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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Indische Zustände

Jahrhundert ununterbrochner Siege weckt natürlich den Stolz des Kriegers
auf seine ruhmreichen Fahnen; ein kameradschaftlicher Ton, eine warme Für¬
sorge und eine vorbildliche Tapferkeit gewinnen dem britischen Offizier die per¬
sönliche Zuneigung seiner Untergebnen; und die langerprobte Zahlungsfähig¬
keit und Zahlungswilligkeit der englischen Regierung fesselt den Söldner mit
seinem eignen Interesse an ihre Seite. ,

Aber wer möchte deshalb behaupten, daß die Treue der Sepoys niemals
wanken könnte? Noch hat jede Negierung, die sich aus fremde Söldnertruppeu
stützte, über kurz oder laug deren Unzuverlässigkeit erfahren. Schlechte Be¬
handlung weckt den Unmut des Mietlings, gute leicht seinen Übermut, und
es ist schwierig für den Führer, immer das richtige Maß zu treffen, besonders
schwierig in Indien, wo die Verschiedenartigkeit der Anschauungen, Gefühle und
Sitten dem britischen Offizier das Verständnis für die wechselnden Stimmungen
seiner Untergebnen trübt. Das Wesen deS Sepoys ist schwer zu ergründen;
dem Auge des Europäers zeigt er meist nur die offner zu Tage liegenden Licht¬
seiten seines Wesens. Aber wer kann Nüssen, was in der Tiefe schlummert?
Ferner: das Blut des Inders ist rasch erregt, und seine religiösen Gefühle
sind leicht verletzt. Mag auch die Ruhe heute nicht bloß scheinbar sein, wer
bürgt dafür, daß sie morgen nicht gestört wird? Man denke an die gefettete"
Patronen von 1857 und um die prophetischen Worte, die der neuernannte
Bizekönig Lord Canning 1856 vor seiner Abreise nach Indien sprach: "An
dem indischen Himmel, mag er noch so klar sein, kann plötzlich eine kleine Wolke
aufsteigen, die, zuerst nicht breiter als eine Hand, rasch größer und größer
wird und uns zuletzt mit Unheil zu überschütten droht." Schon früher ein¬
mal hatten die Sepoys in Südindien gemeutert (mntinA cet Vvllnro 1796).
Der große Aufstand von 1857 ist bekannt genng. Wer wollte behaupten, daß
sich dergleichen nicht wiederholen könnte?

Eine Meuterei unter den einheimischen Söldnern ist immer möglich, und
deshalb haben die Engländer Vorkehrungen getroffen, ihr besser begegnen zu
können als 1857. Die britische Regierung hat die Lehren jenes furchtbaren
Jahres nicht vergessen. Der Aufruhr verbreitete sich damals so rasch über
die gesamte Rengalarmee, weil sich diese in der Hauptsache aus einer be¬
stimmten Klasse rekrutirte. Fast die ganze Infanterie bestand aus Brah-
manen und Nadschputeu von Audh und den Nordwestprvvinzen, also aus
Leuten verbunden durch Gemeinsamkeit der Interessen und Anschauungen und
mehr als andre unter dem Einfluß von religiösen Gefühlen und Kastenvor-
nrteile". Heutzutage ziehe" die Madras- und Vombaharmeeu ihre Rekruten
aus viele" verschiednen Stämmen und Kasten des Dckknn und mischen sie in
den Regimentern durch einander, während in der zahlreichern und wichtigern
Bengalarmee die verschiednen Rassen, Religionen und .Kasten meistens kom¬
pagnieweise getrennt gehalten werden, sodaß z. B. ein Regiment zwei Kom-


Indische Zustände

Jahrhundert ununterbrochner Siege weckt natürlich den Stolz des Kriegers
auf seine ruhmreichen Fahnen; ein kameradschaftlicher Ton, eine warme Für¬
sorge und eine vorbildliche Tapferkeit gewinnen dem britischen Offizier die per¬
sönliche Zuneigung seiner Untergebnen; und die langerprobte Zahlungsfähig¬
keit und Zahlungswilligkeit der englischen Regierung fesselt den Söldner mit
seinem eignen Interesse an ihre Seite. ,

Aber wer möchte deshalb behaupten, daß die Treue der Sepoys niemals
wanken könnte? Noch hat jede Negierung, die sich aus fremde Söldnertruppeu
stützte, über kurz oder laug deren Unzuverlässigkeit erfahren. Schlechte Be¬
handlung weckt den Unmut des Mietlings, gute leicht seinen Übermut, und
es ist schwierig für den Führer, immer das richtige Maß zu treffen, besonders
schwierig in Indien, wo die Verschiedenartigkeit der Anschauungen, Gefühle und
Sitten dem britischen Offizier das Verständnis für die wechselnden Stimmungen
seiner Untergebnen trübt. Das Wesen deS Sepoys ist schwer zu ergründen;
dem Auge des Europäers zeigt er meist nur die offner zu Tage liegenden Licht¬
seiten seines Wesens. Aber wer kann Nüssen, was in der Tiefe schlummert?
Ferner: das Blut des Inders ist rasch erregt, und seine religiösen Gefühle
sind leicht verletzt. Mag auch die Ruhe heute nicht bloß scheinbar sein, wer
bürgt dafür, daß sie morgen nicht gestört wird? Man denke an die gefettete»
Patronen von 1857 und um die prophetischen Worte, die der neuernannte
Bizekönig Lord Canning 1856 vor seiner Abreise nach Indien sprach: „An
dem indischen Himmel, mag er noch so klar sein, kann plötzlich eine kleine Wolke
aufsteigen, die, zuerst nicht breiter als eine Hand, rasch größer und größer
wird und uns zuletzt mit Unheil zu überschütten droht." Schon früher ein¬
mal hatten die Sepoys in Südindien gemeutert (mntinA cet Vvllnro 1796).
Der große Aufstand von 1857 ist bekannt genng. Wer wollte behaupten, daß
sich dergleichen nicht wiederholen könnte?

Eine Meuterei unter den einheimischen Söldnern ist immer möglich, und
deshalb haben die Engländer Vorkehrungen getroffen, ihr besser begegnen zu
können als 1857. Die britische Regierung hat die Lehren jenes furchtbaren
Jahres nicht vergessen. Der Aufruhr verbreitete sich damals so rasch über
die gesamte Rengalarmee, weil sich diese in der Hauptsache aus einer be¬
stimmten Klasse rekrutirte. Fast die ganze Infanterie bestand aus Brah-
manen und Nadschputeu von Audh und den Nordwestprvvinzen, also aus
Leuten verbunden durch Gemeinsamkeit der Interessen und Anschauungen und
mehr als andre unter dem Einfluß von religiösen Gefühlen und Kastenvor-
nrteile». Heutzutage ziehe» die Madras- und Vombaharmeeu ihre Rekruten
aus viele» verschiednen Stämmen und Kasten des Dckknn und mischen sie in
den Regimentern durch einander, während in der zahlreichern und wichtigern
Bengalarmee die verschiednen Rassen, Religionen und .Kasten meistens kom¬
pagnieweise getrennt gehalten werden, sodaß z. B. ein Regiment zwei Kom-


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[0618] Indische Zustände Jahrhundert ununterbrochner Siege weckt natürlich den Stolz des Kriegers auf seine ruhmreichen Fahnen; ein kameradschaftlicher Ton, eine warme Für¬ sorge und eine vorbildliche Tapferkeit gewinnen dem britischen Offizier die per¬ sönliche Zuneigung seiner Untergebnen; und die langerprobte Zahlungsfähig¬ keit und Zahlungswilligkeit der englischen Regierung fesselt den Söldner mit seinem eignen Interesse an ihre Seite. , Aber wer möchte deshalb behaupten, daß die Treue der Sepoys niemals wanken könnte? Noch hat jede Negierung, die sich aus fremde Söldnertruppeu stützte, über kurz oder laug deren Unzuverlässigkeit erfahren. Schlechte Be¬ handlung weckt den Unmut des Mietlings, gute leicht seinen Übermut, und es ist schwierig für den Führer, immer das richtige Maß zu treffen, besonders schwierig in Indien, wo die Verschiedenartigkeit der Anschauungen, Gefühle und Sitten dem britischen Offizier das Verständnis für die wechselnden Stimmungen seiner Untergebnen trübt. Das Wesen deS Sepoys ist schwer zu ergründen; dem Auge des Europäers zeigt er meist nur die offner zu Tage liegenden Licht¬ seiten seines Wesens. Aber wer kann Nüssen, was in der Tiefe schlummert? Ferner: das Blut des Inders ist rasch erregt, und seine religiösen Gefühle sind leicht verletzt. Mag auch die Ruhe heute nicht bloß scheinbar sein, wer bürgt dafür, daß sie morgen nicht gestört wird? Man denke an die gefettete» Patronen von 1857 und um die prophetischen Worte, die der neuernannte Bizekönig Lord Canning 1856 vor seiner Abreise nach Indien sprach: „An dem indischen Himmel, mag er noch so klar sein, kann plötzlich eine kleine Wolke aufsteigen, die, zuerst nicht breiter als eine Hand, rasch größer und größer wird und uns zuletzt mit Unheil zu überschütten droht." Schon früher ein¬ mal hatten die Sepoys in Südindien gemeutert (mntinA cet Vvllnro 1796). Der große Aufstand von 1857 ist bekannt genng. Wer wollte behaupten, daß sich dergleichen nicht wiederholen könnte? Eine Meuterei unter den einheimischen Söldnern ist immer möglich, und deshalb haben die Engländer Vorkehrungen getroffen, ihr besser begegnen zu können als 1857. Die britische Regierung hat die Lehren jenes furchtbaren Jahres nicht vergessen. Der Aufruhr verbreitete sich damals so rasch über die gesamte Rengalarmee, weil sich diese in der Hauptsache aus einer be¬ stimmten Klasse rekrutirte. Fast die ganze Infanterie bestand aus Brah- manen und Nadschputeu von Audh und den Nordwestprvvinzen, also aus Leuten verbunden durch Gemeinsamkeit der Interessen und Anschauungen und mehr als andre unter dem Einfluß von religiösen Gefühlen und Kastenvor- nrteile». Heutzutage ziehe» die Madras- und Vombaharmeeu ihre Rekruten aus viele» verschiednen Stämmen und Kasten des Dckknn und mischen sie in den Regimentern durch einander, während in der zahlreichern und wichtigern Bengalarmee die verschiednen Rassen, Religionen und .Kasten meistens kom¬ pagnieweise getrennt gehalten werden, sodaß z. B. ein Regiment zwei Kom-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/618>, abgerufen am 30.06.2024.