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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

des fünften Jahrhunderts, das Wesen des Menschen wie in einem Normal-
thpus vollendet sei, sodaß alle übrigen geschichtlichen Gestaltungen nur mehr
oder minder abgeschwächte oder mißlungne Bildungen wären. Vielmehr werden
wir behaupten: jedes Volk und jede Zeit hat ihre eigentümliche Kraft, Würde
und Schönheit, und es ist keineswegs ihre Aufgabe, sich dieser ihrer Natur
zu Gunsten jenes vorgeblichen Normaltypus zu entäußern; was übrigens ein
ganz vergebliches Unternehmen wäre, denn es führt nur zu schwächlicher Nach¬
ahmung, wie es die Geschichte unsers Volkes an mehr als einem Punkte zeigt:
die humanistischen Poeten des sechzehnten Jahrhunderts wurden doch keine
Römer, so wenig die alamodischen Höflinge des siebzehnten Jahrhunderts
Franzosen oder die Bewundrer des Hellenentums an der Wende des achtzehnten
und neunzehnten Jahrhunderts Griechen wurden.

Bon hier aus ergiebt sich denn eine neue Bestimmung unsers Begriffs.
Da der Einzelne geistiges Leben nur als Glied eines der großen geschichtlichen
Wesen, als Kind und Genosse eines Volkes hat, so können wir Bildung auch
erklären als die durch Erziehung und Unterricht erworbne Fähigkeit zu voller
und allseitiger Teilnahme an dem geistig-geschichtlichen Leben seines Volks
und seiner Zeit. Weltanschauung und Lebensaufgabe jedes Menschen ist be¬
stimmt dnrch seine geschichtliche Umgebung. Er erkennt die Natur uur durch
die Wissenschaft, die Welt und das Leben nur durch die Religion oder Philo¬
sophie seiner Zeit und seines Volks; und ebenso wird ihm die Lebensaufgabe
durch die Verhältnisse seiner Zeit und seines Volks bestimmt. Die Aufgabe
der Erziehung wird demnach sein: die Entwicklung des Individuums dahin zu
leiten, daß es seiue natürliche und geschichtliche Lebensumgebung zu verstehen
und in ihr sich zu bethätigen fähig wird. Darin ist das rechte Verhältnis
zu allen großen Lebenskreisen und Lebensinhalten eingeschlossen, zu Religion
und Dichtung, zu Wissenschaft und Kunst, zu Beruf und öffentlichem Leben,
zu Sitte und Brauch. Gebildet ist, wer mit klarem Blick und sicherm Urteil
zu den Gedanken und Ideen, zu den Lebensformen und Bestrebungen seiner
geschichtlichen Umgebung Stellung zu nehmen weiß.

Und nun können wir noch etwas weiteres hinzufügen: innerhalb des einen
Volks treten wieder verschiedne Kreise mit verschiednen Gestaltungen seines
Lebensinhalts aus einander. Die Verschiedenheit des Berufs, der gesellschaft¬
lichen Stellung, des Geschlechts schaffe" bedeutsame Verschiedenheiten der
Lebensaufgabe. Ist nun Bildung die Fähigkeit zur verständnisvollen Teil¬
nahme an dem gesamten Leben des Volks, so wird sie der besondern Aufgabe,
die dem Einzelnen im Gesamtleben gestellt ist, angemessen sein müssen; nicht
Einförmigkeit, sondern Mannichfaltigkeit ist die Forderung. Etwas andres
bedeutet die Forderung der Bildung für die Fran als für den Mann, für
den Gelehrten als für den Offizier oder den Bauer. Wahre, rechtschaffne
Bildung werden wir jedem zuschreiben, der die Fähigkeit gewonnen hat, sich


Bildung

des fünften Jahrhunderts, das Wesen des Menschen wie in einem Normal-
thpus vollendet sei, sodaß alle übrigen geschichtlichen Gestaltungen nur mehr
oder minder abgeschwächte oder mißlungne Bildungen wären. Vielmehr werden
wir behaupten: jedes Volk und jede Zeit hat ihre eigentümliche Kraft, Würde
und Schönheit, und es ist keineswegs ihre Aufgabe, sich dieser ihrer Natur
zu Gunsten jenes vorgeblichen Normaltypus zu entäußern; was übrigens ein
ganz vergebliches Unternehmen wäre, denn es führt nur zu schwächlicher Nach¬
ahmung, wie es die Geschichte unsers Volkes an mehr als einem Punkte zeigt:
die humanistischen Poeten des sechzehnten Jahrhunderts wurden doch keine
Römer, so wenig die alamodischen Höflinge des siebzehnten Jahrhunderts
Franzosen oder die Bewundrer des Hellenentums an der Wende des achtzehnten
und neunzehnten Jahrhunderts Griechen wurden.

Bon hier aus ergiebt sich denn eine neue Bestimmung unsers Begriffs.
Da der Einzelne geistiges Leben nur als Glied eines der großen geschichtlichen
Wesen, als Kind und Genosse eines Volkes hat, so können wir Bildung auch
erklären als die durch Erziehung und Unterricht erworbne Fähigkeit zu voller
und allseitiger Teilnahme an dem geistig-geschichtlichen Leben seines Volks
und seiner Zeit. Weltanschauung und Lebensaufgabe jedes Menschen ist be¬
stimmt dnrch seine geschichtliche Umgebung. Er erkennt die Natur uur durch
die Wissenschaft, die Welt und das Leben nur durch die Religion oder Philo¬
sophie seiner Zeit und seines Volks; und ebenso wird ihm die Lebensaufgabe
durch die Verhältnisse seiner Zeit und seines Volks bestimmt. Die Aufgabe
der Erziehung wird demnach sein: die Entwicklung des Individuums dahin zu
leiten, daß es seiue natürliche und geschichtliche Lebensumgebung zu verstehen
und in ihr sich zu bethätigen fähig wird. Darin ist das rechte Verhältnis
zu allen großen Lebenskreisen und Lebensinhalten eingeschlossen, zu Religion
und Dichtung, zu Wissenschaft und Kunst, zu Beruf und öffentlichem Leben,
zu Sitte und Brauch. Gebildet ist, wer mit klarem Blick und sicherm Urteil
zu den Gedanken und Ideen, zu den Lebensformen und Bestrebungen seiner
geschichtlichen Umgebung Stellung zu nehmen weiß.

Und nun können wir noch etwas weiteres hinzufügen: innerhalb des einen
Volks treten wieder verschiedne Kreise mit verschiednen Gestaltungen seines
Lebensinhalts aus einander. Die Verschiedenheit des Berufs, der gesellschaft¬
lichen Stellung, des Geschlechts schaffe» bedeutsame Verschiedenheiten der
Lebensaufgabe. Ist nun Bildung die Fähigkeit zur verständnisvollen Teil¬
nahme an dem gesamten Leben des Volks, so wird sie der besondern Aufgabe,
die dem Einzelnen im Gesamtleben gestellt ist, angemessen sein müssen; nicht
Einförmigkeit, sondern Mannichfaltigkeit ist die Forderung. Etwas andres
bedeutet die Forderung der Bildung für die Fran als für den Mann, für
den Gelehrten als für den Offizier oder den Bauer. Wahre, rechtschaffne
Bildung werden wir jedem zuschreiben, der die Fähigkeit gewonnen hat, sich


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[0430] Bildung des fünften Jahrhunderts, das Wesen des Menschen wie in einem Normal- thpus vollendet sei, sodaß alle übrigen geschichtlichen Gestaltungen nur mehr oder minder abgeschwächte oder mißlungne Bildungen wären. Vielmehr werden wir behaupten: jedes Volk und jede Zeit hat ihre eigentümliche Kraft, Würde und Schönheit, und es ist keineswegs ihre Aufgabe, sich dieser ihrer Natur zu Gunsten jenes vorgeblichen Normaltypus zu entäußern; was übrigens ein ganz vergebliches Unternehmen wäre, denn es führt nur zu schwächlicher Nach¬ ahmung, wie es die Geschichte unsers Volkes an mehr als einem Punkte zeigt: die humanistischen Poeten des sechzehnten Jahrhunderts wurden doch keine Römer, so wenig die alamodischen Höflinge des siebzehnten Jahrhunderts Franzosen oder die Bewundrer des Hellenentums an der Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts Griechen wurden. Bon hier aus ergiebt sich denn eine neue Bestimmung unsers Begriffs. Da der Einzelne geistiges Leben nur als Glied eines der großen geschichtlichen Wesen, als Kind und Genosse eines Volkes hat, so können wir Bildung auch erklären als die durch Erziehung und Unterricht erworbne Fähigkeit zu voller und allseitiger Teilnahme an dem geistig-geschichtlichen Leben seines Volks und seiner Zeit. Weltanschauung und Lebensaufgabe jedes Menschen ist be¬ stimmt dnrch seine geschichtliche Umgebung. Er erkennt die Natur uur durch die Wissenschaft, die Welt und das Leben nur durch die Religion oder Philo¬ sophie seiner Zeit und seines Volks; und ebenso wird ihm die Lebensaufgabe durch die Verhältnisse seiner Zeit und seines Volks bestimmt. Die Aufgabe der Erziehung wird demnach sein: die Entwicklung des Individuums dahin zu leiten, daß es seiue natürliche und geschichtliche Lebensumgebung zu verstehen und in ihr sich zu bethätigen fähig wird. Darin ist das rechte Verhältnis zu allen großen Lebenskreisen und Lebensinhalten eingeschlossen, zu Religion und Dichtung, zu Wissenschaft und Kunst, zu Beruf und öffentlichem Leben, zu Sitte und Brauch. Gebildet ist, wer mit klarem Blick und sicherm Urteil zu den Gedanken und Ideen, zu den Lebensformen und Bestrebungen seiner geschichtlichen Umgebung Stellung zu nehmen weiß. Und nun können wir noch etwas weiteres hinzufügen: innerhalb des einen Volks treten wieder verschiedne Kreise mit verschiednen Gestaltungen seines Lebensinhalts aus einander. Die Verschiedenheit des Berufs, der gesellschaft¬ lichen Stellung, des Geschlechts schaffe» bedeutsame Verschiedenheiten der Lebensaufgabe. Ist nun Bildung die Fähigkeit zur verständnisvollen Teil¬ nahme an dem gesamten Leben des Volks, so wird sie der besondern Aufgabe, die dem Einzelnen im Gesamtleben gestellt ist, angemessen sein müssen; nicht Einförmigkeit, sondern Mannichfaltigkeit ist die Forderung. Etwas andres bedeutet die Forderung der Bildung für die Fran als für den Mann, für den Gelehrten als für den Offizier oder den Bauer. Wahre, rechtschaffne Bildung werden wir jedem zuschreiben, der die Fähigkeit gewonnen hat, sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/430>, abgerufen am 02.07.2024.