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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Zur Erinnerung an Wilhelm Stier

hatten, konnte sich Stier, als er im Jahre 1828 nach Berlin zurückgekehrt
war und eine Anstellung als Lehrer an der Bauakademie erhalten hatte, anfangs
nur schwer in die engen Verhältnisse der Heimat finden. Im Laufe der Jahre
fesselten ihn jedoch seine Berufspflichten mehr und mehr, und die Erkenntnis
von der Schönheit und Bedeutung der heimischen Baudenkmäler wurde sür ihn
ein ähnliches Heilmittel gegen die krankhafte Sehnsucht nach Italien, wie für
Ludwig Richter die Entdeckung der landschaftlichen Reize des Elbthals und
des böhmischen Mittelgebirges. Er sand an den Backsteinbauten Norddeutsch-
lands das, was er in der antiken Baukunst vermißte, den Ausdruck deutscher
Empfindung und die Berücksichtigung unsrer heimatlichen Bedürfnisse, und
legte seitdem bei seiner Würdigung eines Kunstwerkes immer mehr Nachdruck
auf die Ermittlung der geschichtlichen Bedingungen, unter denen sie entstanden
waren.

Infolge dieses umfassenden Studiums aller Baustile und Kunstweiseu
wurde er aber in seinen eignen, überaus zahlreichen Entwürfen zum Eklektiker
Als solcher tritt er uns gleich in seinem großartigen Projekt für einen pro¬
testantischen Dom entgegen. Einer Anregung Busens folgend, hatte er schon
in Rom im Jahre 1827 einen idealen Entwurf angefertigt, der Schinkel zu
Gesicht kam, und der der Grund sür seine Berufung nach Berlin wurde.
Stier wollte diesen Dom zu einem deutschen Nationalheiligtum machen und
ihn in Bezug auf Form, Größe und Material so gestalten, daß er zugleich
als ein Gotteshaus und als ein Ehrentempel der Nation und ihrer Fürsten
erscheinen sollte. Als Grundform dachte er sich einen durch Abschneidung der
Kreissegmente in ein Achteck verwandelten Kreis, der durch einen gewaltigen
Kuppelbau überdacht werden sollte. Diese Idee hatte er in mehreren Pro¬
jekten verschieden ausgearbeitet. Dem einen Projekt hatte er gotische, dem
andern romanische Formen gegeben, in einem dritten sogar eine Kuppel nach
dem Muster der bei russischen Kirchen üblichen Zwiebclgestalt angebracht. Als
im September 1842 in Leipzig die erste Versammlung deutscher Architekten
tagte, legte ihr Stier diese Entwürfe vor und hatte die Genugthuung, daß
die Fachgenossen allgemein die Großartigkeit der Gedanken und die außer¬
ordentliche Sorgfalt der Ausführung der Entwürfe anerkannten.") Aber es
ging diesen Vorarbeiten Stiers eben so, wie vielen andern, die in der Dom¬
sache gemacht worden waren, sie blieben unbenutzt, und erst in neuester Zeit
ist in dem vor kurzem veröffentlichten Werk über den "Kirchenbau des Pro¬
testantismus" wieder von ihnen die Rede gewesen.

Die eklektische Richtung Stiers erklärt es auch, daß er sich bereit finden
ließ, auf den sonderbaren Gedanken König Maximilians III. von Bniern in
Bezug auf die Erfindung eiues neuen Baustils einzugehen. Stier war es,



*) Vergl. das Kunstblatt von 1842, S. 346 bis 350.
Zur Erinnerung an Wilhelm Stier

hatten, konnte sich Stier, als er im Jahre 1828 nach Berlin zurückgekehrt
war und eine Anstellung als Lehrer an der Bauakademie erhalten hatte, anfangs
nur schwer in die engen Verhältnisse der Heimat finden. Im Laufe der Jahre
fesselten ihn jedoch seine Berufspflichten mehr und mehr, und die Erkenntnis
von der Schönheit und Bedeutung der heimischen Baudenkmäler wurde sür ihn
ein ähnliches Heilmittel gegen die krankhafte Sehnsucht nach Italien, wie für
Ludwig Richter die Entdeckung der landschaftlichen Reize des Elbthals und
des böhmischen Mittelgebirges. Er sand an den Backsteinbauten Norddeutsch-
lands das, was er in der antiken Baukunst vermißte, den Ausdruck deutscher
Empfindung und die Berücksichtigung unsrer heimatlichen Bedürfnisse, und
legte seitdem bei seiner Würdigung eines Kunstwerkes immer mehr Nachdruck
auf die Ermittlung der geschichtlichen Bedingungen, unter denen sie entstanden
waren.

Infolge dieses umfassenden Studiums aller Baustile und Kunstweiseu
wurde er aber in seinen eignen, überaus zahlreichen Entwürfen zum Eklektiker
Als solcher tritt er uns gleich in seinem großartigen Projekt für einen pro¬
testantischen Dom entgegen. Einer Anregung Busens folgend, hatte er schon
in Rom im Jahre 1827 einen idealen Entwurf angefertigt, der Schinkel zu
Gesicht kam, und der der Grund sür seine Berufung nach Berlin wurde.
Stier wollte diesen Dom zu einem deutschen Nationalheiligtum machen und
ihn in Bezug auf Form, Größe und Material so gestalten, daß er zugleich
als ein Gotteshaus und als ein Ehrentempel der Nation und ihrer Fürsten
erscheinen sollte. Als Grundform dachte er sich einen durch Abschneidung der
Kreissegmente in ein Achteck verwandelten Kreis, der durch einen gewaltigen
Kuppelbau überdacht werden sollte. Diese Idee hatte er in mehreren Pro¬
jekten verschieden ausgearbeitet. Dem einen Projekt hatte er gotische, dem
andern romanische Formen gegeben, in einem dritten sogar eine Kuppel nach
dem Muster der bei russischen Kirchen üblichen Zwiebclgestalt angebracht. Als
im September 1842 in Leipzig die erste Versammlung deutscher Architekten
tagte, legte ihr Stier diese Entwürfe vor und hatte die Genugthuung, daß
die Fachgenossen allgemein die Großartigkeit der Gedanken und die außer¬
ordentliche Sorgfalt der Ausführung der Entwürfe anerkannten.") Aber es
ging diesen Vorarbeiten Stiers eben so, wie vielen andern, die in der Dom¬
sache gemacht worden waren, sie blieben unbenutzt, und erst in neuester Zeit
ist in dem vor kurzem veröffentlichten Werk über den „Kirchenbau des Pro¬
testantismus" wieder von ihnen die Rede gewesen.

Die eklektische Richtung Stiers erklärt es auch, daß er sich bereit finden
ließ, auf den sonderbaren Gedanken König Maximilians III. von Bniern in
Bezug auf die Erfindung eiues neuen Baustils einzugehen. Stier war es,



*) Vergl. das Kunstblatt von 1842, S. 346 bis 350.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/66>, abgerufen am 22.07.2024.