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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Morte oder Thaten?

bis ins dritte und vierte Glied zurück. Es fingen an sich zu verwischen Re¬
ligionsantisemitismus und Nasfenautisemitismus, und was übrig blieb, war
der Kapitalantisemitismus, und das ist das Gefährliche der Agitation. Das
Gefährliche ist, daß zuletzt nicht mehr unterschieden wird, und die Kreise, an
die Sie sich so vielfach wenden, sind nicht geneigt oder vielleicht nicht geeignet,
dies wohl zu unterscheiden. Diese Kreise erkennen nur: hier geht es gegen
das Kapital. Vielfach sind Interessen durch das Kapital verletzt wordeu, und
das hat sie aufgebracht; es geht ihnen schlecht, sie sehen andre Leute mit Ka¬
pital besser und bequemer leben. Also der Haß, die Abneigung der Menschen
richtet sich gegen das Kapital, und die Bewegung wird, wenn sie überhaupt
weiter in Gang kommt, vor dem jüdischen Kapital nicht stehen bleiben können,
sondern sie richtet sich gegen das Kapital überhaupt. Das haben Sie mit der
Sozialdemokratie gemeinsam."

Das ist ja recht schön und gut, aber ist das alles? Wenn die Regierung
weiter nichts darüber zu sagen hat, so muß mau ihr doch erwidern: Genuß
ist die wüste Agitation ein schlimmes Übel, die sich an jede neue Strömung
im Gesellschaftsleben eines Volkes knüpft. Aber sie ist vielleicht uur ein not¬
wendiges Übel, und zehnmal schlimmer als die wüsteste Agitation ist eine Re¬
gierung, die in brennenden Tagesfragen immer nur zu reden und nicht zu
handeln weiß. Der Reichskanzler hat in derselben Rede auch gesagt, wenn
jemand "die Absicht habe, im Reichstage über auswärtige Politik zu sprechen,
so müsse er einige historische Kenntnisse haben." Dagegen sind Nur der Mei¬
nung: wenn sich jemand überhaupt mit Politik befassen will, so helfen ihm
die tiefsten historischen Kenntnisse allein gar nichts. Sonst müßte der ge¬
lehrteste Geschichtsprofessor der fähigste Staatsmann sein, eine Annahme, die
mau freilich schon mit bloßen historischen Kenntnissen widerlegen kann. Aber
für den Politiker reicht die bloße Kenntnis der Vergangenheit nicht aus, er
muß auch seine Weisheit für die Gegenwart fruchtbar machen können. Nur
wer ans den abgeschlossenen Ereignissen zu erkennen vermag, wie sich die
werdenden gestalten, ist berufen, die Geschicke eines Volkes lenken -- zu helfen.
Deun sie selbständig zu lenken, dazu gehört noch einiges mehr. Herr von
Caprivi hätte aus der Geschichte unsers Jahrhunderts wohl lernen können, daß
eine Regierung, die zu den brennendsten Tagesfragen keine andre Stellung findet,
als daß sie schöne Reden darüber hält, gleich wie ein Rohr ist, das vom Winde
hin und her bewegt wird. Unter der Regierung Friedrich Wilhelms IV. waren
die deutscheu Einheitsbestrebungen die Tagesfrage, und sie waren mindestens von
ebenso unangenehmen Erscheinungen begleitet, wie heute der Antisemitismus.
Aber blutiges Elend und heillose Berwirrnug entstanden doch nur dadurch, daß
die preußische Regierung sür diese Tagesfrage so wenig Verständnis hatte, wie
heute die Reichsregierung für die Zeichen der Zeit, daß sie sich erst die Libe¬
ralen und dann die Reaktionäre über deu Kopf wachsen ließ und weder den


Morte oder Thaten?

bis ins dritte und vierte Glied zurück. Es fingen an sich zu verwischen Re¬
ligionsantisemitismus und Nasfenautisemitismus, und was übrig blieb, war
der Kapitalantisemitismus, und das ist das Gefährliche der Agitation. Das
Gefährliche ist, daß zuletzt nicht mehr unterschieden wird, und die Kreise, an
die Sie sich so vielfach wenden, sind nicht geneigt oder vielleicht nicht geeignet,
dies wohl zu unterscheiden. Diese Kreise erkennen nur: hier geht es gegen
das Kapital. Vielfach sind Interessen durch das Kapital verletzt wordeu, und
das hat sie aufgebracht; es geht ihnen schlecht, sie sehen andre Leute mit Ka¬
pital besser und bequemer leben. Also der Haß, die Abneigung der Menschen
richtet sich gegen das Kapital, und die Bewegung wird, wenn sie überhaupt
weiter in Gang kommt, vor dem jüdischen Kapital nicht stehen bleiben können,
sondern sie richtet sich gegen das Kapital überhaupt. Das haben Sie mit der
Sozialdemokratie gemeinsam."

Das ist ja recht schön und gut, aber ist das alles? Wenn die Regierung
weiter nichts darüber zu sagen hat, so muß mau ihr doch erwidern: Genuß
ist die wüste Agitation ein schlimmes Übel, die sich an jede neue Strömung
im Gesellschaftsleben eines Volkes knüpft. Aber sie ist vielleicht uur ein not¬
wendiges Übel, und zehnmal schlimmer als die wüsteste Agitation ist eine Re¬
gierung, die in brennenden Tagesfragen immer nur zu reden und nicht zu
handeln weiß. Der Reichskanzler hat in derselben Rede auch gesagt, wenn
jemand „die Absicht habe, im Reichstage über auswärtige Politik zu sprechen,
so müsse er einige historische Kenntnisse haben." Dagegen sind Nur der Mei¬
nung: wenn sich jemand überhaupt mit Politik befassen will, so helfen ihm
die tiefsten historischen Kenntnisse allein gar nichts. Sonst müßte der ge¬
lehrteste Geschichtsprofessor der fähigste Staatsmann sein, eine Annahme, die
mau freilich schon mit bloßen historischen Kenntnissen widerlegen kann. Aber
für den Politiker reicht die bloße Kenntnis der Vergangenheit nicht aus, er
muß auch seine Weisheit für die Gegenwart fruchtbar machen können. Nur
wer ans den abgeschlossenen Ereignissen zu erkennen vermag, wie sich die
werdenden gestalten, ist berufen, die Geschicke eines Volkes lenken — zu helfen.
Deun sie selbständig zu lenken, dazu gehört noch einiges mehr. Herr von
Caprivi hätte aus der Geschichte unsers Jahrhunderts wohl lernen können, daß
eine Regierung, die zu den brennendsten Tagesfragen keine andre Stellung findet,
als daß sie schöne Reden darüber hält, gleich wie ein Rohr ist, das vom Winde
hin und her bewegt wird. Unter der Regierung Friedrich Wilhelms IV. waren
die deutscheu Einheitsbestrebungen die Tagesfrage, und sie waren mindestens von
ebenso unangenehmen Erscheinungen begleitet, wie heute der Antisemitismus.
Aber blutiges Elend und heillose Berwirrnug entstanden doch nur dadurch, daß
die preußische Regierung sür diese Tagesfrage so wenig Verständnis hatte, wie
heute die Reichsregierung für die Zeichen der Zeit, daß sie sich erst die Libe¬
ralen und dann die Reaktionäre über deu Kopf wachsen ließ und weder den


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[0562] Morte oder Thaten? bis ins dritte und vierte Glied zurück. Es fingen an sich zu verwischen Re¬ ligionsantisemitismus und Nasfenautisemitismus, und was übrig blieb, war der Kapitalantisemitismus, und das ist das Gefährliche der Agitation. Das Gefährliche ist, daß zuletzt nicht mehr unterschieden wird, und die Kreise, an die Sie sich so vielfach wenden, sind nicht geneigt oder vielleicht nicht geeignet, dies wohl zu unterscheiden. Diese Kreise erkennen nur: hier geht es gegen das Kapital. Vielfach sind Interessen durch das Kapital verletzt wordeu, und das hat sie aufgebracht; es geht ihnen schlecht, sie sehen andre Leute mit Ka¬ pital besser und bequemer leben. Also der Haß, die Abneigung der Menschen richtet sich gegen das Kapital, und die Bewegung wird, wenn sie überhaupt weiter in Gang kommt, vor dem jüdischen Kapital nicht stehen bleiben können, sondern sie richtet sich gegen das Kapital überhaupt. Das haben Sie mit der Sozialdemokratie gemeinsam." Das ist ja recht schön und gut, aber ist das alles? Wenn die Regierung weiter nichts darüber zu sagen hat, so muß mau ihr doch erwidern: Genuß ist die wüste Agitation ein schlimmes Übel, die sich an jede neue Strömung im Gesellschaftsleben eines Volkes knüpft. Aber sie ist vielleicht uur ein not¬ wendiges Übel, und zehnmal schlimmer als die wüsteste Agitation ist eine Re¬ gierung, die in brennenden Tagesfragen immer nur zu reden und nicht zu handeln weiß. Der Reichskanzler hat in derselben Rede auch gesagt, wenn jemand „die Absicht habe, im Reichstage über auswärtige Politik zu sprechen, so müsse er einige historische Kenntnisse haben." Dagegen sind Nur der Mei¬ nung: wenn sich jemand überhaupt mit Politik befassen will, so helfen ihm die tiefsten historischen Kenntnisse allein gar nichts. Sonst müßte der ge¬ lehrteste Geschichtsprofessor der fähigste Staatsmann sein, eine Annahme, die mau freilich schon mit bloßen historischen Kenntnissen widerlegen kann. Aber für den Politiker reicht die bloße Kenntnis der Vergangenheit nicht aus, er muß auch seine Weisheit für die Gegenwart fruchtbar machen können. Nur wer ans den abgeschlossenen Ereignissen zu erkennen vermag, wie sich die werdenden gestalten, ist berufen, die Geschicke eines Volkes lenken — zu helfen. Deun sie selbständig zu lenken, dazu gehört noch einiges mehr. Herr von Caprivi hätte aus der Geschichte unsers Jahrhunderts wohl lernen können, daß eine Regierung, die zu den brennendsten Tagesfragen keine andre Stellung findet, als daß sie schöne Reden darüber hält, gleich wie ein Rohr ist, das vom Winde hin und her bewegt wird. Unter der Regierung Friedrich Wilhelms IV. waren die deutscheu Einheitsbestrebungen die Tagesfrage, und sie waren mindestens von ebenso unangenehmen Erscheinungen begleitet, wie heute der Antisemitismus. Aber blutiges Elend und heillose Berwirrnug entstanden doch nur dadurch, daß die preußische Regierung sür diese Tagesfrage so wenig Verständnis hatte, wie heute die Reichsregierung für die Zeichen der Zeit, daß sie sich erst die Libe¬ ralen und dann die Reaktionäre über deu Kopf wachsen ließ und weder den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/562>, abgerufen am 30.06.2024.