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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Flüchtlinge

Das nahm August aber sehr übel, und es wäre zu einer Prügelei gekommen,
wenn in diesem Augenblick nicht wieder ein alter Freund ins Zimmer getreten wäre,
der mit großem Jubel begrüßt wurde.

Hurra, das Schabeisen!

Meine Herren! schrie das Wiesel. Der Platz des Doktors ist wieder besetzt.
Ich schlage vor, unsern Freund Schabeisen, Doktor der Gehirnindustrie und Schädel-
Manufaktur, in alle Ehren und Würden des armen Doktors einzusetzen. Wer damit
einverstanden ist, der hebe das rechte Bei" in die Höhe!

Sofort hielte" fünf von ihnen das Bein in die Höhe, nur August Ruppig
gab seine Meinung und Freude durch ein lautes Geschrei und indem er beide Beine
in die Höhe hielt, zu erkennen.

Nun wandte sich die Aufmerksamkeit wieder den Flüchtlingen zu, die scheu
und verlegen an der Thür stehen geblieben waren.

Wen hast du denn da mitgebracht? fragte einer, indem er mit einer Daumen¬
bewegung mach ihnen zeigte.

Die? Das sind meine Kinderchen, antwortete der Vagabund.

Die hast du wohl auf dem Jahrmarkt aufgelesen?

Das weniger, sondern uuter einem Busch, wohin sie vor Klempners Karl nus-
gerisseu waren. Dort habe ich sie an Kindesstatt angenommen. Ich werde mich
hinfort nie von ihnen trennen, nein, niemals! Dabei trocknete er sich zur all¬
gemeinen Erheiterung eine unsichtbare Thräne.

Lucie zitterte und schmiegte sich schutzsucheud an Franz an, aber er selbst war
unruhig und verwirrt. Er wußte uicht, wie er sich in diefer fremden Welt zu be¬
nehmen hätte, ohne Mißfallen zu erregen. Er führte nun Lucie durch das Zimmer
zu einem leeren Tische und setzte sich still neben ihr nieder.

Die lustige Gesellschaft folgte thuen mit lachende" Augen.

Ein Liebespaar, Hurra!

Nun aber los. Stimmt an mit Hellem, hohem Klang, stimmt an das Lied
der Lieder!

Und nun sangen sie mit heisern Stimmen:

In des Waldes tiefsten Gründen,
In den Höhlen tief versteckt.
Ruht der nunder nllerkühnster
Bis ihn seine Rosa weckt.
O wie schön bist du, Marie, Marie,
Mit deinen Gmmnischuhn, Marie,
Baller man los, bnller man los!

Durch deu Lurn wurde die Krone, das heißt die Wirtin, herbeigerufen. Sie
erbat sich ein "bischen" Ruhe, wurde aber nicht gehört, bis der Wirt, der Peune-
boos, selbst mit aufgekrempten Ärmeln und einem Knotenstock erschien, um kraft seines
Armes Stille zu gebieten. Seine Frau unterstützte ihn dabei, indem sie mit krei¬
schender Stimme dazwischen schrie: Ruhe bitt ich mir aus! Denkt ihr, ich und
mein Mann sind dumme Jungens?

Als es endlich still geworden war, wagte" es die Flüchtlinge, sich im Zimmer
umzusehen. An dem großen Tisch unterhielt man sich jetzt halblaut, man schmiedete
Pläne für den folgenden Tag, und die Flasche kreiste lebhaft. An einem zweiten
kleinern Tische erlustigte sich 'ein Kleeblatt mit Kartenspielen. Diese Männer sahen
ordentlich aus und waren sauber gekleidet; sie hatten ihren Spaß an der Gesellschaft,


Die Flüchtlinge

Das nahm August aber sehr übel, und es wäre zu einer Prügelei gekommen,
wenn in diesem Augenblick nicht wieder ein alter Freund ins Zimmer getreten wäre,
der mit großem Jubel begrüßt wurde.

Hurra, das Schabeisen!

Meine Herren! schrie das Wiesel. Der Platz des Doktors ist wieder besetzt.
Ich schlage vor, unsern Freund Schabeisen, Doktor der Gehirnindustrie und Schädel-
Manufaktur, in alle Ehren und Würden des armen Doktors einzusetzen. Wer damit
einverstanden ist, der hebe das rechte Bei» in die Höhe!

Sofort hielte» fünf von ihnen das Bein in die Höhe, nur August Ruppig
gab seine Meinung und Freude durch ein lautes Geschrei und indem er beide Beine
in die Höhe hielt, zu erkennen.

Nun wandte sich die Aufmerksamkeit wieder den Flüchtlingen zu, die scheu
und verlegen an der Thür stehen geblieben waren.

Wen hast du denn da mitgebracht? fragte einer, indem er mit einer Daumen¬
bewegung mach ihnen zeigte.

Die? Das sind meine Kinderchen, antwortete der Vagabund.

Die hast du wohl auf dem Jahrmarkt aufgelesen?

Das weniger, sondern uuter einem Busch, wohin sie vor Klempners Karl nus-
gerisseu waren. Dort habe ich sie an Kindesstatt angenommen. Ich werde mich
hinfort nie von ihnen trennen, nein, niemals! Dabei trocknete er sich zur all¬
gemeinen Erheiterung eine unsichtbare Thräne.

Lucie zitterte und schmiegte sich schutzsucheud an Franz an, aber er selbst war
unruhig und verwirrt. Er wußte uicht, wie er sich in diefer fremden Welt zu be¬
nehmen hätte, ohne Mißfallen zu erregen. Er führte nun Lucie durch das Zimmer
zu einem leeren Tische und setzte sich still neben ihr nieder.

Die lustige Gesellschaft folgte thuen mit lachende» Augen.

Ein Liebespaar, Hurra!

Nun aber los. Stimmt an mit Hellem, hohem Klang, stimmt an das Lied
der Lieder!

Und nun sangen sie mit heisern Stimmen:

In des Waldes tiefsten Gründen,
In den Höhlen tief versteckt.
Ruht der nunder nllerkühnster
Bis ihn seine Rosa weckt.
O wie schön bist du, Marie, Marie,
Mit deinen Gmmnischuhn, Marie,
Baller man los, bnller man los!

Durch deu Lurn wurde die Krone, das heißt die Wirtin, herbeigerufen. Sie
erbat sich ein „bischen" Ruhe, wurde aber nicht gehört, bis der Wirt, der Peune-
boos, selbst mit aufgekrempten Ärmeln und einem Knotenstock erschien, um kraft seines
Armes Stille zu gebieten. Seine Frau unterstützte ihn dabei, indem sie mit krei¬
schender Stimme dazwischen schrie: Ruhe bitt ich mir aus! Denkt ihr, ich und
mein Mann sind dumme Jungens?

Als es endlich still geworden war, wagte« es die Flüchtlinge, sich im Zimmer
umzusehen. An dem großen Tisch unterhielt man sich jetzt halblaut, man schmiedete
Pläne für den folgenden Tag, und die Flasche kreiste lebhaft. An einem zweiten
kleinern Tische erlustigte sich 'ein Kleeblatt mit Kartenspielen. Diese Männer sahen
ordentlich aus und waren sauber gekleidet; sie hatten ihren Spaß an der Gesellschaft,


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[0446] Die Flüchtlinge Das nahm August aber sehr übel, und es wäre zu einer Prügelei gekommen, wenn in diesem Augenblick nicht wieder ein alter Freund ins Zimmer getreten wäre, der mit großem Jubel begrüßt wurde. Hurra, das Schabeisen! Meine Herren! schrie das Wiesel. Der Platz des Doktors ist wieder besetzt. Ich schlage vor, unsern Freund Schabeisen, Doktor der Gehirnindustrie und Schädel- Manufaktur, in alle Ehren und Würden des armen Doktors einzusetzen. Wer damit einverstanden ist, der hebe das rechte Bei» in die Höhe! Sofort hielte» fünf von ihnen das Bein in die Höhe, nur August Ruppig gab seine Meinung und Freude durch ein lautes Geschrei und indem er beide Beine in die Höhe hielt, zu erkennen. Nun wandte sich die Aufmerksamkeit wieder den Flüchtlingen zu, die scheu und verlegen an der Thür stehen geblieben waren. Wen hast du denn da mitgebracht? fragte einer, indem er mit einer Daumen¬ bewegung mach ihnen zeigte. Die? Das sind meine Kinderchen, antwortete der Vagabund. Die hast du wohl auf dem Jahrmarkt aufgelesen? Das weniger, sondern uuter einem Busch, wohin sie vor Klempners Karl nus- gerisseu waren. Dort habe ich sie an Kindesstatt angenommen. Ich werde mich hinfort nie von ihnen trennen, nein, niemals! Dabei trocknete er sich zur all¬ gemeinen Erheiterung eine unsichtbare Thräne. Lucie zitterte und schmiegte sich schutzsucheud an Franz an, aber er selbst war unruhig und verwirrt. Er wußte uicht, wie er sich in diefer fremden Welt zu be¬ nehmen hätte, ohne Mißfallen zu erregen. Er führte nun Lucie durch das Zimmer zu einem leeren Tische und setzte sich still neben ihr nieder. Die lustige Gesellschaft folgte thuen mit lachende» Augen. Ein Liebespaar, Hurra! Nun aber los. Stimmt an mit Hellem, hohem Klang, stimmt an das Lied der Lieder! Und nun sangen sie mit heisern Stimmen: In des Waldes tiefsten Gründen, In den Höhlen tief versteckt. Ruht der nunder nllerkühnster Bis ihn seine Rosa weckt. O wie schön bist du, Marie, Marie, Mit deinen Gmmnischuhn, Marie, Baller man los, bnller man los! Durch deu Lurn wurde die Krone, das heißt die Wirtin, herbeigerufen. Sie erbat sich ein „bischen" Ruhe, wurde aber nicht gehört, bis der Wirt, der Peune- boos, selbst mit aufgekrempten Ärmeln und einem Knotenstock erschien, um kraft seines Armes Stille zu gebieten. Seine Frau unterstützte ihn dabei, indem sie mit krei¬ schender Stimme dazwischen schrie: Ruhe bitt ich mir aus! Denkt ihr, ich und mein Mann sind dumme Jungens? Als es endlich still geworden war, wagte« es die Flüchtlinge, sich im Zimmer umzusehen. An dem großen Tisch unterhielt man sich jetzt halblaut, man schmiedete Pläne für den folgenden Tag, und die Flasche kreiste lebhaft. An einem zweiten kleinern Tische erlustigte sich 'ein Kleeblatt mit Kartenspielen. Diese Männer sahen ordentlich aus und waren sauber gekleidet; sie hatten ihren Spaß an der Gesellschaft,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/446>, abgerufen am 24.07.2024.