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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Indische Zustände

für Indien so außerordentlich zeitgemäße parlamentarische Vertretung hin¬
zuwirken. Unter die großen Kinder des Landes werden zu Tausenden und
Hunderttausenden politische Bibeln verteilt, und die ganze einheimische Presse
-- über vierhundert Zeitungen -- befleißigt sich, den Ryve möglichst mit seinen
bürgerlichen Rechten, nicht aber mit seinen bürgerlichen Pflichten bekannt zu
machen. Wenn auch glücklicherweise zur Zeit nur wenige die phrasenhaften
Ergüsse jener Volkstribunen zu lesen vermögen, so wird es doch nicht lange
dauern, bis die Massen etwas zum politischen Selbstbewußtsein erwachen.

Aber muß denn eine solche Entwicklung notwendig der englischen Herr¬
schaft gefährlich werden? Gewiß nicht, solange sie nicht Hand in Hand geht
mit einer nationalen Einigung der Bevölkerung, denn mit der wachsenden Er
terrenis müßte auch das Verständnis für die Segnungen der englischen Herr¬
schaft wachsen, und wenn sich trotzdem der Wunsch nach deren Beseitigung
einstellen sollte, so würde doch die Ausführung an den innern Feindschaften
scheitern. Ist aber eine nationale Einigung in absehbarer Zeit zu erwarten?
Wir haben als Haupthindernis der ethnischen Verschmelzung der indischen Be¬
völkerung die rasche Folge der Invasionen und die dadurch gegebne Fort¬
dauer der allgemeinen Verwirrung erkannt. Diese Hindernisse sind beseitigt.
Die englische Herrschaft hat der tausendjährigen Anarchie ein Ende gemacht,
und Indien ist in eine Periode friedlicher Entwicklung eingetreten. Ist es
nicht wahrscheinlich, daß diese, wen" sie langer andauert, zur Bildung einer
indischen Nation führen wird? Nein, denn Jahrtausende haben jetzt ihren
Stempel auf die innern Gegensätze gedrückt. Die einzelnen Bestandteile der
indischen Bevölkerung haben die Lebensstufe" überschritten, wo sich solche Ver¬
schmelzungen leicht vollziehen. Sie haben die Formbarkeit der Jugend ver¬
loren. Sie haben sich -- wenigstens die wichtigern unter ihnen -- im Laufe
der Zeit jede eine feste Schriftsprache geschaffen mit einer hochentwickelten Lit¬
teratur, als einen nicht mehr zu verwischenden Ausdruck ihres eigentümlichen
Wesens, als eine stete Mahnung an ihr Recht und ihre Pflicht, ein Sonder-
dasein zu führen. Vielleicht mögen sich in den einzelnen Lnndesteilen ver-
schiedne kleine Nationalitäten ausbilden; sie würden aber dann immer noch
durch ihre gegenseitige Eifersucht den Bestand der englischen Herrschaft er¬
möglichen. Doch ebensowenig wie Franzosen und Spanier, wie Engländer und
Deutsche werde" Marcithen und Tamulen. Bengalis und Pathans jemals zu
einer einheitliche" Nation zusammenwachsen.

Weit eher als auf ethnischen wäre eine Konzentration ans religiösem
Gebiete möglich. Die religiösen Nnschaunngen der Massen sind ein Ausdruck
oder Spiegelbild ihrer politischen und sozialen Geschichte durch viele Geschlechter.
Die wilde, unstete und unsichere Existenz, die die indische Bevölkerung Jahr¬
hunderte oder Jahrtausende hindurch geführt hat, ist die Ursache des zerrissenen
und ordnnngslosen Zustandes des populären Brahmanismus. Nur so, aus


Indische Zustände

für Indien so außerordentlich zeitgemäße parlamentarische Vertretung hin¬
zuwirken. Unter die großen Kinder des Landes werden zu Tausenden und
Hunderttausenden politische Bibeln verteilt, und die ganze einheimische Presse
— über vierhundert Zeitungen — befleißigt sich, den Ryve möglichst mit seinen
bürgerlichen Rechten, nicht aber mit seinen bürgerlichen Pflichten bekannt zu
machen. Wenn auch glücklicherweise zur Zeit nur wenige die phrasenhaften
Ergüsse jener Volkstribunen zu lesen vermögen, so wird es doch nicht lange
dauern, bis die Massen etwas zum politischen Selbstbewußtsein erwachen.

Aber muß denn eine solche Entwicklung notwendig der englischen Herr¬
schaft gefährlich werden? Gewiß nicht, solange sie nicht Hand in Hand geht
mit einer nationalen Einigung der Bevölkerung, denn mit der wachsenden Er
terrenis müßte auch das Verständnis für die Segnungen der englischen Herr¬
schaft wachsen, und wenn sich trotzdem der Wunsch nach deren Beseitigung
einstellen sollte, so würde doch die Ausführung an den innern Feindschaften
scheitern. Ist aber eine nationale Einigung in absehbarer Zeit zu erwarten?
Wir haben als Haupthindernis der ethnischen Verschmelzung der indischen Be¬
völkerung die rasche Folge der Invasionen und die dadurch gegebne Fort¬
dauer der allgemeinen Verwirrung erkannt. Diese Hindernisse sind beseitigt.
Die englische Herrschaft hat der tausendjährigen Anarchie ein Ende gemacht,
und Indien ist in eine Periode friedlicher Entwicklung eingetreten. Ist es
nicht wahrscheinlich, daß diese, wen» sie langer andauert, zur Bildung einer
indischen Nation führen wird? Nein, denn Jahrtausende haben jetzt ihren
Stempel auf die innern Gegensätze gedrückt. Die einzelnen Bestandteile der
indischen Bevölkerung haben die Lebensstufe» überschritten, wo sich solche Ver¬
schmelzungen leicht vollziehen. Sie haben die Formbarkeit der Jugend ver¬
loren. Sie haben sich — wenigstens die wichtigern unter ihnen — im Laufe
der Zeit jede eine feste Schriftsprache geschaffen mit einer hochentwickelten Lit¬
teratur, als einen nicht mehr zu verwischenden Ausdruck ihres eigentümlichen
Wesens, als eine stete Mahnung an ihr Recht und ihre Pflicht, ein Sonder-
dasein zu führen. Vielleicht mögen sich in den einzelnen Lnndesteilen ver-
schiedne kleine Nationalitäten ausbilden; sie würden aber dann immer noch
durch ihre gegenseitige Eifersucht den Bestand der englischen Herrschaft er¬
möglichen. Doch ebensowenig wie Franzosen und Spanier, wie Engländer und
Deutsche werde» Marcithen und Tamulen. Bengalis und Pathans jemals zu
einer einheitliche» Nation zusammenwachsen.

Weit eher als auf ethnischen wäre eine Konzentration ans religiösem
Gebiete möglich. Die religiösen Nnschaunngen der Massen sind ein Ausdruck
oder Spiegelbild ihrer politischen und sozialen Geschichte durch viele Geschlechter.
Die wilde, unstete und unsichere Existenz, die die indische Bevölkerung Jahr¬
hunderte oder Jahrtausende hindurch geführt hat, ist die Ursache des zerrissenen
und ordnnngslosen Zustandes des populären Brahmanismus. Nur so, aus


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[0623] Indische Zustände für Indien so außerordentlich zeitgemäße parlamentarische Vertretung hin¬ zuwirken. Unter die großen Kinder des Landes werden zu Tausenden und Hunderttausenden politische Bibeln verteilt, und die ganze einheimische Presse — über vierhundert Zeitungen — befleißigt sich, den Ryve möglichst mit seinen bürgerlichen Rechten, nicht aber mit seinen bürgerlichen Pflichten bekannt zu machen. Wenn auch glücklicherweise zur Zeit nur wenige die phrasenhaften Ergüsse jener Volkstribunen zu lesen vermögen, so wird es doch nicht lange dauern, bis die Massen etwas zum politischen Selbstbewußtsein erwachen. Aber muß denn eine solche Entwicklung notwendig der englischen Herr¬ schaft gefährlich werden? Gewiß nicht, solange sie nicht Hand in Hand geht mit einer nationalen Einigung der Bevölkerung, denn mit der wachsenden Er terrenis müßte auch das Verständnis für die Segnungen der englischen Herr¬ schaft wachsen, und wenn sich trotzdem der Wunsch nach deren Beseitigung einstellen sollte, so würde doch die Ausführung an den innern Feindschaften scheitern. Ist aber eine nationale Einigung in absehbarer Zeit zu erwarten? Wir haben als Haupthindernis der ethnischen Verschmelzung der indischen Be¬ völkerung die rasche Folge der Invasionen und die dadurch gegebne Fort¬ dauer der allgemeinen Verwirrung erkannt. Diese Hindernisse sind beseitigt. Die englische Herrschaft hat der tausendjährigen Anarchie ein Ende gemacht, und Indien ist in eine Periode friedlicher Entwicklung eingetreten. Ist es nicht wahrscheinlich, daß diese, wen» sie langer andauert, zur Bildung einer indischen Nation führen wird? Nein, denn Jahrtausende haben jetzt ihren Stempel auf die innern Gegensätze gedrückt. Die einzelnen Bestandteile der indischen Bevölkerung haben die Lebensstufe» überschritten, wo sich solche Ver¬ schmelzungen leicht vollziehen. Sie haben die Formbarkeit der Jugend ver¬ loren. Sie haben sich — wenigstens die wichtigern unter ihnen — im Laufe der Zeit jede eine feste Schriftsprache geschaffen mit einer hochentwickelten Lit¬ teratur, als einen nicht mehr zu verwischenden Ausdruck ihres eigentümlichen Wesens, als eine stete Mahnung an ihr Recht und ihre Pflicht, ein Sonder- dasein zu führen. Vielleicht mögen sich in den einzelnen Lnndesteilen ver- schiedne kleine Nationalitäten ausbilden; sie würden aber dann immer noch durch ihre gegenseitige Eifersucht den Bestand der englischen Herrschaft er¬ möglichen. Doch ebensowenig wie Franzosen und Spanier, wie Engländer und Deutsche werde» Marcithen und Tamulen. Bengalis und Pathans jemals zu einer einheitliche» Nation zusammenwachsen. Weit eher als auf ethnischen wäre eine Konzentration ans religiösem Gebiete möglich. Die religiösen Nnschaunngen der Massen sind ein Ausdruck oder Spiegelbild ihrer politischen und sozialen Geschichte durch viele Geschlechter. Die wilde, unstete und unsichere Existenz, die die indische Bevölkerung Jahr¬ hunderte oder Jahrtausende hindurch geführt hat, ist die Ursache des zerrissenen und ordnnngslosen Zustandes des populären Brahmanismus. Nur so, aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/623>, abgerufen am 24.07.2024.