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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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bösen Absichten. Gegenseitige Eifersucht hindert sie um gemeinsamem Handeln,
die Unterstützung der Massen sehlt ihnen, und das starke Heer der Regierung
schreckt von vereinzeltein Vorgehen ab. Gern würden sie wieder gelegentlich,
wie 1857, die Mißstimmung der einheimischen Söldner für ihre Zwecke aus¬
zubeuten suchen, aber die jetzige Zusammensetzung der Sepohregimentcr macht
diese solchen Umtrieben weniger zugänglich, und schließlich zeigt gerade der
Ausgang jenes Aufstandes, daß eine Meuterei ihrer indischen Truppen der
englischen Negierung noch nicht gefährlich wird, solange sie nicht den Charakter
einer nationalen Erhebung trägt und als solche bei deu Masse" Unterstützung
findet. Es ist nicht anders: solange die indische Bevölkerung in ihrer jetzigen
Zersplitterung und politischen Bewußtlosigkeit verharrt, ist die Herrschaft der
Engländer gegenüber ihren innern Feinden fest und sicher gegründet.

Wie aber, wenn in diesen Verhältnissen ein Wechsel einträte? Für ge¬
wöhnlich vollziehen sich freilich solche Änderungen in dem gesellschaftlichen
Leben großer Volksmassen nnr langsam und unmerklich. Aber wir dürfen nicht
vergessen, daß Indien gewissermaßen ins Schlepptau genvnuneu worden ist
von Eur'opa, wo wir jetzt mit Volldampf vorangehen. Es ist wahrscheinlich,
daß unter dem Hochdruck europäischen Fortschritts und dem Einfluß fester
Ordnung Indien rasch durch Entwicklungsstufen hindurchgeführt werden wird,
die in dem Leben andrer Völker Jahrhunderte in Anspruch genommen haben.
"Der Hindu macht jetzt in zwei Tagen eine Reise, die vor einem Menschen¬
alter einen Monat in Anspruch nahm, weil die Engländer Eisenbahnen gebaut
haben, ehe er selbst sich nur gepflasterte Wege geschaffen hatte; und so wird
die geistige Entwicklung des Hindu vielleicht auch fortschreiten mit Überspringung
von Zwischenstufen." Wie, wenn sich Indien, dem demokratischen Zuge des
Westens folgend, unsre Ideen von dem souveränen Volk und dem Selbst¬
bestimmungsrechte der Massen aneignete? Die britische Herrschaft muß den
Volksgeist unwillkürlich in diese Richtung drängen. Die Gedanken des Ryots
sind nicht ausschließlich durch die schwere Sorge sür den täglichen Unterhalt
und die fortwährende Angst um Leib, Weib und Gut in Anspruch genommen.
Die friedliche Ordnung, die bessern Erwerbsbcdingungen geben ihm Muße,
auch über die Grundlagen seiner gesellschaftlichen Existenz nachzudenken. Die
Sicherheit des Lebens und Eigentums, die Fürsorge einer wohlwollenden Ne¬
gierung, die stets betonte Rücksicht auf sein Wohl erschienen ihm zuerst und
erscheinen ihm wohl auch noch jetzt als etwas neues, seltsames, unverständ¬
liches. Aber wie bald wird er sich gewöhnen, sie als selbstverständlich hin¬
zunehmen, wie bald sie als sein Recht fordern, wie bald lernen, daß die Re¬
gierung um seinetwillen, nicht er um der Regierung willen daist! Obendrein
bemühen sich noch einige halbgebildete Inder, diesen natürlichen Entwicklungs¬
gang zu beschleunigen. Unter dem Namen eines Nationalkongresses haben sich
ein paar hundert unklare und schwatzhafte Köpfe zusammengethan, um auf eine


bösen Absichten. Gegenseitige Eifersucht hindert sie um gemeinsamem Handeln,
die Unterstützung der Massen sehlt ihnen, und das starke Heer der Regierung
schreckt von vereinzeltein Vorgehen ab. Gern würden sie wieder gelegentlich,
wie 1857, die Mißstimmung der einheimischen Söldner für ihre Zwecke aus¬
zubeuten suchen, aber die jetzige Zusammensetzung der Sepohregimentcr macht
diese solchen Umtrieben weniger zugänglich, und schließlich zeigt gerade der
Ausgang jenes Aufstandes, daß eine Meuterei ihrer indischen Truppen der
englischen Negierung noch nicht gefährlich wird, solange sie nicht den Charakter
einer nationalen Erhebung trägt und als solche bei deu Masse» Unterstützung
findet. Es ist nicht anders: solange die indische Bevölkerung in ihrer jetzigen
Zersplitterung und politischen Bewußtlosigkeit verharrt, ist die Herrschaft der
Engländer gegenüber ihren innern Feinden fest und sicher gegründet.

Wie aber, wenn in diesen Verhältnissen ein Wechsel einträte? Für ge¬
wöhnlich vollziehen sich freilich solche Änderungen in dem gesellschaftlichen
Leben großer Volksmassen nnr langsam und unmerklich. Aber wir dürfen nicht
vergessen, daß Indien gewissermaßen ins Schlepptau genvnuneu worden ist
von Eur'opa, wo wir jetzt mit Volldampf vorangehen. Es ist wahrscheinlich,
daß unter dem Hochdruck europäischen Fortschritts und dem Einfluß fester
Ordnung Indien rasch durch Entwicklungsstufen hindurchgeführt werden wird,
die in dem Leben andrer Völker Jahrhunderte in Anspruch genommen haben.
„Der Hindu macht jetzt in zwei Tagen eine Reise, die vor einem Menschen¬
alter einen Monat in Anspruch nahm, weil die Engländer Eisenbahnen gebaut
haben, ehe er selbst sich nur gepflasterte Wege geschaffen hatte; und so wird
die geistige Entwicklung des Hindu vielleicht auch fortschreiten mit Überspringung
von Zwischenstufen." Wie, wenn sich Indien, dem demokratischen Zuge des
Westens folgend, unsre Ideen von dem souveränen Volk und dem Selbst¬
bestimmungsrechte der Massen aneignete? Die britische Herrschaft muß den
Volksgeist unwillkürlich in diese Richtung drängen. Die Gedanken des Ryots
sind nicht ausschließlich durch die schwere Sorge sür den täglichen Unterhalt
und die fortwährende Angst um Leib, Weib und Gut in Anspruch genommen.
Die friedliche Ordnung, die bessern Erwerbsbcdingungen geben ihm Muße,
auch über die Grundlagen seiner gesellschaftlichen Existenz nachzudenken. Die
Sicherheit des Lebens und Eigentums, die Fürsorge einer wohlwollenden Ne¬
gierung, die stets betonte Rücksicht auf sein Wohl erschienen ihm zuerst und
erscheinen ihm wohl auch noch jetzt als etwas neues, seltsames, unverständ¬
liches. Aber wie bald wird er sich gewöhnen, sie als selbstverständlich hin¬
zunehmen, wie bald sie als sein Recht fordern, wie bald lernen, daß die Re¬
gierung um seinetwillen, nicht er um der Regierung willen daist! Obendrein
bemühen sich noch einige halbgebildete Inder, diesen natürlichen Entwicklungs¬
gang zu beschleunigen. Unter dem Namen eines Nationalkongresses haben sich
ein paar hundert unklare und schwatzhafte Köpfe zusammengethan, um auf eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/622>, abgerufen am 04.07.2024.