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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Seite alle Eigenschaften, die zwischen Liebe und Selbstverleugnung in der Mitte
liegen, auf der andern alles, was aus Selbstsucht und Nichtachtung andrer
Menschen hervorgeht. Nur muß man nicht glauben, daß Zolling diesem von
aller Zeit her dagewesenen, um ihm Eingang bei dem Leser zu verschaffen,
den eignen subjektiven Aufputz geben zu müssen vermeinte. Er hält sich weder
damit auf, langatmige Schilderungen von Seelenzuständen zu geben, um daraus
die Handlung hervorgehen zu lasse", noch in ebenso langwieriger Erörterung
die Gründe von etwas Geschehenem darzulegen, er ist so kurz in der Aus¬
führung zeitlicher Umstände, wie in der Beschreibung örtlicher Verhältnisse.
Das Wenigste ist für den Dichter gerade ausreichend, die Absichten seiner
Kunstübung zu erreichen. Aus der Tiefe der Charaktere tritt in der Handlung
selbst der Zug hervor, der der wesentliche und für alles andre entscheidende ist.
Dadurch erreicht er den doppelten Vorteil, daß er erstens selbst nicht immer
von neuem anzusetzen braucht, wenigstens nicht mehr, als durchaus notwendig
ist, und daß er zweitens dem Leser nicht gerade das Schönste bei der Lektüre
vorwegnimmt, den eigentümlichen Reiz, von der Zentralstelle ans die verbin¬
denden Fäden durch die eine Handlung bis zur andern fortzuführen und damit
in dem eignen Erfassen der Einheitlichkeit den höchsten Genuß am Kunstwerk
zu finden.

Der Beweis für diese Behauptung könnte an allen Personen, die die
Handlung zu tragen haben, geführt werden. Aber wir wollen hier nur von
den beiden Hauptfiguren sprechen. Wenn Adelheid von Berkow, später die
Gattin des einem hvchfeudalen Regiment angehörenden Leutnants von Lenz,
bei Gelegenheit einer Wasserfahrt in aufwallenden Gefühle (und ohne sich ihres
Thuns bewußt zu werden) das strampelnde und lachende Kind der Fischers¬
frau an ihr Herz drückt, so ist das eine unbewußte Lebensäußerung, die mit
aller Klarheit den ganzen Zug und die Richtung ihres Wesens offenlegt. Sie
kann in ihrer Ehe unglücklich werden, und sie wird es, aber sie wird immer
das treue Weib, die liebende Mutter sein; nehme man sie, wo man will, immer
wird sie das thun, was ihr der edle Drang des Herzens gebietet. Umgekehrt
ist es mit der andern, der Frau des jungen Spinnereibesitzers Lenz, des Vetters
des Leutnants. "Um Gottes willen, nur keine Kinder!" ruft sie, als eine Un¬
päßlichkeit nach der Hochzeitsreise ihr als die natürliche Folge ihrer Verhei¬
ratung dargestellt wird. Es ist nichts weiter nötig, als diese Empörung gegen
die Natur, um sich in allen Zügen die lemius sin Ah siöels zu erklären, zu
der sich Bicky Lenz im Verlaufe des Romans entwickelt.

Noch einen Augenblick müssen wir bei dem besprochenen Punkte ver¬
weilen. Beide Frauen werden, wie schon angedeutet, in ihrer Ehe unglücklich,
und darin unterscheidet sich der Zollingsche Roman in nichts von den un¬
zähligen Dichtungen epischer und dramatischer Natur, mit denen die sensations¬
süchtige Lesewelt Tag für Tag gefüttert wird. Aber der große Unterschied


Die Million

Seite alle Eigenschaften, die zwischen Liebe und Selbstverleugnung in der Mitte
liegen, auf der andern alles, was aus Selbstsucht und Nichtachtung andrer
Menschen hervorgeht. Nur muß man nicht glauben, daß Zolling diesem von
aller Zeit her dagewesenen, um ihm Eingang bei dem Leser zu verschaffen,
den eignen subjektiven Aufputz geben zu müssen vermeinte. Er hält sich weder
damit auf, langatmige Schilderungen von Seelenzuständen zu geben, um daraus
die Handlung hervorgehen zu lasse», noch in ebenso langwieriger Erörterung
die Gründe von etwas Geschehenem darzulegen, er ist so kurz in der Aus¬
führung zeitlicher Umstände, wie in der Beschreibung örtlicher Verhältnisse.
Das Wenigste ist für den Dichter gerade ausreichend, die Absichten seiner
Kunstübung zu erreichen. Aus der Tiefe der Charaktere tritt in der Handlung
selbst der Zug hervor, der der wesentliche und für alles andre entscheidende ist.
Dadurch erreicht er den doppelten Vorteil, daß er erstens selbst nicht immer
von neuem anzusetzen braucht, wenigstens nicht mehr, als durchaus notwendig
ist, und daß er zweitens dem Leser nicht gerade das Schönste bei der Lektüre
vorwegnimmt, den eigentümlichen Reiz, von der Zentralstelle ans die verbin¬
denden Fäden durch die eine Handlung bis zur andern fortzuführen und damit
in dem eignen Erfassen der Einheitlichkeit den höchsten Genuß am Kunstwerk
zu finden.

Der Beweis für diese Behauptung könnte an allen Personen, die die
Handlung zu tragen haben, geführt werden. Aber wir wollen hier nur von
den beiden Hauptfiguren sprechen. Wenn Adelheid von Berkow, später die
Gattin des einem hvchfeudalen Regiment angehörenden Leutnants von Lenz,
bei Gelegenheit einer Wasserfahrt in aufwallenden Gefühle (und ohne sich ihres
Thuns bewußt zu werden) das strampelnde und lachende Kind der Fischers¬
frau an ihr Herz drückt, so ist das eine unbewußte Lebensäußerung, die mit
aller Klarheit den ganzen Zug und die Richtung ihres Wesens offenlegt. Sie
kann in ihrer Ehe unglücklich werden, und sie wird es, aber sie wird immer
das treue Weib, die liebende Mutter sein; nehme man sie, wo man will, immer
wird sie das thun, was ihr der edle Drang des Herzens gebietet. Umgekehrt
ist es mit der andern, der Frau des jungen Spinnereibesitzers Lenz, des Vetters
des Leutnants. „Um Gottes willen, nur keine Kinder!" ruft sie, als eine Un¬
päßlichkeit nach der Hochzeitsreise ihr als die natürliche Folge ihrer Verhei¬
ratung dargestellt wird. Es ist nichts weiter nötig, als diese Empörung gegen
die Natur, um sich in allen Zügen die lemius sin Ah siöels zu erklären, zu
der sich Bicky Lenz im Verlaufe des Romans entwickelt.

Noch einen Augenblick müssen wir bei dem besprochenen Punkte ver¬
weilen. Beide Frauen werden, wie schon angedeutet, in ihrer Ehe unglücklich,
und darin unterscheidet sich der Zollingsche Roman in nichts von den un¬
zähligen Dichtungen epischer und dramatischer Natur, mit denen die sensations¬
süchtige Lesewelt Tag für Tag gefüttert wird. Aber der große Unterschied


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[0435] Die Million Seite alle Eigenschaften, die zwischen Liebe und Selbstverleugnung in der Mitte liegen, auf der andern alles, was aus Selbstsucht und Nichtachtung andrer Menschen hervorgeht. Nur muß man nicht glauben, daß Zolling diesem von aller Zeit her dagewesenen, um ihm Eingang bei dem Leser zu verschaffen, den eignen subjektiven Aufputz geben zu müssen vermeinte. Er hält sich weder damit auf, langatmige Schilderungen von Seelenzuständen zu geben, um daraus die Handlung hervorgehen zu lasse», noch in ebenso langwieriger Erörterung die Gründe von etwas Geschehenem darzulegen, er ist so kurz in der Aus¬ führung zeitlicher Umstände, wie in der Beschreibung örtlicher Verhältnisse. Das Wenigste ist für den Dichter gerade ausreichend, die Absichten seiner Kunstübung zu erreichen. Aus der Tiefe der Charaktere tritt in der Handlung selbst der Zug hervor, der der wesentliche und für alles andre entscheidende ist. Dadurch erreicht er den doppelten Vorteil, daß er erstens selbst nicht immer von neuem anzusetzen braucht, wenigstens nicht mehr, als durchaus notwendig ist, und daß er zweitens dem Leser nicht gerade das Schönste bei der Lektüre vorwegnimmt, den eigentümlichen Reiz, von der Zentralstelle ans die verbin¬ denden Fäden durch die eine Handlung bis zur andern fortzuführen und damit in dem eignen Erfassen der Einheitlichkeit den höchsten Genuß am Kunstwerk zu finden. Der Beweis für diese Behauptung könnte an allen Personen, die die Handlung zu tragen haben, geführt werden. Aber wir wollen hier nur von den beiden Hauptfiguren sprechen. Wenn Adelheid von Berkow, später die Gattin des einem hvchfeudalen Regiment angehörenden Leutnants von Lenz, bei Gelegenheit einer Wasserfahrt in aufwallenden Gefühle (und ohne sich ihres Thuns bewußt zu werden) das strampelnde und lachende Kind der Fischers¬ frau an ihr Herz drückt, so ist das eine unbewußte Lebensäußerung, die mit aller Klarheit den ganzen Zug und die Richtung ihres Wesens offenlegt. Sie kann in ihrer Ehe unglücklich werden, und sie wird es, aber sie wird immer das treue Weib, die liebende Mutter sein; nehme man sie, wo man will, immer wird sie das thun, was ihr der edle Drang des Herzens gebietet. Umgekehrt ist es mit der andern, der Frau des jungen Spinnereibesitzers Lenz, des Vetters des Leutnants. „Um Gottes willen, nur keine Kinder!" ruft sie, als eine Un¬ päßlichkeit nach der Hochzeitsreise ihr als die natürliche Folge ihrer Verhei¬ ratung dargestellt wird. Es ist nichts weiter nötig, als diese Empörung gegen die Natur, um sich in allen Zügen die lemius sin Ah siöels zu erklären, zu der sich Bicky Lenz im Verlaufe des Romans entwickelt. Noch einen Augenblick müssen wir bei dem besprochenen Punkte ver¬ weilen. Beide Frauen werden, wie schon angedeutet, in ihrer Ehe unglücklich, und darin unterscheidet sich der Zollingsche Roman in nichts von den un¬ zähligen Dichtungen epischer und dramatischer Natur, mit denen die sensations¬ süchtige Lesewelt Tag für Tag gefüttert wird. Aber der große Unterschied

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/435>, abgerufen am 22.07.2024.