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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Bildung

Es ist die Aufgabe der Ethik, dieses allgemeine Schema ins einzelne aus¬
zuführen. Folgen wir der Platonischen Philosophie, die mit ihrer sinnvollen
und anschaulichen Dreiteilung des Innenlebens in Vernunft, Wille und Sinn¬
lichkeit dem Pädagogen so handliche Kategorien bietet, so können wir das Ziel
menschlicher Entwicklung durch die Formel umschreiben: Bildung ist die
Einheit der drei Tugenden oder Tüchtigkeiten der Weisheit, der Tapfer¬
keit und der Besonnenheit. Ein "gebildeter," ein rechtschaffen gestalteter Mann
ist der, in dem die Vernunft ihre Aufgabe erfüllt, die großen göttlichen Ge¬
danken der Wirklichkeit nachzudenken und das Leben aus seiner Idee zu be¬
stimmen; in dein ferner die edlern Affekte, Mut und Ehrliebe, Pietät und
Scheu vor dem Gemeinen, zu kräftigen Willensbestimmungen entwickelt sind;
in dem endlich das sinnliche Triebleben so gebändigt und gezogen ist, daß es,
fern davon, das höhere Leben zu stören oder gar sich dienstbar zu machen,
ihm vielmehr als Werkzeug und Darstellung dient.

In der That wird man diesem Bildungsideal Allgemeingiltigkeit zuschreiben
dürfen! klare und tiefe, zum Wesen dringende Erkenntnis der natürlichen und
geschichtlichen Wirklichkeit, sicheres Urteil über die eignen Verhältnisse und'
Aufgaben, ein fester, seiner selbst gegen die Schwankungen der Neigungen sichrer,
durch die höchsten menschlichen Zwecke bestimmter Wille, ein feines Gefühl für
das Gehörende und Geziemende, endlich eine disziplinirte Sinnlichkeit mit ver¬
edelten Gennßtrieben, die, das Gemeine zurückstoßend, für alles Schöne em¬
pfänglich, einem reichen Gemütsleben zur Unterlage und gleichsam zum Re¬
sonanzboden dienen mit diesen Linien wird die dem Wesen oder der gött¬
lichen Idee des Meuscheu entsprechende Gestalt für alle Zeiten giltig umschrieben
sein. Insoweit können wir uns die oben angedeutete Anschauung, in der mit
Rousseau und Pestalozzi der Neuhumcinismus einstimmig ist, durchaus an¬
eignen.

Aber, so werden wir nun hinzufügen, dieses allgemeine Schema mensch¬
licher Bildung läßt sehr verschiedne Erfüllung zu, oder vielmehr es fordert
sie, denn der allgemeine Mensch existirt nicht; der Mensch existirt in Wirk¬
lichkeit nur als besondres, geschichtlich bestimmtes Wesen. Die Tiere, die
Naturwesen find gleichartige Exemplare des einförmigen Gattungstypus; der
Käfer oder der Schmetterling einer Art ist derselbe hier wie im Nachbarlande,
heute wie vor tausend Jahren. Nicht so der Mensch, der Geist. Er ist in
jedem Jahrhundert, in jedem Volk ein andrer. Und das ist nicht ein Mangel;
vielmehr werden wir sagen, es ist der Vorzug des menschlichen Wesens; sein
Reichtum ist so groß, daß er sich nicht in der einförmigen Ausprägung eines
naturhistorischen Typus erschöpft, sondern der unendlichen Fülle von Gestalten
zu seiner Darstellung bedarf, die uns in den geschichtlichen Wesen, den Völkern
und ihren Entwicklungsstufen, entgegentreten. Und daher werden wir alten
und neuen Humanisten nicht glauben, daß in den Alten, etwa den Griechen


Bildung

Es ist die Aufgabe der Ethik, dieses allgemeine Schema ins einzelne aus¬
zuführen. Folgen wir der Platonischen Philosophie, die mit ihrer sinnvollen
und anschaulichen Dreiteilung des Innenlebens in Vernunft, Wille und Sinn¬
lichkeit dem Pädagogen so handliche Kategorien bietet, so können wir das Ziel
menschlicher Entwicklung durch die Formel umschreiben: Bildung ist die
Einheit der drei Tugenden oder Tüchtigkeiten der Weisheit, der Tapfer¬
keit und der Besonnenheit. Ein „gebildeter," ein rechtschaffen gestalteter Mann
ist der, in dem die Vernunft ihre Aufgabe erfüllt, die großen göttlichen Ge¬
danken der Wirklichkeit nachzudenken und das Leben aus seiner Idee zu be¬
stimmen; in dein ferner die edlern Affekte, Mut und Ehrliebe, Pietät und
Scheu vor dem Gemeinen, zu kräftigen Willensbestimmungen entwickelt sind;
in dem endlich das sinnliche Triebleben so gebändigt und gezogen ist, daß es,
fern davon, das höhere Leben zu stören oder gar sich dienstbar zu machen,
ihm vielmehr als Werkzeug und Darstellung dient.

In der That wird man diesem Bildungsideal Allgemeingiltigkeit zuschreiben
dürfen! klare und tiefe, zum Wesen dringende Erkenntnis der natürlichen und
geschichtlichen Wirklichkeit, sicheres Urteil über die eignen Verhältnisse und'
Aufgaben, ein fester, seiner selbst gegen die Schwankungen der Neigungen sichrer,
durch die höchsten menschlichen Zwecke bestimmter Wille, ein feines Gefühl für
das Gehörende und Geziemende, endlich eine disziplinirte Sinnlichkeit mit ver¬
edelten Gennßtrieben, die, das Gemeine zurückstoßend, für alles Schöne em¬
pfänglich, einem reichen Gemütsleben zur Unterlage und gleichsam zum Re¬
sonanzboden dienen mit diesen Linien wird die dem Wesen oder der gött¬
lichen Idee des Meuscheu entsprechende Gestalt für alle Zeiten giltig umschrieben
sein. Insoweit können wir uns die oben angedeutete Anschauung, in der mit
Rousseau und Pestalozzi der Neuhumcinismus einstimmig ist, durchaus an¬
eignen.

Aber, so werden wir nun hinzufügen, dieses allgemeine Schema mensch¬
licher Bildung läßt sehr verschiedne Erfüllung zu, oder vielmehr es fordert
sie, denn der allgemeine Mensch existirt nicht; der Mensch existirt in Wirk¬
lichkeit nur als besondres, geschichtlich bestimmtes Wesen. Die Tiere, die
Naturwesen find gleichartige Exemplare des einförmigen Gattungstypus; der
Käfer oder der Schmetterling einer Art ist derselbe hier wie im Nachbarlande,
heute wie vor tausend Jahren. Nicht so der Mensch, der Geist. Er ist in
jedem Jahrhundert, in jedem Volk ein andrer. Und das ist nicht ein Mangel;
vielmehr werden wir sagen, es ist der Vorzug des menschlichen Wesens; sein
Reichtum ist so groß, daß er sich nicht in der einförmigen Ausprägung eines
naturhistorischen Typus erschöpft, sondern der unendlichen Fülle von Gestalten
zu seiner Darstellung bedarf, die uns in den geschichtlichen Wesen, den Völkern
und ihren Entwicklungsstufen, entgegentreten. Und daher werden wir alten
und neuen Humanisten nicht glauben, daß in den Alten, etwa den Griechen


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[0429] Bildung Es ist die Aufgabe der Ethik, dieses allgemeine Schema ins einzelne aus¬ zuführen. Folgen wir der Platonischen Philosophie, die mit ihrer sinnvollen und anschaulichen Dreiteilung des Innenlebens in Vernunft, Wille und Sinn¬ lichkeit dem Pädagogen so handliche Kategorien bietet, so können wir das Ziel menschlicher Entwicklung durch die Formel umschreiben: Bildung ist die Einheit der drei Tugenden oder Tüchtigkeiten der Weisheit, der Tapfer¬ keit und der Besonnenheit. Ein „gebildeter," ein rechtschaffen gestalteter Mann ist der, in dem die Vernunft ihre Aufgabe erfüllt, die großen göttlichen Ge¬ danken der Wirklichkeit nachzudenken und das Leben aus seiner Idee zu be¬ stimmen; in dein ferner die edlern Affekte, Mut und Ehrliebe, Pietät und Scheu vor dem Gemeinen, zu kräftigen Willensbestimmungen entwickelt sind; in dem endlich das sinnliche Triebleben so gebändigt und gezogen ist, daß es, fern davon, das höhere Leben zu stören oder gar sich dienstbar zu machen, ihm vielmehr als Werkzeug und Darstellung dient. In der That wird man diesem Bildungsideal Allgemeingiltigkeit zuschreiben dürfen! klare und tiefe, zum Wesen dringende Erkenntnis der natürlichen und geschichtlichen Wirklichkeit, sicheres Urteil über die eignen Verhältnisse und' Aufgaben, ein fester, seiner selbst gegen die Schwankungen der Neigungen sichrer, durch die höchsten menschlichen Zwecke bestimmter Wille, ein feines Gefühl für das Gehörende und Geziemende, endlich eine disziplinirte Sinnlichkeit mit ver¬ edelten Gennßtrieben, die, das Gemeine zurückstoßend, für alles Schöne em¬ pfänglich, einem reichen Gemütsleben zur Unterlage und gleichsam zum Re¬ sonanzboden dienen mit diesen Linien wird die dem Wesen oder der gött¬ lichen Idee des Meuscheu entsprechende Gestalt für alle Zeiten giltig umschrieben sein. Insoweit können wir uns die oben angedeutete Anschauung, in der mit Rousseau und Pestalozzi der Neuhumcinismus einstimmig ist, durchaus an¬ eignen. Aber, so werden wir nun hinzufügen, dieses allgemeine Schema mensch¬ licher Bildung läßt sehr verschiedne Erfüllung zu, oder vielmehr es fordert sie, denn der allgemeine Mensch existirt nicht; der Mensch existirt in Wirk¬ lichkeit nur als besondres, geschichtlich bestimmtes Wesen. Die Tiere, die Naturwesen find gleichartige Exemplare des einförmigen Gattungstypus; der Käfer oder der Schmetterling einer Art ist derselbe hier wie im Nachbarlande, heute wie vor tausend Jahren. Nicht so der Mensch, der Geist. Er ist in jedem Jahrhundert, in jedem Volk ein andrer. Und das ist nicht ein Mangel; vielmehr werden wir sagen, es ist der Vorzug des menschlichen Wesens; sein Reichtum ist so groß, daß er sich nicht in der einförmigen Ausprägung eines naturhistorischen Typus erschöpft, sondern der unendlichen Fülle von Gestalten zu seiner Darstellung bedarf, die uns in den geschichtlichen Wesen, den Völkern und ihren Entwicklungsstufen, entgegentreten. Und daher werden wir alten und neuen Humanisten nicht glauben, daß in den Alten, etwa den Griechen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/429>, abgerufen am 30.06.2024.