Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen? nun besser gewesen, man hätte von Allfang die Gewinne an die damals vor- Nun meint man vielleicht: wenn auch in früherer Zeit die Ansammlung Daß es auch eine Täuschung ist. wenn man glaubt, es könne dadurch, Das angesammelte Kapital ist allerdings zunächst eine Bereicherung dessen, Natürlich steht es dieser Anschauung uicht entgegen, wenn man anerkennt, Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen? nun besser gewesen, man hätte von Allfang die Gewinne an die damals vor- Nun meint man vielleicht: wenn auch in früherer Zeit die Ansammlung Daß es auch eine Täuschung ist. wenn man glaubt, es könne dadurch, Das angesammelte Kapital ist allerdings zunächst eine Bereicherung dessen, Natürlich steht es dieser Anschauung uicht entgegen, wenn man anerkennt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0115" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/219117"/> <fw type="header" place="top"> Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?</fw><lb/> <p xml:id="ID_331" prev="#ID_330"> nun besser gewesen, man hätte von Allfang die Gewinne an die damals vor-<lb/> handnen Arbeiter verteilt? Dann hätten wir eben das Werk nicht, und die<lb/> Tausende von Arbeitern, die jetzt dort ihr Brot finden, müßten vielleicht darben.<lb/> Es ließen sich unzählige Beispiele ähnlicher Art anführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_332"> Nun meint man vielleicht: wenn auch in früherer Zeit die Ansammlung<lb/> von Kapital notwendig gewesen sei, so sei sie doch jetzt überflüssig, da wir<lb/> Kapital genng hätten! Deshalb sollte jetzt aller Gewinn in die Masse des<lb/> Volks zurückfließen. Auch hierin liegt eine Täuschung. Alles angesammelte<lb/> Kapital zerfließt wieder mit der Zeit, und es bedarf neuer Ansammlungen, um<lb/> es zu ergänzen. Überschreitet einmal die Ansammlung die Verwendbarkeit des<lb/> Kapitals, dann giebt sich dieses sehr bald in dem Werte des Kapitals selbst<lb/> kund. Es wird weniger begehrt: der Zinsfuß sinkt. Diese Erscheinung ist in<lb/> den letzten Jahren eingetreten. Aber wir sind doch noch nicht dahin gelangt,<lb/> daß ein Bedürfnis für Kapital gar nicht mehr vorhanden wäre. Träte dies<lb/> ein, so würde das Kapital gar keine Zinsen mehr tragen. Die Reichen würden<lb/> dann vorziehen, ihr Geld wieder, wie es in frühern Jahrhunderten geschah,<lb/> in der Erde, oder vielmehr heilte im Geldschrank, zu vergraben. Soweit sind<lb/> wir aber noch lange nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_333"> Daß es auch eine Täuschung ist. wenn man glaubt, es könne dadurch,<lb/> daß die Einkünfte der Reichen unter die Massen verteilt würden, unser ganzes<lb/> Volk glücklich gemacht werden, ist schon vielfach in Scherz und Ernst dar¬<lb/> gelegt worden. Es bedarf dazu nur einer einfachen Berechnung. Es sind eben<lb/> der Reichen zu wenige, und derer, die sich zur Verteilung melden würden, zu<lb/> viele. Die Zahl derer, die in Preußen ein Einkommen von mehr als 12000<lb/> Mark versteuern, betrügt 37 541. Diese Zahl bildet kaum den fünfundsech¬<lb/> zigsten Teil von der Zahl der Besteuerten bis zu 12000 Mark. Vergleicht<lb/> man sie mit der Zahl des gesamten preußischen Volks, so kommt ungefähr<lb/> auf 780 Einwohner ein solcher Reicher.</p><lb/> <p xml:id="ID_334"> Das angesammelte Kapital ist allerdings zunächst eine Bereicherung dessen,<lb/> der es ansammelt. Aber es hat zugleich eine befruchtende Kraft für das Ganze.<lb/> ES ist in dieser Beziehung für den Fortschritt der Menschheit völlig unent¬<lb/> behrlich. Und deshalb ist der „Krieg gegen den Kapitalismus," wenn man<lb/> anders den Fortbestand der menschlichen Gesellschaft will, ein wahrhaft selbst¬<lb/> mörderischer Gedanke.</p><lb/> <p xml:id="ID_335" next="#ID_336"> Natürlich steht es dieser Anschauung uicht entgegen, wenn man anerkennt,<lb/> daß es zugleich Pflicht des Reichtums sei, die unverkennbaren Härten, die mit<lb/> der bestehenden Gesellschaftsordnung verbunden find, möglichst zu mildern, und<lb/> daß es auch der Beruf des Staates sei, in dieser Richtung zu wirken und<lb/> jene moralische Pflicht innerhalb gewisser Grenzen zu einer Rechtspflicht zu<lb/> erheben. In diesem Sinne kann man von sozialen Pflichten der höhern Klassen<lb/> gegen die niedern reden, die aber nicht dadurch entstanden sind, daß es heute</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0115]
Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?
nun besser gewesen, man hätte von Allfang die Gewinne an die damals vor-
handnen Arbeiter verteilt? Dann hätten wir eben das Werk nicht, und die
Tausende von Arbeitern, die jetzt dort ihr Brot finden, müßten vielleicht darben.
Es ließen sich unzählige Beispiele ähnlicher Art anführen.
Nun meint man vielleicht: wenn auch in früherer Zeit die Ansammlung
von Kapital notwendig gewesen sei, so sei sie doch jetzt überflüssig, da wir
Kapital genng hätten! Deshalb sollte jetzt aller Gewinn in die Masse des
Volks zurückfließen. Auch hierin liegt eine Täuschung. Alles angesammelte
Kapital zerfließt wieder mit der Zeit, und es bedarf neuer Ansammlungen, um
es zu ergänzen. Überschreitet einmal die Ansammlung die Verwendbarkeit des
Kapitals, dann giebt sich dieses sehr bald in dem Werte des Kapitals selbst
kund. Es wird weniger begehrt: der Zinsfuß sinkt. Diese Erscheinung ist in
den letzten Jahren eingetreten. Aber wir sind doch noch nicht dahin gelangt,
daß ein Bedürfnis für Kapital gar nicht mehr vorhanden wäre. Träte dies
ein, so würde das Kapital gar keine Zinsen mehr tragen. Die Reichen würden
dann vorziehen, ihr Geld wieder, wie es in frühern Jahrhunderten geschah,
in der Erde, oder vielmehr heilte im Geldschrank, zu vergraben. Soweit sind
wir aber noch lange nicht.
Daß es auch eine Täuschung ist. wenn man glaubt, es könne dadurch,
daß die Einkünfte der Reichen unter die Massen verteilt würden, unser ganzes
Volk glücklich gemacht werden, ist schon vielfach in Scherz und Ernst dar¬
gelegt worden. Es bedarf dazu nur einer einfachen Berechnung. Es sind eben
der Reichen zu wenige, und derer, die sich zur Verteilung melden würden, zu
viele. Die Zahl derer, die in Preußen ein Einkommen von mehr als 12000
Mark versteuern, betrügt 37 541. Diese Zahl bildet kaum den fünfundsech¬
zigsten Teil von der Zahl der Besteuerten bis zu 12000 Mark. Vergleicht
man sie mit der Zahl des gesamten preußischen Volks, so kommt ungefähr
auf 780 Einwohner ein solcher Reicher.
Das angesammelte Kapital ist allerdings zunächst eine Bereicherung dessen,
der es ansammelt. Aber es hat zugleich eine befruchtende Kraft für das Ganze.
ES ist in dieser Beziehung für den Fortschritt der Menschheit völlig unent¬
behrlich. Und deshalb ist der „Krieg gegen den Kapitalismus," wenn man
anders den Fortbestand der menschlichen Gesellschaft will, ein wahrhaft selbst¬
mörderischer Gedanke.
Natürlich steht es dieser Anschauung uicht entgegen, wenn man anerkennt,
daß es zugleich Pflicht des Reichtums sei, die unverkennbaren Härten, die mit
der bestehenden Gesellschaftsordnung verbunden find, möglichst zu mildern, und
daß es auch der Beruf des Staates sei, in dieser Richtung zu wirken und
jene moralische Pflicht innerhalb gewisser Grenzen zu einer Rechtspflicht zu
erheben. In diesem Sinne kann man von sozialen Pflichten der höhern Klassen
gegen die niedern reden, die aber nicht dadurch entstanden sind, daß es heute
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