬
schung (ein Abriß der Geschichte der Physiognomik, der Schädellehre und der
modernen 5i!riminalanthropvlvgie.) 3. Physische, 4. psychische Merkmale. 5. Die
Resultate der Kriminalanthropologie. Jener Entstehungsursache der Verbrechen
also, die auch nach Ellis die wichtigste ist, dem sozialen Zustande, wird gar
kein besondrer Abschnitt gewidmet, sondern es wird nur gelegentlich öfter



Wieder eine Sprachdummhcit! Es soll heißen: der Verbrccheraristvkratie; kriminelle
Aristokratie konnte man die französische Aristokratie des ooriaen Jahrhunderts nennen, oder
auch die Gesamtheit der verbrecherischen Mitglieder der Aristokratien aller Länder und Zeiten.
Natur und Behandlung des Verbrechers

ungeduldig, sie nimmt das Täschchen einstweilen in die Hand; endlich, da sie
gar nicht drankommt, steckt sie das Ding ein und geht fort, ohne zu bezahlen.
Von diesem Augenblick an, sagt ein Pariser Polizeibeamter, ist sie verloren;
sie wird weiterstehlen, aber von jetzt ab bewußt und mit Absicht. Es würde
sich also empfehlen, diese Klasse in zwei Unterklassen zu teilen. 7. Die Be¬
rufsverbrecher. Sie bilden die tiefste oder wenn man will höchste Stufe der
Gewohnheitsverbrecher. „Der Berufsverbrecher ist, wenn auch nicht ein mo¬
dernes Entwicklnngsprodnkt, doch den modernen fLebensjBedingnngen an¬
gepaßt; er stellt in intellektueller und anthropologischer Beziehung die krimi¬
nelle Aristokratie dar/') Er hat mit freiem Entschluß eine ganz bestimmte
Methode, seinen Unterhalt zu erwerben, gewählt, eine Methode, die große
Geschicklichkeit erfordert und große Gefahren birgt, aber auch reichen Lohn
verspricht." Eine Klasse hat Ellis übersehen, die zwischen der zweiten und
der vierten steht: Menschen, die nicht durch einen Ausbruch der Leidenschaft,
sondern, wie Macbeth, durch eine sie zeitlebens beherrschende Leidenschaft zu
Verbrechern werden, deren sittliche Krankheit also in einer angebornen oder
anerzognen Disharmonie der Triebe besteht.

Leider hat Ellis in seinem übrigens vortrefflichen, an interessantem Ma¬
terial wie an gesunden Urteilen reichem Buche den Fehler begangen, seine
richtige Einteilung nicht durchweg festzuhalten. Seite 220 sagt er selbst, die
bis dahin angeführten Thatsachen und Forschungsergebnisse stünden teilweise
im Widerspruch mit einander, das lasse sich jedoch „gewöhnlich auf die spe¬
ziellen Charaktere der Gruppen zurückführen, zu denen die einzelnen Individuen
gehören," z. V. wenn das einemal tierischer Stumpfsinn, ein andermal hohe
Intelligenz als Merkmal des Verbrechercharakters erscheint. Diese mir schein¬
baren Widersprüche, die bei weniger scharfsinnigen Lesern Verwirrung anrichten
können, würden gar nicht erst hervorgetreten sein, wenn Ellis nicht bloß
einigemal, wie er thut, sondern ausnahmslos die Verbrecherklasse bezeichnet
hätte, der die einander widersprechenden Merkmale angehören. Allerdings
hinderte ihn schon seine Einteilung, in dieser Beziehung genau zu sein. Der
erste vorzugsweise pathologische Teil des Buches nämlich enthält fünf Kapitel,
die überschrieben sind: 1. Einleitung. 2. Der Verbrecher als Objekt der For¬
schung (ein Abriß der Geschichte der Physiognomik, der Schädellehre und der
modernen 5i!riminalanthropvlvgie.) 3. Physische, 4. psychische Merkmale. 5. Die
Resultate der Kriminalanthropologie. Jener Entstehungsursache der Verbrechen
also, die auch nach Ellis die wichtigste ist, dem sozialen Zustande, wird gar
kein besondrer Abschnitt gewidmet, sondern es wird nur gelegentlich öfter



Wieder eine Sprachdummhcit! Es soll heißen: der Verbrccheraristvkratie; kriminelle
Aristokratie konnte man die französische Aristokratie des ooriaen Jahrhunderts nennen, oder
auch die Gesamtheit der verbrecherischen Mitglieder der Aristokratien aller Länder und Zeiten.
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[0118] Natur und Behandlung des Verbrechers ungeduldig, sie nimmt das Täschchen einstweilen in die Hand; endlich, da sie gar nicht drankommt, steckt sie das Ding ein und geht fort, ohne zu bezahlen. Von diesem Augenblick an, sagt ein Pariser Polizeibeamter, ist sie verloren; sie wird weiterstehlen, aber von jetzt ab bewußt und mit Absicht. Es würde sich also empfehlen, diese Klasse in zwei Unterklassen zu teilen. 7. Die Be¬ rufsverbrecher. Sie bilden die tiefste oder wenn man will höchste Stufe der Gewohnheitsverbrecher. „Der Berufsverbrecher ist, wenn auch nicht ein mo¬ dernes Entwicklnngsprodnkt, doch den modernen fLebensjBedingnngen an¬ gepaßt; er stellt in intellektueller und anthropologischer Beziehung die krimi¬ nelle Aristokratie dar/') Er hat mit freiem Entschluß eine ganz bestimmte Methode, seinen Unterhalt zu erwerben, gewählt, eine Methode, die große Geschicklichkeit erfordert und große Gefahren birgt, aber auch reichen Lohn verspricht." Eine Klasse hat Ellis übersehen, die zwischen der zweiten und der vierten steht: Menschen, die nicht durch einen Ausbruch der Leidenschaft, sondern, wie Macbeth, durch eine sie zeitlebens beherrschende Leidenschaft zu Verbrechern werden, deren sittliche Krankheit also in einer angebornen oder anerzognen Disharmonie der Triebe besteht. Leider hat Ellis in seinem übrigens vortrefflichen, an interessantem Ma¬ terial wie an gesunden Urteilen reichem Buche den Fehler begangen, seine richtige Einteilung nicht durchweg festzuhalten. Seite 220 sagt er selbst, die bis dahin angeführten Thatsachen und Forschungsergebnisse stünden teilweise im Widerspruch mit einander, das lasse sich jedoch „gewöhnlich auf die spe¬ ziellen Charaktere der Gruppen zurückführen, zu denen die einzelnen Individuen gehören," z. V. wenn das einemal tierischer Stumpfsinn, ein andermal hohe Intelligenz als Merkmal des Verbrechercharakters erscheint. Diese mir schein¬ baren Widersprüche, die bei weniger scharfsinnigen Lesern Verwirrung anrichten können, würden gar nicht erst hervorgetreten sein, wenn Ellis nicht bloß einigemal, wie er thut, sondern ausnahmslos die Verbrecherklasse bezeichnet hätte, der die einander widersprechenden Merkmale angehören. Allerdings hinderte ihn schon seine Einteilung, in dieser Beziehung genau zu sein. Der erste vorzugsweise pathologische Teil des Buches nämlich enthält fünf Kapitel, die überschrieben sind: 1. Einleitung. 2. Der Verbrecher als Objekt der For¬ schung (ein Abriß der Geschichte der Physiognomik, der Schädellehre und der modernen 5i!riminalanthropvlvgie.) 3. Physische, 4. psychische Merkmale. 5. Die Resultate der Kriminalanthropologie. Jener Entstehungsursache der Verbrechen also, die auch nach Ellis die wichtigste ist, dem sozialen Zustande, wird gar kein besondrer Abschnitt gewidmet, sondern es wird nur gelegentlich öfter Wieder eine Sprachdummhcit! Es soll heißen: der Verbrccheraristvkratie; kriminelle Aristokratie konnte man die französische Aristokratie des ooriaen Jahrhunderts nennen, oder auch die Gesamtheit der verbrecherischen Mitglieder der Aristokratien aller Länder und Zeiten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/118>, abgerufen am 23.07.2024.