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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Kurze mit Klarheit der Darstellung und gründlicher Kritik verbindet, aus einer
großen Zahl andrer ausländischer Schriften ausgewählt, um es dem großen
Publikum zu bieten."

Vollkommen richtig und beinahe erschöpfend ist in diesem Buche die Ein¬
teilung der Personen, die von den Strafrichtern als Verbrecher bezeichnet werden.
Ellis unterscheidet folgende Klassen: 1. Politische Verbrecher. Von diesen
sagt er, soweit sie nicht-bloß fälschlich so genannt würden und zu den ge¬
meinen Verbrechern gehörten, seien sie überhaupt keine Verbrecher. "Der
Politische Verbrecher ist, wie ihn Lombroso nennt, ein wahrer Vorkämpfer des
menschlichen Fortschritts, oder nach Benedikt der lloino nobilis, als dessen
Vollender Typus sich Christus darstellt. Vom wissenschaftlichen Standpunkte
ans muß man es als einen Mißbrauch der Sprache betrachten, wenn das
Wort "Verbrecher" angewendet wird, um Differenzen in Betreff des National¬
gefühls oder politischer Meinungen auszudrücken. Dieser Begriff mag zur
Sicherung der Regiernngsautorität notwendig sein, gerade so wie der Begriff
der Ketzerei für die Hierarchie notwendig ist. Das Gefängnis für politische
Verbrecher entspricht dem Schandpfahl für religiös Abtrünnige." 2. Ver¬
brecher aus Leidenschaft. Diese sind keine Gefahr für die menschliche Gesell¬
schaft. Sie werden niemals rückfällig, und ihre strafbaren Thaten gehen sogar
gewöhnlich mehr aus sozialen als aus antisozialen Trieben, z. B. ans dem
Drange, die verletzte Gerechtigkeit herzustellen, hervor; sie müssen nur des¬
wegen bestraft werden, weil sich Selbsthilfe mit einer guten bürgerlichen Ord¬
nung nicht verträgt. Z. Irrsinnige Verbrecher. 4. Instinktive Verbrecher,
wie sie Ellis nennt; andre nennen sie geborne Verbrecher. Das sind mora¬
lische Ungeheuer, menschenähnliche Wesen, die nicht menschlich empfinden. Es
werden mehrere Beispiele angeführt von Kindern, die Grausamkeiten und
Mordthaten begangen haben, mit dem vollen Bewußtsein, ihren Opfern wehe
zu thun und etwas zu begehen, was die Gesellschaft verabscheut und hart
bestraft, aber ohne eine Spur vou Mitgefühl oder Neue. 5. Gelegenheits¬
verbrecher, d. h. Menschen, die zu schwach sind, Versuchungen von einem ge¬
wissen Stürkegrade zu bestehen. Diese werden, wenn sie beizeiten in Ver¬
hältnisse kommen, die ihren Kräften angemessen sind, ganz vortreffliche
Menschen. Dahin gehören sehr viele von den Kindern und jungen Leuten,
die aus Not stehlen; die meisten von ihnen sind also Opfer ungünstiger Ge-
sellschaftsznstände. 6. Gewohnheitsverbrecher. Zu solchen werden die meisten
jungen Gelegenheitsverbrecher, da eine rettende Schiclsalswcndung leider
sehr selten eintritt. Anders zu beurteilen sind, was Ellis nicht genügend
hervorhebt, Leute wie gewisse Ladendiebinnen, die nicht ans Not, sondern
wirklich nur durch die Gelegenheit Diebinnen werden. Eine Dame muß z. V.
lange im Laden warten. Sie will nur eine Kleinigkeit lausen, etwa ein Geld¬
täschchen für 50 Pfennige, das gerade auf dem Ladentisch liegt. Sie wird


Kurze mit Klarheit der Darstellung und gründlicher Kritik verbindet, aus einer
großen Zahl andrer ausländischer Schriften ausgewählt, um es dem großen
Publikum zu bieten."

Vollkommen richtig und beinahe erschöpfend ist in diesem Buche die Ein¬
teilung der Personen, die von den Strafrichtern als Verbrecher bezeichnet werden.
Ellis unterscheidet folgende Klassen: 1. Politische Verbrecher. Von diesen
sagt er, soweit sie nicht-bloß fälschlich so genannt würden und zu den ge¬
meinen Verbrechern gehörten, seien sie überhaupt keine Verbrecher. „Der
Politische Verbrecher ist, wie ihn Lombroso nennt, ein wahrer Vorkämpfer des
menschlichen Fortschritts, oder nach Benedikt der lloino nobilis, als dessen
Vollender Typus sich Christus darstellt. Vom wissenschaftlichen Standpunkte
ans muß man es als einen Mißbrauch der Sprache betrachten, wenn das
Wort „Verbrecher" angewendet wird, um Differenzen in Betreff des National¬
gefühls oder politischer Meinungen auszudrücken. Dieser Begriff mag zur
Sicherung der Regiernngsautorität notwendig sein, gerade so wie der Begriff
der Ketzerei für die Hierarchie notwendig ist. Das Gefängnis für politische
Verbrecher entspricht dem Schandpfahl für religiös Abtrünnige." 2. Ver¬
brecher aus Leidenschaft. Diese sind keine Gefahr für die menschliche Gesell¬
schaft. Sie werden niemals rückfällig, und ihre strafbaren Thaten gehen sogar
gewöhnlich mehr aus sozialen als aus antisozialen Trieben, z. B. ans dem
Drange, die verletzte Gerechtigkeit herzustellen, hervor; sie müssen nur des¬
wegen bestraft werden, weil sich Selbsthilfe mit einer guten bürgerlichen Ord¬
nung nicht verträgt. Z. Irrsinnige Verbrecher. 4. Instinktive Verbrecher,
wie sie Ellis nennt; andre nennen sie geborne Verbrecher. Das sind mora¬
lische Ungeheuer, menschenähnliche Wesen, die nicht menschlich empfinden. Es
werden mehrere Beispiele angeführt von Kindern, die Grausamkeiten und
Mordthaten begangen haben, mit dem vollen Bewußtsein, ihren Opfern wehe
zu thun und etwas zu begehen, was die Gesellschaft verabscheut und hart
bestraft, aber ohne eine Spur vou Mitgefühl oder Neue. 5. Gelegenheits¬
verbrecher, d. h. Menschen, die zu schwach sind, Versuchungen von einem ge¬
wissen Stürkegrade zu bestehen. Diese werden, wenn sie beizeiten in Ver¬
hältnisse kommen, die ihren Kräften angemessen sind, ganz vortreffliche
Menschen. Dahin gehören sehr viele von den Kindern und jungen Leuten,
die aus Not stehlen; die meisten von ihnen sind also Opfer ungünstiger Ge-
sellschaftsznstände. 6. Gewohnheitsverbrecher. Zu solchen werden die meisten
jungen Gelegenheitsverbrecher, da eine rettende Schiclsalswcndung leider
sehr selten eintritt. Anders zu beurteilen sind, was Ellis nicht genügend
hervorhebt, Leute wie gewisse Ladendiebinnen, die nicht ans Not, sondern
wirklich nur durch die Gelegenheit Diebinnen werden. Eine Dame muß z. V.
lange im Laden warten. Sie will nur eine Kleinigkeit lausen, etwa ein Geld¬
täschchen für 50 Pfennige, das gerade auf dem Ladentisch liegt. Sie wird


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/117>, abgerufen am 22.07.2024.