Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Indische Zustände

des öffentlichen Lebens hat in allen zivilisirten Ländern die Stellung der Re¬
gierung gegenüber revolutionären Bestrebungen ungeheuer verstärkt. Durch
ein Heer von hohen und niedern Beamten streckt sie ihre Fühler nach allen
Richtungen aus, hat ihre Verbindungen in allen Schichten der Bevölkerung
und wird immer über die Bewegungen und Pläne aller feindlichen und um¬
stürzlerischen Elemente unterrichtet. Sie besitzt die Einheit der Leitung, die
ihren Gegnern abgeht. Sie beherrscht die Knotenpunkte der Straßen, die
Eisenbahnen und Telegraphen. Sie verfügt endlich über unerschöpfliche Geld¬
mittel. In Indien kommt noch hinzu, daß sie in der See eine unangreifbare
Basis hat, daß sie mit Hilfe ihrer Flotte die Meere beherrscht, das Land
wirksam gegen anßen absperren und die Einfuhr von Waffen, Munition u. tgi.
gänzlich verhindern kann. Das ungeheure auf der Halbinsel angelegte englische
Kapital, der gewaltige Handel zwischen den beiden Ländern hat neue Bande
um England und Indien geschlungen. Die Verbindung zwischen ihnen wird
von Jahr zu Jahr fester. Die räumliche Ausdehnung der indischen Halbinsel,
die früher jeden Versuch einer politischen Vereinigung verhinderte oder im
Keime erstickte, wird dem cmglv-indischen Reiche nicht mehr verderblich werden.
"Denn dem Umfange der Staaten sind heute kaum noch Grenzen gesteckt, wo
Dampf und Elektrizität den politischen Körpern einen neuen Blutumlauf in
Gestalt der Eisenbahnen und ein neues Nervensystem in Gestalt von Tele¬
graphen gegeben haben."

Von den Unterthanen freilich kann die englische Negierung eine thatkräftige
Unterstützung feindseligen Bestrebungen gegenüber nicht erwarten. Die Eng¬
länder herrschen in Indien nicht durch den Willen des Volkes, und da wäre
es doch wunderbar, wenn der Inder für die Erhaltung der englischen Herr¬
schaft sein Gut und Blut einsetzen sollte. Man hört wohl von englischer Seite
versichern, daß sich die Unterthanen aus Dankbarkeit und in der richtigen Er¬
kenntnis ihres eignen Nutzens um ihre britischen Herren scharen würden. Kann
denn der Hindu anders, heißt es, als die fühlbaren Segnungen der englischen
Herrschaft mit den Greueln der frühern Anarchie vergleichen? Muß er sich
nicht sagen, daß mit dem Sturz dieser Herrschaft die alte Verwirrung unver¬
meidlich wiederkehren würde? Gewiß muß er das. Aber dabei vergißt man
nur, daß die großen Massen leider meist nicht von der Vernunft, sondern von
der Unvernunft geleitet werden. Man ist durchaus im Irrtum, wenn man
glaubt, daß sich irgend ein Teil der indischen Bevölkerung durch Rücksichten
auf das Gemeinwohl in seinen Handlungen bestimmen lassen würde. Gemein¬
wohl ist dem Inder ein ebenso unbekannter Begriff wie Vaterland, Patrio¬
tismus u. tgi. Der Einzelne fragt sich nicht, welche Folgen die britische Herr¬
schaft für das ganze Land hat, sondern jede einzelne soziale Gruppe überlegt,
wie ihre eigne Stellung, ihre Sonderinteressen dadurch beeinflußt worden sind.
"Nun kommen aber die Wohlthaten, die die Engländer dem Lande im allge-


Indische Zustände

des öffentlichen Lebens hat in allen zivilisirten Ländern die Stellung der Re¬
gierung gegenüber revolutionären Bestrebungen ungeheuer verstärkt. Durch
ein Heer von hohen und niedern Beamten streckt sie ihre Fühler nach allen
Richtungen aus, hat ihre Verbindungen in allen Schichten der Bevölkerung
und wird immer über die Bewegungen und Pläne aller feindlichen und um¬
stürzlerischen Elemente unterrichtet. Sie besitzt die Einheit der Leitung, die
ihren Gegnern abgeht. Sie beherrscht die Knotenpunkte der Straßen, die
Eisenbahnen und Telegraphen. Sie verfügt endlich über unerschöpfliche Geld¬
mittel. In Indien kommt noch hinzu, daß sie in der See eine unangreifbare
Basis hat, daß sie mit Hilfe ihrer Flotte die Meere beherrscht, das Land
wirksam gegen anßen absperren und die Einfuhr von Waffen, Munition u. tgi.
gänzlich verhindern kann. Das ungeheure auf der Halbinsel angelegte englische
Kapital, der gewaltige Handel zwischen den beiden Ländern hat neue Bande
um England und Indien geschlungen. Die Verbindung zwischen ihnen wird
von Jahr zu Jahr fester. Die räumliche Ausdehnung der indischen Halbinsel,
die früher jeden Versuch einer politischen Vereinigung verhinderte oder im
Keime erstickte, wird dem cmglv-indischen Reiche nicht mehr verderblich werden.
„Denn dem Umfange der Staaten sind heute kaum noch Grenzen gesteckt, wo
Dampf und Elektrizität den politischen Körpern einen neuen Blutumlauf in
Gestalt der Eisenbahnen und ein neues Nervensystem in Gestalt von Tele¬
graphen gegeben haben."

Von den Unterthanen freilich kann die englische Negierung eine thatkräftige
Unterstützung feindseligen Bestrebungen gegenüber nicht erwarten. Die Eng¬
länder herrschen in Indien nicht durch den Willen des Volkes, und da wäre
es doch wunderbar, wenn der Inder für die Erhaltung der englischen Herr¬
schaft sein Gut und Blut einsetzen sollte. Man hört wohl von englischer Seite
versichern, daß sich die Unterthanen aus Dankbarkeit und in der richtigen Er¬
kenntnis ihres eignen Nutzens um ihre britischen Herren scharen würden. Kann
denn der Hindu anders, heißt es, als die fühlbaren Segnungen der englischen
Herrschaft mit den Greueln der frühern Anarchie vergleichen? Muß er sich
nicht sagen, daß mit dem Sturz dieser Herrschaft die alte Verwirrung unver¬
meidlich wiederkehren würde? Gewiß muß er das. Aber dabei vergißt man
nur, daß die großen Massen leider meist nicht von der Vernunft, sondern von
der Unvernunft geleitet werden. Man ist durchaus im Irrtum, wenn man
glaubt, daß sich irgend ein Teil der indischen Bevölkerung durch Rücksichten
auf das Gemeinwohl in seinen Handlungen bestimmen lassen würde. Gemein¬
wohl ist dem Inder ein ebenso unbekannter Begriff wie Vaterland, Patrio¬
tismus u. tgi. Der Einzelne fragt sich nicht, welche Folgen die britische Herr¬
schaft für das ganze Land hat, sondern jede einzelne soziale Gruppe überlegt,
wie ihre eigne Stellung, ihre Sonderinteressen dadurch beeinflußt worden sind.
„Nun kommen aber die Wohlthaten, die die Engländer dem Lande im allge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0620" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216344"/>
          <fw type="header" place="top"> Indische Zustände</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2423" prev="#ID_2422"> des öffentlichen Lebens hat in allen zivilisirten Ländern die Stellung der Re¬<lb/>
gierung gegenüber revolutionären Bestrebungen ungeheuer verstärkt. Durch<lb/>
ein Heer von hohen und niedern Beamten streckt sie ihre Fühler nach allen<lb/>
Richtungen aus, hat ihre Verbindungen in allen Schichten der Bevölkerung<lb/>
und wird immer über die Bewegungen und Pläne aller feindlichen und um¬<lb/>
stürzlerischen Elemente unterrichtet. Sie besitzt die Einheit der Leitung, die<lb/>
ihren Gegnern abgeht. Sie beherrscht die Knotenpunkte der Straßen, die<lb/>
Eisenbahnen und Telegraphen. Sie verfügt endlich über unerschöpfliche Geld¬<lb/>
mittel. In Indien kommt noch hinzu, daß sie in der See eine unangreifbare<lb/>
Basis hat, daß sie mit Hilfe ihrer Flotte die Meere beherrscht, das Land<lb/>
wirksam gegen anßen absperren und die Einfuhr von Waffen, Munition u. tgi.<lb/>
gänzlich verhindern kann. Das ungeheure auf der Halbinsel angelegte englische<lb/>
Kapital, der gewaltige Handel zwischen den beiden Ländern hat neue Bande<lb/>
um England und Indien geschlungen. Die Verbindung zwischen ihnen wird<lb/>
von Jahr zu Jahr fester. Die räumliche Ausdehnung der indischen Halbinsel,<lb/>
die früher jeden Versuch einer politischen Vereinigung verhinderte oder im<lb/>
Keime erstickte, wird dem cmglv-indischen Reiche nicht mehr verderblich werden.<lb/>
&#x201E;Denn dem Umfange der Staaten sind heute kaum noch Grenzen gesteckt, wo<lb/>
Dampf und Elektrizität den politischen Körpern einen neuen Blutumlauf in<lb/>
Gestalt der Eisenbahnen und ein neues Nervensystem in Gestalt von Tele¬<lb/>
graphen gegeben haben."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2424" next="#ID_2425"> Von den Unterthanen freilich kann die englische Negierung eine thatkräftige<lb/>
Unterstützung feindseligen Bestrebungen gegenüber nicht erwarten. Die Eng¬<lb/>
länder herrschen in Indien nicht durch den Willen des Volkes, und da wäre<lb/>
es doch wunderbar, wenn der Inder für die Erhaltung der englischen Herr¬<lb/>
schaft sein Gut und Blut einsetzen sollte. Man hört wohl von englischer Seite<lb/>
versichern, daß sich die Unterthanen aus Dankbarkeit und in der richtigen Er¬<lb/>
kenntnis ihres eignen Nutzens um ihre britischen Herren scharen würden. Kann<lb/>
denn der Hindu anders, heißt es, als die fühlbaren Segnungen der englischen<lb/>
Herrschaft mit den Greueln der frühern Anarchie vergleichen? Muß er sich<lb/>
nicht sagen, daß mit dem Sturz dieser Herrschaft die alte Verwirrung unver¬<lb/>
meidlich wiederkehren würde? Gewiß muß er das. Aber dabei vergißt man<lb/>
nur, daß die großen Massen leider meist nicht von der Vernunft, sondern von<lb/>
der Unvernunft geleitet werden. Man ist durchaus im Irrtum, wenn man<lb/>
glaubt, daß sich irgend ein Teil der indischen Bevölkerung durch Rücksichten<lb/>
auf das Gemeinwohl in seinen Handlungen bestimmen lassen würde. Gemein¬<lb/>
wohl ist dem Inder ein ebenso unbekannter Begriff wie Vaterland, Patrio¬<lb/>
tismus u. tgi. Der Einzelne fragt sich nicht, welche Folgen die britische Herr¬<lb/>
schaft für das ganze Land hat, sondern jede einzelne soziale Gruppe überlegt,<lb/>
wie ihre eigne Stellung, ihre Sonderinteressen dadurch beeinflußt worden sind.<lb/>
&#x201E;Nun kommen aber die Wohlthaten, die die Engländer dem Lande im allge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0620] Indische Zustände des öffentlichen Lebens hat in allen zivilisirten Ländern die Stellung der Re¬ gierung gegenüber revolutionären Bestrebungen ungeheuer verstärkt. Durch ein Heer von hohen und niedern Beamten streckt sie ihre Fühler nach allen Richtungen aus, hat ihre Verbindungen in allen Schichten der Bevölkerung und wird immer über die Bewegungen und Pläne aller feindlichen und um¬ stürzlerischen Elemente unterrichtet. Sie besitzt die Einheit der Leitung, die ihren Gegnern abgeht. Sie beherrscht die Knotenpunkte der Straßen, die Eisenbahnen und Telegraphen. Sie verfügt endlich über unerschöpfliche Geld¬ mittel. In Indien kommt noch hinzu, daß sie in der See eine unangreifbare Basis hat, daß sie mit Hilfe ihrer Flotte die Meere beherrscht, das Land wirksam gegen anßen absperren und die Einfuhr von Waffen, Munition u. tgi. gänzlich verhindern kann. Das ungeheure auf der Halbinsel angelegte englische Kapital, der gewaltige Handel zwischen den beiden Ländern hat neue Bande um England und Indien geschlungen. Die Verbindung zwischen ihnen wird von Jahr zu Jahr fester. Die räumliche Ausdehnung der indischen Halbinsel, die früher jeden Versuch einer politischen Vereinigung verhinderte oder im Keime erstickte, wird dem cmglv-indischen Reiche nicht mehr verderblich werden. „Denn dem Umfange der Staaten sind heute kaum noch Grenzen gesteckt, wo Dampf und Elektrizität den politischen Körpern einen neuen Blutumlauf in Gestalt der Eisenbahnen und ein neues Nervensystem in Gestalt von Tele¬ graphen gegeben haben." Von den Unterthanen freilich kann die englische Negierung eine thatkräftige Unterstützung feindseligen Bestrebungen gegenüber nicht erwarten. Die Eng¬ länder herrschen in Indien nicht durch den Willen des Volkes, und da wäre es doch wunderbar, wenn der Inder für die Erhaltung der englischen Herr¬ schaft sein Gut und Blut einsetzen sollte. Man hört wohl von englischer Seite versichern, daß sich die Unterthanen aus Dankbarkeit und in der richtigen Er¬ kenntnis ihres eignen Nutzens um ihre britischen Herren scharen würden. Kann denn der Hindu anders, heißt es, als die fühlbaren Segnungen der englischen Herrschaft mit den Greueln der frühern Anarchie vergleichen? Muß er sich nicht sagen, daß mit dem Sturz dieser Herrschaft die alte Verwirrung unver¬ meidlich wiederkehren würde? Gewiß muß er das. Aber dabei vergißt man nur, daß die großen Massen leider meist nicht von der Vernunft, sondern von der Unvernunft geleitet werden. Man ist durchaus im Irrtum, wenn man glaubt, daß sich irgend ein Teil der indischen Bevölkerung durch Rücksichten auf das Gemeinwohl in seinen Handlungen bestimmen lassen würde. Gemein¬ wohl ist dem Inder ein ebenso unbekannter Begriff wie Vaterland, Patrio¬ tismus u. tgi. Der Einzelne fragt sich nicht, welche Folgen die britische Herr¬ schaft für das ganze Land hat, sondern jede einzelne soziale Gruppe überlegt, wie ihre eigne Stellung, ihre Sonderinteressen dadurch beeinflußt worden sind. „Nun kommen aber die Wohlthaten, die die Engländer dem Lande im allge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/620
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/620>, abgerufen am 04.07.2024.