Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Million

liegt darin, daß in der Regel in diesen Erzeugnissen der Kunst die Weiber
über ihr Unglück zetern oder hysterische Thränen weinen, und daß die Ver¬
fasser ihre philosophischen oder soziologischen Abhandlungen dazu schreibe". Der
Verfasser der "Million" weiß, wohin dergleichen gehört, und unterläßt es
deshalb wohlweislich in seiner Erzählung. Wenn er die Frauen seines Romans
irgend welche Äußerungen thun läßt, so sind das neue Handlungen, die aus
demselben Grunde ihres angeborenen Charakters emporsteigen, wie die erste.
Im übrigen ist es vom höchsten Interesse, die Bethätigungen dieses Charakters
als Motive oder Reflexe in dem Thun andrer vom Dichter wiedergegeben
zu scheu. Mit dem besten Rechte hütet er sich, zu viel von den Eifersuchts-
und Familienszenen Madame Vickhs zu zeigen, aber was in ihr vorgeht, das
wird unter der größten Teilnahme des Lesers in dein Handeln und Leiden
ihrer Zofe klar. Auf einen seinen poetische" Zug möchte ich hier besonders
aufmerksam machen. In dem richtigen Zuge ihres mehr vom Ahnen als vom
Wissen getragnen Herzens erkennt Frau Lenz in ihrer Zofe die bessere Neben¬
buhlerin um die Zuneigung zu ihrem Manne. Daher denn zahllose Krän¬
kungen, die später nach erkanntem Unrecht mit übertriebenen Geschenken wieder
gut gemacht werden sollen. Aber auch das erfahren wir nicht aus breiter
Erzählung des Dichters selbst, sondern ans gelegentlichen Äußerungen, die er
dramatisch andre Personen machen läßt.

Zolling ist in der That ein sehr geschickter Erzähler; am einleuchtendsten
tritt uns das dort entgegen, wo die eigentliche soziale Frage berührt wird.
Der Mensch als Sklave des Kapitals und der Maschine: es giebt kein ver¬
lockenderes Thema für den modernen Epiker. Kaum einer hat dem Drange
widerstehen können: es läßt sich so schön über der Erscheinung Grund Philo¬
sophiren. Selbst Paul Heyse hat nicht zurückbleiben wollen, und im "Merlin"
nimmt sein Raisonnement über die Lösung der großen Frage nach der reli¬
giösen Seite hin keinen geringen Raum ein. Aber es genügt für den echten
künstlerischen Realismus uicht, den von ihm aufgestellten Figuren bloß schöne
Reden in den Mund zu legen; wie der Dichter Falkner, so ist auch der mit
großer Breitspurigkeit auftretende Arzt nur ein Automat, der sprechen muß,
was ihm Heyse "suggerirt." Zollings dichterische Personen halten auch Reden,
aber was sie sprechen, ist Handlung. Deshalb Handlung, weil ihre Worte
nirgends den Anschein von etwas von langer Hand her im Dichter vorberei¬
teten haben, sondern jedesmal als die Wirkung des im Augenblick reizenden
Motivs erscheinen. Wenn es dem am Spinnstuhle beschäftigten Arbeiter blitz¬
artig durch das Gehirn zuckt, wie Vernunft und Verstandeskraft des freien
Menschen eigenster Besitz, in das Sklaveujoch der unfrei arbeitenden Maschine
gespannt ist, und wenn dann dieser Erkenntnis der gar nicht znrückzudämmendc
Ausbruch der Leidenschaft folgt, so ist das eine Handlung, die man mit Recht
den Geburtsakt der bessern Seite des Sozialismus nennen könnte.


Die Million

liegt darin, daß in der Regel in diesen Erzeugnissen der Kunst die Weiber
über ihr Unglück zetern oder hysterische Thränen weinen, und daß die Ver¬
fasser ihre philosophischen oder soziologischen Abhandlungen dazu schreibe». Der
Verfasser der „Million" weiß, wohin dergleichen gehört, und unterläßt es
deshalb wohlweislich in seiner Erzählung. Wenn er die Frauen seines Romans
irgend welche Äußerungen thun läßt, so sind das neue Handlungen, die aus
demselben Grunde ihres angeborenen Charakters emporsteigen, wie die erste.
Im übrigen ist es vom höchsten Interesse, die Bethätigungen dieses Charakters
als Motive oder Reflexe in dem Thun andrer vom Dichter wiedergegeben
zu scheu. Mit dem besten Rechte hütet er sich, zu viel von den Eifersuchts-
und Familienszenen Madame Vickhs zu zeigen, aber was in ihr vorgeht, das
wird unter der größten Teilnahme des Lesers in dein Handeln und Leiden
ihrer Zofe klar. Auf einen seinen poetische» Zug möchte ich hier besonders
aufmerksam machen. In dem richtigen Zuge ihres mehr vom Ahnen als vom
Wissen getragnen Herzens erkennt Frau Lenz in ihrer Zofe die bessere Neben¬
buhlerin um die Zuneigung zu ihrem Manne. Daher denn zahllose Krän¬
kungen, die später nach erkanntem Unrecht mit übertriebenen Geschenken wieder
gut gemacht werden sollen. Aber auch das erfahren wir nicht aus breiter
Erzählung des Dichters selbst, sondern ans gelegentlichen Äußerungen, die er
dramatisch andre Personen machen läßt.

Zolling ist in der That ein sehr geschickter Erzähler; am einleuchtendsten
tritt uns das dort entgegen, wo die eigentliche soziale Frage berührt wird.
Der Mensch als Sklave des Kapitals und der Maschine: es giebt kein ver¬
lockenderes Thema für den modernen Epiker. Kaum einer hat dem Drange
widerstehen können: es läßt sich so schön über der Erscheinung Grund Philo¬
sophiren. Selbst Paul Heyse hat nicht zurückbleiben wollen, und im „Merlin"
nimmt sein Raisonnement über die Lösung der großen Frage nach der reli¬
giösen Seite hin keinen geringen Raum ein. Aber es genügt für den echten
künstlerischen Realismus uicht, den von ihm aufgestellten Figuren bloß schöne
Reden in den Mund zu legen; wie der Dichter Falkner, so ist auch der mit
großer Breitspurigkeit auftretende Arzt nur ein Automat, der sprechen muß,
was ihm Heyse „suggerirt." Zollings dichterische Personen halten auch Reden,
aber was sie sprechen, ist Handlung. Deshalb Handlung, weil ihre Worte
nirgends den Anschein von etwas von langer Hand her im Dichter vorberei¬
teten haben, sondern jedesmal als die Wirkung des im Augenblick reizenden
Motivs erscheinen. Wenn es dem am Spinnstuhle beschäftigten Arbeiter blitz¬
artig durch das Gehirn zuckt, wie Vernunft und Verstandeskraft des freien
Menschen eigenster Besitz, in das Sklaveujoch der unfrei arbeitenden Maschine
gespannt ist, und wenn dann dieser Erkenntnis der gar nicht znrückzudämmendc
Ausbruch der Leidenschaft folgt, so ist das eine Handlung, die man mit Recht
den Geburtsakt der bessern Seite des Sozialismus nennen könnte.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0436" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216160"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Million</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1491" prev="#ID_1490"> liegt darin, daß in der Regel in diesen Erzeugnissen der Kunst die Weiber<lb/>
über ihr Unglück zetern oder hysterische Thränen weinen, und daß die Ver¬<lb/>
fasser ihre philosophischen oder soziologischen Abhandlungen dazu schreibe». Der<lb/>
Verfasser der &#x201E;Million" weiß, wohin dergleichen gehört, und unterläßt es<lb/>
deshalb wohlweislich in seiner Erzählung. Wenn er die Frauen seines Romans<lb/>
irgend welche Äußerungen thun läßt, so sind das neue Handlungen, die aus<lb/>
demselben Grunde ihres angeborenen Charakters emporsteigen, wie die erste.<lb/>
Im übrigen ist es vom höchsten Interesse, die Bethätigungen dieses Charakters<lb/>
als Motive oder Reflexe in dem Thun andrer vom Dichter wiedergegeben<lb/>
zu scheu. Mit dem besten Rechte hütet er sich, zu viel von den Eifersuchts-<lb/>
und Familienszenen Madame Vickhs zu zeigen, aber was in ihr vorgeht, das<lb/>
wird unter der größten Teilnahme des Lesers in dein Handeln und Leiden<lb/>
ihrer Zofe klar. Auf einen seinen poetische» Zug möchte ich hier besonders<lb/>
aufmerksam machen. In dem richtigen Zuge ihres mehr vom Ahnen als vom<lb/>
Wissen getragnen Herzens erkennt Frau Lenz in ihrer Zofe die bessere Neben¬<lb/>
buhlerin um die Zuneigung zu ihrem Manne. Daher denn zahllose Krän¬<lb/>
kungen, die später nach erkanntem Unrecht mit übertriebenen Geschenken wieder<lb/>
gut gemacht werden sollen. Aber auch das erfahren wir nicht aus breiter<lb/>
Erzählung des Dichters selbst, sondern ans gelegentlichen Äußerungen, die er<lb/>
dramatisch andre Personen machen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1492"> Zolling ist in der That ein sehr geschickter Erzähler; am einleuchtendsten<lb/>
tritt uns das dort entgegen, wo die eigentliche soziale Frage berührt wird.<lb/>
Der Mensch als Sklave des Kapitals und der Maschine: es giebt kein ver¬<lb/>
lockenderes Thema für den modernen Epiker. Kaum einer hat dem Drange<lb/>
widerstehen können: es läßt sich so schön über der Erscheinung Grund Philo¬<lb/>
sophiren. Selbst Paul Heyse hat nicht zurückbleiben wollen, und im &#x201E;Merlin"<lb/>
nimmt sein Raisonnement über die Lösung der großen Frage nach der reli¬<lb/>
giösen Seite hin keinen geringen Raum ein. Aber es genügt für den echten<lb/>
künstlerischen Realismus uicht, den von ihm aufgestellten Figuren bloß schöne<lb/>
Reden in den Mund zu legen; wie der Dichter Falkner, so ist auch der mit<lb/>
großer Breitspurigkeit auftretende Arzt nur ein Automat, der sprechen muß,<lb/>
was ihm Heyse &#x201E;suggerirt." Zollings dichterische Personen halten auch Reden,<lb/>
aber was sie sprechen, ist Handlung. Deshalb Handlung, weil ihre Worte<lb/>
nirgends den Anschein von etwas von langer Hand her im Dichter vorberei¬<lb/>
teten haben, sondern jedesmal als die Wirkung des im Augenblick reizenden<lb/>
Motivs erscheinen. Wenn es dem am Spinnstuhle beschäftigten Arbeiter blitz¬<lb/>
artig durch das Gehirn zuckt, wie Vernunft und Verstandeskraft des freien<lb/>
Menschen eigenster Besitz, in das Sklaveujoch der unfrei arbeitenden Maschine<lb/>
gespannt ist, und wenn dann dieser Erkenntnis der gar nicht znrückzudämmendc<lb/>
Ausbruch der Leidenschaft folgt, so ist das eine Handlung, die man mit Recht<lb/>
den Geburtsakt der bessern Seite des Sozialismus nennen könnte.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0436] Die Million liegt darin, daß in der Regel in diesen Erzeugnissen der Kunst die Weiber über ihr Unglück zetern oder hysterische Thränen weinen, und daß die Ver¬ fasser ihre philosophischen oder soziologischen Abhandlungen dazu schreibe». Der Verfasser der „Million" weiß, wohin dergleichen gehört, und unterläßt es deshalb wohlweislich in seiner Erzählung. Wenn er die Frauen seines Romans irgend welche Äußerungen thun läßt, so sind das neue Handlungen, die aus demselben Grunde ihres angeborenen Charakters emporsteigen, wie die erste. Im übrigen ist es vom höchsten Interesse, die Bethätigungen dieses Charakters als Motive oder Reflexe in dem Thun andrer vom Dichter wiedergegeben zu scheu. Mit dem besten Rechte hütet er sich, zu viel von den Eifersuchts- und Familienszenen Madame Vickhs zu zeigen, aber was in ihr vorgeht, das wird unter der größten Teilnahme des Lesers in dein Handeln und Leiden ihrer Zofe klar. Auf einen seinen poetische» Zug möchte ich hier besonders aufmerksam machen. In dem richtigen Zuge ihres mehr vom Ahnen als vom Wissen getragnen Herzens erkennt Frau Lenz in ihrer Zofe die bessere Neben¬ buhlerin um die Zuneigung zu ihrem Manne. Daher denn zahllose Krän¬ kungen, die später nach erkanntem Unrecht mit übertriebenen Geschenken wieder gut gemacht werden sollen. Aber auch das erfahren wir nicht aus breiter Erzählung des Dichters selbst, sondern ans gelegentlichen Äußerungen, die er dramatisch andre Personen machen läßt. Zolling ist in der That ein sehr geschickter Erzähler; am einleuchtendsten tritt uns das dort entgegen, wo die eigentliche soziale Frage berührt wird. Der Mensch als Sklave des Kapitals und der Maschine: es giebt kein ver¬ lockenderes Thema für den modernen Epiker. Kaum einer hat dem Drange widerstehen können: es läßt sich so schön über der Erscheinung Grund Philo¬ sophiren. Selbst Paul Heyse hat nicht zurückbleiben wollen, und im „Merlin" nimmt sein Raisonnement über die Lösung der großen Frage nach der reli¬ giösen Seite hin keinen geringen Raum ein. Aber es genügt für den echten künstlerischen Realismus uicht, den von ihm aufgestellten Figuren bloß schöne Reden in den Mund zu legen; wie der Dichter Falkner, so ist auch der mit großer Breitspurigkeit auftretende Arzt nur ein Automat, der sprechen muß, was ihm Heyse „suggerirt." Zollings dichterische Personen halten auch Reden, aber was sie sprechen, ist Handlung. Deshalb Handlung, weil ihre Worte nirgends den Anschein von etwas von langer Hand her im Dichter vorberei¬ teten haben, sondern jedesmal als die Wirkung des im Augenblick reizenden Motivs erscheinen. Wenn es dem am Spinnstuhle beschäftigten Arbeiter blitz¬ artig durch das Gehirn zuckt, wie Vernunft und Verstandeskraft des freien Menschen eigenster Besitz, in das Sklaveujoch der unfrei arbeitenden Maschine gespannt ist, und wenn dann dieser Erkenntnis der gar nicht znrückzudämmendc Ausbruch der Leidenschaft folgt, so ist das eine Handlung, die man mit Recht den Geburtsakt der bessern Seite des Sozialismus nennen könnte.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/436
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/436>, abgerufen am 22.07.2024.