Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bildung

Ämter und Stellen von der Gunst und Parteilichkeit der Vergebenden nach
Möglichkeit frei zu machen. Das ist ihre einzige Bedeutung. Zum Beför¬
derungsmittel der Bildung taugen sie nicht. Im Gegenteil, für ruhige Ent¬
wicklung und Aneignung sind sie eine schwere Gefahr. In der Natur jeder
Prüfung, die nicht eine rein innere Angelegenheit zwischen dem Lehrer und
dem Schüler ist, liegt es, die Aufmerksamkeit von der Sache abzulenken; das
Bestehen der Prüfung wird Zweck, und das Lernen Mittel. Mit Mitteln
wird es aber überall so gehalten, daß man mit dem geringsten Aufwand den
größten Erfolg zu erzielen sucht, Mittel haben ja keinen Eigenwert. Und
mau sage nicht, thatsächlich werde doch der Zweck, die Erkenntnis oder Fer¬
tigkeit erreicht. Es ist etwas andres, eine Sache verstehen und eine Prü¬
fung in ihr bestehen; zu dem letztern genügt in fünf von zehn Fällen anch
der bloße Schein der Sache. Es kann jemand eine Prüfung über Philosophie
und deutsche Litteraturgeschichte, über Kant und Goethe bestehen, ohne daß
ihm von Kants oder Goethes Geist etwas aufgegangen ist, ja ohne daß er
sie gelesen hat. Umgekehrt: es kann jemand Kant und Goethe gelesen und
für seine wirkliche Bildung höchst fruchtbare Einwirkung von ihnen empfangen
haben, ohne daß er eine Prüfung über sie bestehen kann. Ja beinahe kann
man sagen: der Sache sich allzu sehr hingeben, ist uicht ohne Gefahr, der
Kandidat möchte sich dadurch in falsche Sicherheit einwiegen lassen und die
Erwerbung der höchst nötigen Antworten auf allerlei Examenfragen versäumen.
Das merken natürlich auch die Kandidaten. Und darum hat eine Prüfung
immer die Tendenz, mag auch der Examinator der verständigste und wohl¬
meinendste Mann von der Welt sein, das Lernen, das ihr vorhergeht, ans
die äußerlichen und zufälligen Dinge hinzulenken und es damit für die wirk¬
liche Bildung unfruchtbar zu machen. Am meisten wird sich diese Tendenz
bei den Prüfungen durchsetzen, bei denen es sich um die sogenannte "allgemeine
Bildung" handelt; Prüfungen im Fachwissen und Fertigkeiten sind uicht so
gefährlich. Wenn ich mich nicht täusche, sind die Prüfungen, mit denen im
neunzehnten Jahrhundert die Schulverwaltungen die "allgemeine Bildung" zu
befördern sich haben angelegen sein lassen, eine der Ursachen, die den banau-
sischen Sinn in den gelehrten Ständen haben großziehen helfen. Sie töten
das innere Verhältnis zur Sache. Wer sich zum Behuf eines Verhörs in
der allgemeinen Bildung die Reihenfolge der biblischen Bücher, oder die Namen
der zwölf Stämme Israel, oder ein Kompendium der Geschichte der Philo¬
sophie und Pädagogik mit einem Ragout zusammenhangsloser Sätze eingeprägt
hat, der wendet sich leicht für immer von diesen Dingen ab, mit der Empfin¬
dung, daß sie überhaupt ungenießbar seien. Durch die erzwungne Beschäfti¬
gung wird die freie lind ans innerer Teilnahme an der Sache fließende leicht
zurückgedrängt oder ganz verdrängt; lind doch ist diese allein für die innere
Bildung fruchtbar.


Bildung

Ämter und Stellen von der Gunst und Parteilichkeit der Vergebenden nach
Möglichkeit frei zu machen. Das ist ihre einzige Bedeutung. Zum Beför¬
derungsmittel der Bildung taugen sie nicht. Im Gegenteil, für ruhige Ent¬
wicklung und Aneignung sind sie eine schwere Gefahr. In der Natur jeder
Prüfung, die nicht eine rein innere Angelegenheit zwischen dem Lehrer und
dem Schüler ist, liegt es, die Aufmerksamkeit von der Sache abzulenken; das
Bestehen der Prüfung wird Zweck, und das Lernen Mittel. Mit Mitteln
wird es aber überall so gehalten, daß man mit dem geringsten Aufwand den
größten Erfolg zu erzielen sucht, Mittel haben ja keinen Eigenwert. Und
mau sage nicht, thatsächlich werde doch der Zweck, die Erkenntnis oder Fer¬
tigkeit erreicht. Es ist etwas andres, eine Sache verstehen und eine Prü¬
fung in ihr bestehen; zu dem letztern genügt in fünf von zehn Fällen anch
der bloße Schein der Sache. Es kann jemand eine Prüfung über Philosophie
und deutsche Litteraturgeschichte, über Kant und Goethe bestehen, ohne daß
ihm von Kants oder Goethes Geist etwas aufgegangen ist, ja ohne daß er
sie gelesen hat. Umgekehrt: es kann jemand Kant und Goethe gelesen und
für seine wirkliche Bildung höchst fruchtbare Einwirkung von ihnen empfangen
haben, ohne daß er eine Prüfung über sie bestehen kann. Ja beinahe kann
man sagen: der Sache sich allzu sehr hingeben, ist uicht ohne Gefahr, der
Kandidat möchte sich dadurch in falsche Sicherheit einwiegen lassen und die
Erwerbung der höchst nötigen Antworten auf allerlei Examenfragen versäumen.
Das merken natürlich auch die Kandidaten. Und darum hat eine Prüfung
immer die Tendenz, mag auch der Examinator der verständigste und wohl¬
meinendste Mann von der Welt sein, das Lernen, das ihr vorhergeht, ans
die äußerlichen und zufälligen Dinge hinzulenken und es damit für die wirk¬
liche Bildung unfruchtbar zu machen. Am meisten wird sich diese Tendenz
bei den Prüfungen durchsetzen, bei denen es sich um die sogenannte „allgemeine
Bildung" handelt; Prüfungen im Fachwissen und Fertigkeiten sind uicht so
gefährlich. Wenn ich mich nicht täusche, sind die Prüfungen, mit denen im
neunzehnten Jahrhundert die Schulverwaltungen die „allgemeine Bildung" zu
befördern sich haben angelegen sein lassen, eine der Ursachen, die den banau-
sischen Sinn in den gelehrten Ständen haben großziehen helfen. Sie töten
das innere Verhältnis zur Sache. Wer sich zum Behuf eines Verhörs in
der allgemeinen Bildung die Reihenfolge der biblischen Bücher, oder die Namen
der zwölf Stämme Israel, oder ein Kompendium der Geschichte der Philo¬
sophie und Pädagogik mit einem Ragout zusammenhangsloser Sätze eingeprägt
hat, der wendet sich leicht für immer von diesen Dingen ab, mit der Empfin¬
dung, daß sie überhaupt ungenießbar seien. Durch die erzwungne Beschäfti¬
gung wird die freie lind ans innerer Teilnahme an der Sache fließende leicht
zurückgedrängt oder ganz verdrängt; lind doch ist diese allein für die innere
Bildung fruchtbar.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0470" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216194"/>
            <fw type="header" place="top"> Bildung</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1712" prev="#ID_1711"> Ämter und Stellen von der Gunst und Parteilichkeit der Vergebenden nach<lb/>
Möglichkeit frei zu machen.  Das ist ihre einzige Bedeutung.  Zum Beför¬<lb/>
derungsmittel der Bildung taugen sie nicht.  Im Gegenteil, für ruhige Ent¬<lb/>
wicklung und Aneignung sind sie eine schwere Gefahr.  In der Natur jeder<lb/>
Prüfung, die nicht eine rein innere Angelegenheit zwischen dem Lehrer und<lb/>
dem Schüler ist, liegt es, die Aufmerksamkeit von der Sache abzulenken; das<lb/>
Bestehen der Prüfung wird Zweck, und das Lernen Mittel.  Mit Mitteln<lb/>
wird es aber überall so gehalten, daß man mit dem geringsten Aufwand den<lb/>
größten Erfolg zu erzielen sucht, Mittel haben ja keinen Eigenwert. Und<lb/>
mau sage nicht, thatsächlich werde doch der Zweck, die Erkenntnis oder Fer¬<lb/>
tigkeit erreicht.  Es ist etwas andres, eine Sache verstehen und eine Prü¬<lb/>
fung in ihr bestehen; zu dem letztern genügt in fünf von zehn Fällen anch<lb/>
der bloße Schein der Sache. Es kann jemand eine Prüfung über Philosophie<lb/>
und deutsche Litteraturgeschichte, über Kant und Goethe bestehen, ohne daß<lb/>
ihm von Kants oder Goethes Geist etwas aufgegangen ist, ja ohne daß er<lb/>
sie gelesen hat.  Umgekehrt: es kann jemand Kant und Goethe gelesen und<lb/>
für seine wirkliche Bildung höchst fruchtbare Einwirkung von ihnen empfangen<lb/>
haben, ohne daß er eine Prüfung über sie bestehen kann.  Ja beinahe kann<lb/>
man sagen: der Sache sich allzu sehr hingeben, ist uicht ohne Gefahr, der<lb/>
Kandidat möchte sich dadurch in falsche Sicherheit einwiegen lassen und die<lb/>
Erwerbung der höchst nötigen Antworten auf allerlei Examenfragen versäumen.<lb/>
Das merken natürlich auch die Kandidaten.  Und darum hat eine Prüfung<lb/>
immer die Tendenz, mag auch der Examinator der verständigste und wohl¬<lb/>
meinendste Mann von der Welt sein, das Lernen, das ihr vorhergeht, ans<lb/>
die äußerlichen und zufälligen Dinge hinzulenken und es damit für die wirk¬<lb/>
liche Bildung unfruchtbar zu machen.  Am meisten wird sich diese Tendenz<lb/>
bei den Prüfungen durchsetzen, bei denen es sich um die sogenannte &#x201E;allgemeine<lb/>
Bildung" handelt; Prüfungen im Fachwissen und Fertigkeiten sind uicht so<lb/>
gefährlich.  Wenn ich mich nicht täusche, sind die Prüfungen, mit denen im<lb/>
neunzehnten Jahrhundert die Schulverwaltungen die &#x201E;allgemeine Bildung" zu<lb/>
befördern sich haben angelegen sein lassen, eine der Ursachen, die den banau-<lb/>
sischen Sinn in den gelehrten Ständen haben großziehen helfen.  Sie töten<lb/>
das innere Verhältnis zur Sache.  Wer sich zum Behuf eines Verhörs in<lb/>
der allgemeinen Bildung die Reihenfolge der biblischen Bücher, oder die Namen<lb/>
der zwölf Stämme Israel, oder ein Kompendium der Geschichte der Philo¬<lb/>
sophie und Pädagogik mit einem Ragout zusammenhangsloser Sätze eingeprägt<lb/>
hat, der wendet sich leicht für immer von diesen Dingen ab, mit der Empfin¬<lb/>
dung, daß sie überhaupt ungenießbar seien.  Durch die erzwungne Beschäfti¬<lb/>
gung wird die freie lind ans innerer Teilnahme an der Sache fließende leicht<lb/>
zurückgedrängt oder ganz verdrängt; lind doch ist diese allein für die innere<lb/>
Bildung fruchtbar.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0470] Bildung Ämter und Stellen von der Gunst und Parteilichkeit der Vergebenden nach Möglichkeit frei zu machen. Das ist ihre einzige Bedeutung. Zum Beför¬ derungsmittel der Bildung taugen sie nicht. Im Gegenteil, für ruhige Ent¬ wicklung und Aneignung sind sie eine schwere Gefahr. In der Natur jeder Prüfung, die nicht eine rein innere Angelegenheit zwischen dem Lehrer und dem Schüler ist, liegt es, die Aufmerksamkeit von der Sache abzulenken; das Bestehen der Prüfung wird Zweck, und das Lernen Mittel. Mit Mitteln wird es aber überall so gehalten, daß man mit dem geringsten Aufwand den größten Erfolg zu erzielen sucht, Mittel haben ja keinen Eigenwert. Und mau sage nicht, thatsächlich werde doch der Zweck, die Erkenntnis oder Fer¬ tigkeit erreicht. Es ist etwas andres, eine Sache verstehen und eine Prü¬ fung in ihr bestehen; zu dem letztern genügt in fünf von zehn Fällen anch der bloße Schein der Sache. Es kann jemand eine Prüfung über Philosophie und deutsche Litteraturgeschichte, über Kant und Goethe bestehen, ohne daß ihm von Kants oder Goethes Geist etwas aufgegangen ist, ja ohne daß er sie gelesen hat. Umgekehrt: es kann jemand Kant und Goethe gelesen und für seine wirkliche Bildung höchst fruchtbare Einwirkung von ihnen empfangen haben, ohne daß er eine Prüfung über sie bestehen kann. Ja beinahe kann man sagen: der Sache sich allzu sehr hingeben, ist uicht ohne Gefahr, der Kandidat möchte sich dadurch in falsche Sicherheit einwiegen lassen und die Erwerbung der höchst nötigen Antworten auf allerlei Examenfragen versäumen. Das merken natürlich auch die Kandidaten. Und darum hat eine Prüfung immer die Tendenz, mag auch der Examinator der verständigste und wohl¬ meinendste Mann von der Welt sein, das Lernen, das ihr vorhergeht, ans die äußerlichen und zufälligen Dinge hinzulenken und es damit für die wirk¬ liche Bildung unfruchtbar zu machen. Am meisten wird sich diese Tendenz bei den Prüfungen durchsetzen, bei denen es sich um die sogenannte „allgemeine Bildung" handelt; Prüfungen im Fachwissen und Fertigkeiten sind uicht so gefährlich. Wenn ich mich nicht täusche, sind die Prüfungen, mit denen im neunzehnten Jahrhundert die Schulverwaltungen die „allgemeine Bildung" zu befördern sich haben angelegen sein lassen, eine der Ursachen, die den banau- sischen Sinn in den gelehrten Ständen haben großziehen helfen. Sie töten das innere Verhältnis zur Sache. Wer sich zum Behuf eines Verhörs in der allgemeinen Bildung die Reihenfolge der biblischen Bücher, oder die Namen der zwölf Stämme Israel, oder ein Kompendium der Geschichte der Philo¬ sophie und Pädagogik mit einem Ragout zusammenhangsloser Sätze eingeprägt hat, der wendet sich leicht für immer von diesen Dingen ab, mit der Empfin¬ dung, daß sie überhaupt ungenießbar seien. Durch die erzwungne Beschäfti¬ gung wird die freie lind ans innerer Teilnahme an der Sache fließende leicht zurückgedrängt oder ganz verdrängt; lind doch ist diese allein für die innere Bildung fruchtbar.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/470
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/470>, abgerufen am 30.06.2024.