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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?

habe ein früheres Adreßbuch der Stadt Kassel, und zwar das älteste dort vor-
hcmdne vom Jahre 1828, zur Hand genommen und es mit dem Adreßbuch
vou 1894 verglichen. Die Verhältnisse Kassels können für alle mittlern deut¬
schen Städte, die nicht gerade Fabrikstädte sind, als typisch gelten. Kassel
hatte im Jahre 1828 ungefähr 28000 Einwohner. Heute hat es etwa 70000.
Das Verhältnis der Bevölkerung von früher zu jetzt ist also uugefci.hr das
vou 2 zu 5. Diesem entspricht es auch, daß in dem ältern Adreßbuch un¬
gefähr 8000, in dem neuern ungefähr 20000 Personen eingetragen sind. Auf
jede eingetragne Person sind also weitere 2Vs Personen zu rechnen, die keinen
selbständigen Haushalt führen und deshalb nicht eingetragen sind.

Die Thatsache, daß im Laufe der letzten siebzig Jahre, namentlich aber seit
dem letzten Menschenalter, die Bevölkerung Kassels sich mehr als verdoppelt
hat, ist eine Erscheinung, die in gleicher Weise bei allen größern Städten
Deutschlands vorgekommen ist. Vorzugsweise auf dem Anwachsen der Städte
beruht die Vermehrung der deutschen Bevölkerung überhaupt, da die Land¬
bevölkerung bei weitem nicht in gleichem Maße gewachsen ist. Das Anwachsen
der Städte hat aber seinen Hauptgrund in dem Aufblühen der Gewerbe. So
ist es auch in Kassel gewesen.

In dieser Beziehung ist zunächst folgendes erwähnenswert. Das Buch
vou 1328 führt zwar schon 50 in Kassel betriebne "Fabriken" (darunter 9 für
Handschuhe und 9 für Tabak) auf. Man muß sich aber diese Fabrikbetriebe
sehr klein denken. Wenn uns daher das ältere Buch in seinem Personen¬
verzeichnis ungefähr 100 Fabrikarbeiter und daneben noch etwa 400 "Tage¬
löhner" aufführt, so mag das dem damaligen Stande des Fabrikwesens un¬
gefähr entsprochen haben. Auffallender ist es, daß auch das Buch von 1894
nur etwa 350 Fabrikarbeiter und 250 Tagelöhner, daneben freilich noch 320
"Arbeiter" aufführt. Diese Zcchleu entsprechen bei weitem nicht den zur Zeit
in Kassel beschäftigten Arbeitern, da z. B. eine einzige Maschinenfabrik mehrere
tausend Arbeiter in Dienst hat. Nun mögen ja in dem neuen Buche viele
Arbeiter, die in den Fabriken beschäftigt sind, nicht als "Fabrikarbeiter," sondern
unter der Bezeichnung nach ihrem in der Fabrik geübten Handwerk (als Schlosser,
Schreiner u. s. w.) eingetragen sein. Aber ein Hauptgrund für die geringe
Zahl der eingetragnen Fabrikarbeiter liegt darin, daß ein großer Teil der in
Kassel beschäftigten Arbeiter gar nicht in Kassel wohnt, sondern seinen Wohn¬
ort in den umliegenden Dörfern hat und von dort (vielfach mit Hilfe der
Eisenbahn) entweder alltäglich oder allwöchentlich (unter Benutzung einer in
der Stadt gemieteten Schlafstelle) zur Arbeit hereinkommt. Dies ist insofern
von Bedeutung, als sich daraus ergiebt, daß das neuere Adreßbuch den Haupt-
bestand des Proletariats, wozu man doch vor allem die Fabrikarbeiter zu
rechnen Pflegt, nur in geringem Maße enthält, also für die übrigen Stände
um so mehr Namen läßt. Nun sind ja auch unter diesen noch sehr viele, die


Ist der Mittelstand im Schwinden begriffen?

habe ein früheres Adreßbuch der Stadt Kassel, und zwar das älteste dort vor-
hcmdne vom Jahre 1828, zur Hand genommen und es mit dem Adreßbuch
vou 1894 verglichen. Die Verhältnisse Kassels können für alle mittlern deut¬
schen Städte, die nicht gerade Fabrikstädte sind, als typisch gelten. Kassel
hatte im Jahre 1828 ungefähr 28000 Einwohner. Heute hat es etwa 70000.
Das Verhältnis der Bevölkerung von früher zu jetzt ist also uugefci.hr das
vou 2 zu 5. Diesem entspricht es auch, daß in dem ältern Adreßbuch un¬
gefähr 8000, in dem neuern ungefähr 20000 Personen eingetragen sind. Auf
jede eingetragne Person sind also weitere 2Vs Personen zu rechnen, die keinen
selbständigen Haushalt führen und deshalb nicht eingetragen sind.

Die Thatsache, daß im Laufe der letzten siebzig Jahre, namentlich aber seit
dem letzten Menschenalter, die Bevölkerung Kassels sich mehr als verdoppelt
hat, ist eine Erscheinung, die in gleicher Weise bei allen größern Städten
Deutschlands vorgekommen ist. Vorzugsweise auf dem Anwachsen der Städte
beruht die Vermehrung der deutschen Bevölkerung überhaupt, da die Land¬
bevölkerung bei weitem nicht in gleichem Maße gewachsen ist. Das Anwachsen
der Städte hat aber seinen Hauptgrund in dem Aufblühen der Gewerbe. So
ist es auch in Kassel gewesen.

In dieser Beziehung ist zunächst folgendes erwähnenswert. Das Buch
vou 1328 führt zwar schon 50 in Kassel betriebne „Fabriken" (darunter 9 für
Handschuhe und 9 für Tabak) auf. Man muß sich aber diese Fabrikbetriebe
sehr klein denken. Wenn uns daher das ältere Buch in seinem Personen¬
verzeichnis ungefähr 100 Fabrikarbeiter und daneben noch etwa 400 „Tage¬
löhner" aufführt, so mag das dem damaligen Stande des Fabrikwesens un¬
gefähr entsprochen haben. Auffallender ist es, daß auch das Buch von 1894
nur etwa 350 Fabrikarbeiter und 250 Tagelöhner, daneben freilich noch 320
„Arbeiter" aufführt. Diese Zcchleu entsprechen bei weitem nicht den zur Zeit
in Kassel beschäftigten Arbeitern, da z. B. eine einzige Maschinenfabrik mehrere
tausend Arbeiter in Dienst hat. Nun mögen ja in dem neuen Buche viele
Arbeiter, die in den Fabriken beschäftigt sind, nicht als „Fabrikarbeiter," sondern
unter der Bezeichnung nach ihrem in der Fabrik geübten Handwerk (als Schlosser,
Schreiner u. s. w.) eingetragen sein. Aber ein Hauptgrund für die geringe
Zahl der eingetragnen Fabrikarbeiter liegt darin, daß ein großer Teil der in
Kassel beschäftigten Arbeiter gar nicht in Kassel wohnt, sondern seinen Wohn¬
ort in den umliegenden Dörfern hat und von dort (vielfach mit Hilfe der
Eisenbahn) entweder alltäglich oder allwöchentlich (unter Benutzung einer in
der Stadt gemieteten Schlafstelle) zur Arbeit hereinkommt. Dies ist insofern
von Bedeutung, als sich daraus ergiebt, daß das neuere Adreßbuch den Haupt-
bestand des Proletariats, wozu man doch vor allem die Fabrikarbeiter zu
rechnen Pflegt, nur in geringem Maße enthält, also für die übrigen Stände
um so mehr Namen läßt. Nun sind ja auch unter diesen noch sehr viele, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/106>, abgerufen am 23.07.2024.