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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Zur Lrinnernng an Wilhelm Stier

Der eigentliche Führer der romantischen Kunstanschammg in Berlin war
Wilhelm Stier, ein Mann, der in der Regel in unsern Kunsthandbüchern
kaum oder gar nicht erwähnt wird, der aber doch auf seine Schüler einen
weitreichenden Einfluß ausgeübt hat, der im wesentlichen auf seine eigen¬
tümliche, genial angelegte Persönlichkeit zurückzuführen sein dürfte. Stier
war, wie Lübke in seinen Lebenserinnerungen (Berlin, 1891) bemerkt, "eine
jener phantasievoll angelegten Naturen, die mehr durch geniale Entwürfe als
dnrch praktische Ausführung hervorragen. Ans dem. Katheder wußte er die
Zuhörer durch die sprühend geistvolle Art, wie er die kunstgeschichtlichen Denk¬
mäler erklärte und aus den Zeitströmungen dem modernen Verständnis näher
zu bringen suchte, zu fesseln. In ihm lebte noch der ganze Feuereifer einer
hvchidealen Zeit, welche die Flamme der Vesta zu pflegen und dem modernen
Leben einen romantischen Hauch großer Vorzeit mitzuteilen bestrebt war."

Wer sich von der eigentümlichen Persönlichkeit Stiers, die uns heute in
vieler Hinsicht befremdlich erscheint, für ihre Zeit aber typisch genannt werden
darf, eine Vorstellung machen will, der greift am besten zu den von ihm hinter¬
lassenen Schriften, die W. Lübke im Jahre 1857 unter dem Titel: Hesperifche
Blätter (Berlin, Ernst <K Korn) herausgegeben hat. Diese Sammlung zer¬
fällt in zwei Teile. Der eine, umfassendere Teil enthält italienische Künstler-
nvvellen, für die Stier meistens die Briefform angewendet hat. Sie legen
ein beredtes Zeugnis ab von der schwärmerischen Begeisterung des Verfassers
für die Meisterwerke der italienischen Malerei und zeigen, wie vertraut er sich
mit dem Geistesleben der Zeiten Raphaels und Tizians gemacht hatte. Da sie
aber ziemlich breit angelegt und unnötig wortreich geschrieben sind, wird sich
der Leser jedenfalls lieber in den andern Teil der Sammlung vertiefen, in
dem Stier eine Anzahl lebensvoller Bilder und Szenen aus dem italienischen
Leben entwirft und von seinen Beziehungen zu den deutschen Künstlern erzählt,
die in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts in Rom ihre Studien ge¬
macht haben. Der fesselndste Abschnitt des Ganzen dürfte die Schilderung
der Fußwanderung sein, die Stier im Jahre 1822 von Paris ans über Lyon,
Marseille, die Riviera entlang bis Rom unternommen hat. Er hat sie unter
dem Titel "Die Pilgerfahrt" erzählt und damit ein lesenswertes Seitenstück
zu Seniues "Spaziergang nach Syrakus" geschaffen.

Der Aufenthalt Stiers in Italien dauerte fünf Jahre und diente ihm
dazu, eine Fülle von künstlerischen Anschauungen in sich aufzunehmen, die
später seinen Vorträgen zu gute kamen, die er aber trotz seines Vorhabens
niemals systematisch verarbeitet und in wissenschaftlicher Form veröffentlicht
hat. Doch wissen wir, daß er sich an den grundlegenden Arbeiten Vunsens,
Platners, Hittorfs und Zanths -- mit den beiden letzten besuchte er Si¬
zilien -- beteiligt hat.

Wie viele deutsche Künstler, die ihre Jugendjahre in Italien verlebt


Grenzboten IV 1893 8
Zur Lrinnernng an Wilhelm Stier

Der eigentliche Führer der romantischen Kunstanschammg in Berlin war
Wilhelm Stier, ein Mann, der in der Regel in unsern Kunsthandbüchern
kaum oder gar nicht erwähnt wird, der aber doch auf seine Schüler einen
weitreichenden Einfluß ausgeübt hat, der im wesentlichen auf seine eigen¬
tümliche, genial angelegte Persönlichkeit zurückzuführen sein dürfte. Stier
war, wie Lübke in seinen Lebenserinnerungen (Berlin, 1891) bemerkt, „eine
jener phantasievoll angelegten Naturen, die mehr durch geniale Entwürfe als
dnrch praktische Ausführung hervorragen. Ans dem. Katheder wußte er die
Zuhörer durch die sprühend geistvolle Art, wie er die kunstgeschichtlichen Denk¬
mäler erklärte und aus den Zeitströmungen dem modernen Verständnis näher
zu bringen suchte, zu fesseln. In ihm lebte noch der ganze Feuereifer einer
hvchidealen Zeit, welche die Flamme der Vesta zu pflegen und dem modernen
Leben einen romantischen Hauch großer Vorzeit mitzuteilen bestrebt war."

Wer sich von der eigentümlichen Persönlichkeit Stiers, die uns heute in
vieler Hinsicht befremdlich erscheint, für ihre Zeit aber typisch genannt werden
darf, eine Vorstellung machen will, der greift am besten zu den von ihm hinter¬
lassenen Schriften, die W. Lübke im Jahre 1857 unter dem Titel: Hesperifche
Blätter (Berlin, Ernst <K Korn) herausgegeben hat. Diese Sammlung zer¬
fällt in zwei Teile. Der eine, umfassendere Teil enthält italienische Künstler-
nvvellen, für die Stier meistens die Briefform angewendet hat. Sie legen
ein beredtes Zeugnis ab von der schwärmerischen Begeisterung des Verfassers
für die Meisterwerke der italienischen Malerei und zeigen, wie vertraut er sich
mit dem Geistesleben der Zeiten Raphaels und Tizians gemacht hatte. Da sie
aber ziemlich breit angelegt und unnötig wortreich geschrieben sind, wird sich
der Leser jedenfalls lieber in den andern Teil der Sammlung vertiefen, in
dem Stier eine Anzahl lebensvoller Bilder und Szenen aus dem italienischen
Leben entwirft und von seinen Beziehungen zu den deutschen Künstlern erzählt,
die in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts in Rom ihre Studien ge¬
macht haben. Der fesselndste Abschnitt des Ganzen dürfte die Schilderung
der Fußwanderung sein, die Stier im Jahre 1822 von Paris ans über Lyon,
Marseille, die Riviera entlang bis Rom unternommen hat. Er hat sie unter
dem Titel „Die Pilgerfahrt" erzählt und damit ein lesenswertes Seitenstück
zu Seniues „Spaziergang nach Syrakus" geschaffen.

Der Aufenthalt Stiers in Italien dauerte fünf Jahre und diente ihm
dazu, eine Fülle von künstlerischen Anschauungen in sich aufzunehmen, die
später seinen Vorträgen zu gute kamen, die er aber trotz seines Vorhabens
niemals systematisch verarbeitet und in wissenschaftlicher Form veröffentlicht
hat. Doch wissen wir, daß er sich an den grundlegenden Arbeiten Vunsens,
Platners, Hittorfs und Zanths — mit den beiden letzten besuchte er Si¬
zilien — beteiligt hat.

Wie viele deutsche Künstler, die ihre Jugendjahre in Italien verlebt


Grenzboten IV 1893 8
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[0065] Zur Lrinnernng an Wilhelm Stier Der eigentliche Führer der romantischen Kunstanschammg in Berlin war Wilhelm Stier, ein Mann, der in der Regel in unsern Kunsthandbüchern kaum oder gar nicht erwähnt wird, der aber doch auf seine Schüler einen weitreichenden Einfluß ausgeübt hat, der im wesentlichen auf seine eigen¬ tümliche, genial angelegte Persönlichkeit zurückzuführen sein dürfte. Stier war, wie Lübke in seinen Lebenserinnerungen (Berlin, 1891) bemerkt, „eine jener phantasievoll angelegten Naturen, die mehr durch geniale Entwürfe als dnrch praktische Ausführung hervorragen. Ans dem. Katheder wußte er die Zuhörer durch die sprühend geistvolle Art, wie er die kunstgeschichtlichen Denk¬ mäler erklärte und aus den Zeitströmungen dem modernen Verständnis näher zu bringen suchte, zu fesseln. In ihm lebte noch der ganze Feuereifer einer hvchidealen Zeit, welche die Flamme der Vesta zu pflegen und dem modernen Leben einen romantischen Hauch großer Vorzeit mitzuteilen bestrebt war." Wer sich von der eigentümlichen Persönlichkeit Stiers, die uns heute in vieler Hinsicht befremdlich erscheint, für ihre Zeit aber typisch genannt werden darf, eine Vorstellung machen will, der greift am besten zu den von ihm hinter¬ lassenen Schriften, die W. Lübke im Jahre 1857 unter dem Titel: Hesperifche Blätter (Berlin, Ernst <K Korn) herausgegeben hat. Diese Sammlung zer¬ fällt in zwei Teile. Der eine, umfassendere Teil enthält italienische Künstler- nvvellen, für die Stier meistens die Briefform angewendet hat. Sie legen ein beredtes Zeugnis ab von der schwärmerischen Begeisterung des Verfassers für die Meisterwerke der italienischen Malerei und zeigen, wie vertraut er sich mit dem Geistesleben der Zeiten Raphaels und Tizians gemacht hatte. Da sie aber ziemlich breit angelegt und unnötig wortreich geschrieben sind, wird sich der Leser jedenfalls lieber in den andern Teil der Sammlung vertiefen, in dem Stier eine Anzahl lebensvoller Bilder und Szenen aus dem italienischen Leben entwirft und von seinen Beziehungen zu den deutschen Künstlern erzählt, die in den ersten Jahrzehnten unsers Jahrhunderts in Rom ihre Studien ge¬ macht haben. Der fesselndste Abschnitt des Ganzen dürfte die Schilderung der Fußwanderung sein, die Stier im Jahre 1822 von Paris ans über Lyon, Marseille, die Riviera entlang bis Rom unternommen hat. Er hat sie unter dem Titel „Die Pilgerfahrt" erzählt und damit ein lesenswertes Seitenstück zu Seniues „Spaziergang nach Syrakus" geschaffen. Der Aufenthalt Stiers in Italien dauerte fünf Jahre und diente ihm dazu, eine Fülle von künstlerischen Anschauungen in sich aufzunehmen, die später seinen Vorträgen zu gute kamen, die er aber trotz seines Vorhabens niemals systematisch verarbeitet und in wissenschaftlicher Form veröffentlicht hat. Doch wissen wir, daß er sich an den grundlegenden Arbeiten Vunsens, Platners, Hittorfs und Zanths — mit den beiden letzten besuchte er Si¬ zilien — beteiligt hat. Wie viele deutsche Künstler, die ihre Jugendjahre in Italien verlebt Grenzboten IV 1893 8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/65>, abgerufen am 24.08.2024.