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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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lismus folgert zur Beruhigung der eignen Gemüter also: Es ist ein in der
Völkergeschichte stets wiederkehrendes Gesetz, daß in allen Erregungen, vou
denen vou Zeit zu Zeit das Gemüt das Volkes ergriffen wird, nur die die
Führung behaupten können, die am lautesten schreien und den Massen die
tollsten Hirngespinste vormachen. Wendet man dies auf deu Antisemitismus
an, so kann man sich schon zufrieden geben; je wilder die gestellte" For-
derungen sind, um so eher werden sie sich den Augen aller als Utopien er¬
weisen, und um so früher wird die Bewegung im Sande verlaufen sein.

Soll man darauf wirklich noch etwas ernsthaftes erwidern? Überall, wo
es sich in der Geschichte um Erregungeu der Volksseele gehandelt hat, wo es
in Wirklichkeit ein Leiden war, das die Volksseele in Sorge, Not und Angst
versetzte, hat sich das Gesetz offenbart, daß, wie sich bei einer jeden Gu'rnng
das Unklare, Unreine zu Boden schlug, das Wesentliche aber, das Reine und
das Gute nach oben trat. Die Freiheitsbewegung der mittlern Stände gegen
den Feudalismus hat viel Vortreffliches zu Tage gefördert, aber es ist eine
Thorheit, zu glauben, daß damit der Prozeß zu Eude sei. Kann der über¬
haupt zu einem andern als einem vorläufigen Abschluß gelangen? Es bleiben
immer Reste, und der Rest, den die Bourgeoisie gelassen hat, ist sehr groß.
Um diesen handelt es sich, wenn in neuerer Zeit die Sozialdemokratie auf den
Kampfplatz getreten ist, und wem? sich ihr in der neuesten Zeit die christlich-
soziale Partei zugesellt hat.

In dein Kampfe um eine vollkommnere Ausgestaltung des Menschenlebens
in der Form des Staats ist der Antisemitismus die ucitnruotweudige Ergän¬
zung der Sozialdemokratie. Er verhält sich zu ihr, wie das Herz zu dem
Kopfe. Diese kämpft um ein Ideal, aber das läßt sich uicht mit dem Ver¬
stände allein erreichen. Wenn es möglich wäre, so müßte sich durch formalen
Zwang allein auch der sozialdemokrntische Staat mit seinem Kommunismus
und mit der Aufhebung alles Individualismus verwirklichen lassen. Aber er
wird immer eine Unmöglichkeit bleiben, weil er gerade den Einzelwillen und
damit alle Voraussetzung jedes Lebens aufhebt. Die Sozialdemokratie läßt
eine große Lücke, aber in diese springt der Antisemitismus ein. Während die
Sozialdemokratie bis dahin nur für die materielle Hebung des Arbeiterstandes
eingetreten war, denn in ihrem Zukunftsstaate soll Religion "Privatsache" sein,
holt dieser die vernachlässigte sittliche Seite nach und stellt sie sogar in
den Vordergrund. Die "Genossen" bekämpfen den Kapitalismus, das heißt
die ins System gebrachte Geldmacht zur Erwerbung weiterer Mittel, die Anti-
semiten den Mammonismus, das heißt das selbstsüchtige Leben und Hasten
der Menschen im Gelde zur Schädigung andrer und um der eignen Lust
zu fröhnen.

Man könnte noch an andern Punkten darthun , wie sich in den Bestre¬
bungen der zwei Parteien die beiden Seiten alles menschlichen Lebens zeigen,


lismus folgert zur Beruhigung der eignen Gemüter also: Es ist ein in der
Völkergeschichte stets wiederkehrendes Gesetz, daß in allen Erregungen, vou
denen vou Zeit zu Zeit das Gemüt das Volkes ergriffen wird, nur die die
Führung behaupten können, die am lautesten schreien und den Massen die
tollsten Hirngespinste vormachen. Wendet man dies auf deu Antisemitismus
an, so kann man sich schon zufrieden geben; je wilder die gestellte» For-
derungen sind, um so eher werden sie sich den Augen aller als Utopien er¬
weisen, und um so früher wird die Bewegung im Sande verlaufen sein.

Soll man darauf wirklich noch etwas ernsthaftes erwidern? Überall, wo
es sich in der Geschichte um Erregungeu der Volksseele gehandelt hat, wo es
in Wirklichkeit ein Leiden war, das die Volksseele in Sorge, Not und Angst
versetzte, hat sich das Gesetz offenbart, daß, wie sich bei einer jeden Gu'rnng
das Unklare, Unreine zu Boden schlug, das Wesentliche aber, das Reine und
das Gute nach oben trat. Die Freiheitsbewegung der mittlern Stände gegen
den Feudalismus hat viel Vortreffliches zu Tage gefördert, aber es ist eine
Thorheit, zu glauben, daß damit der Prozeß zu Eude sei. Kann der über¬
haupt zu einem andern als einem vorläufigen Abschluß gelangen? Es bleiben
immer Reste, und der Rest, den die Bourgeoisie gelassen hat, ist sehr groß.
Um diesen handelt es sich, wenn in neuerer Zeit die Sozialdemokratie auf den
Kampfplatz getreten ist, und wem? sich ihr in der neuesten Zeit die christlich-
soziale Partei zugesellt hat.

In dein Kampfe um eine vollkommnere Ausgestaltung des Menschenlebens
in der Form des Staats ist der Antisemitismus die ucitnruotweudige Ergän¬
zung der Sozialdemokratie. Er verhält sich zu ihr, wie das Herz zu dem
Kopfe. Diese kämpft um ein Ideal, aber das läßt sich uicht mit dem Ver¬
stände allein erreichen. Wenn es möglich wäre, so müßte sich durch formalen
Zwang allein auch der sozialdemokrntische Staat mit seinem Kommunismus
und mit der Aufhebung alles Individualismus verwirklichen lassen. Aber er
wird immer eine Unmöglichkeit bleiben, weil er gerade den Einzelwillen und
damit alle Voraussetzung jedes Lebens aufhebt. Die Sozialdemokratie läßt
eine große Lücke, aber in diese springt der Antisemitismus ein. Während die
Sozialdemokratie bis dahin nur für die materielle Hebung des Arbeiterstandes
eingetreten war, denn in ihrem Zukunftsstaate soll Religion „Privatsache" sein,
holt dieser die vernachlässigte sittliche Seite nach und stellt sie sogar in
den Vordergrund. Die „Genossen" bekämpfen den Kapitalismus, das heißt
die ins System gebrachte Geldmacht zur Erwerbung weiterer Mittel, die Anti-
semiten den Mammonismus, das heißt das selbstsüchtige Leben und Hasten
der Menschen im Gelde zur Schädigung andrer und um der eignen Lust
zu fröhnen.

Man könnte noch an andern Punkten darthun , wie sich in den Bestre¬
bungen der zwei Parteien die beiden Seiten alles menschlichen Lebens zeigen,


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[0616] lismus folgert zur Beruhigung der eignen Gemüter also: Es ist ein in der Völkergeschichte stets wiederkehrendes Gesetz, daß in allen Erregungen, vou denen vou Zeit zu Zeit das Gemüt das Volkes ergriffen wird, nur die die Führung behaupten können, die am lautesten schreien und den Massen die tollsten Hirngespinste vormachen. Wendet man dies auf deu Antisemitismus an, so kann man sich schon zufrieden geben; je wilder die gestellte» For- derungen sind, um so eher werden sie sich den Augen aller als Utopien er¬ weisen, und um so früher wird die Bewegung im Sande verlaufen sein. Soll man darauf wirklich noch etwas ernsthaftes erwidern? Überall, wo es sich in der Geschichte um Erregungeu der Volksseele gehandelt hat, wo es in Wirklichkeit ein Leiden war, das die Volksseele in Sorge, Not und Angst versetzte, hat sich das Gesetz offenbart, daß, wie sich bei einer jeden Gu'rnng das Unklare, Unreine zu Boden schlug, das Wesentliche aber, das Reine und das Gute nach oben trat. Die Freiheitsbewegung der mittlern Stände gegen den Feudalismus hat viel Vortreffliches zu Tage gefördert, aber es ist eine Thorheit, zu glauben, daß damit der Prozeß zu Eude sei. Kann der über¬ haupt zu einem andern als einem vorläufigen Abschluß gelangen? Es bleiben immer Reste, und der Rest, den die Bourgeoisie gelassen hat, ist sehr groß. Um diesen handelt es sich, wenn in neuerer Zeit die Sozialdemokratie auf den Kampfplatz getreten ist, und wem? sich ihr in der neuesten Zeit die christlich- soziale Partei zugesellt hat. In dein Kampfe um eine vollkommnere Ausgestaltung des Menschenlebens in der Form des Staats ist der Antisemitismus die ucitnruotweudige Ergän¬ zung der Sozialdemokratie. Er verhält sich zu ihr, wie das Herz zu dem Kopfe. Diese kämpft um ein Ideal, aber das läßt sich uicht mit dem Ver¬ stände allein erreichen. Wenn es möglich wäre, so müßte sich durch formalen Zwang allein auch der sozialdemokrntische Staat mit seinem Kommunismus und mit der Aufhebung alles Individualismus verwirklichen lassen. Aber er wird immer eine Unmöglichkeit bleiben, weil er gerade den Einzelwillen und damit alle Voraussetzung jedes Lebens aufhebt. Die Sozialdemokratie läßt eine große Lücke, aber in diese springt der Antisemitismus ein. Während die Sozialdemokratie bis dahin nur für die materielle Hebung des Arbeiterstandes eingetreten war, denn in ihrem Zukunftsstaate soll Religion „Privatsache" sein, holt dieser die vernachlässigte sittliche Seite nach und stellt sie sogar in den Vordergrund. Die „Genossen" bekämpfen den Kapitalismus, das heißt die ins System gebrachte Geldmacht zur Erwerbung weiterer Mittel, die Anti- semiten den Mammonismus, das heißt das selbstsüchtige Leben und Hasten der Menschen im Gelde zur Schädigung andrer und um der eignen Lust zu fröhnen. Man könnte noch an andern Punkten darthun , wie sich in den Bestre¬ bungen der zwei Parteien die beiden Seiten alles menschlichen Lebens zeigen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/616>, abgerufen am 30.06.2024.