Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bildung

der Berichterstatter sofort die Bildung des Mannes? Vermutlich am Rock, viel¬
leicht auch an den Handschuhen, die, wenigstens am Werktag, ein Anzeichen der
Bildung sind; sie zeigen, daß der Träger nicht mit den Händen zugreift. Noch
zuverlässiger sind weiße Finger und lange Nägel. Eine Verlagshandlung kündigt
eine neue Litteratur- oder Weltgeschichte für alle Gebildeten an und macht jedem
zur Pflicht, das Werk zu kaufen. Wen meint sie, und wer fühlt sich verpflichtet?
lind was meint die "höhere Tochter," wenn sie, aus einer Gesellschaft zurück¬
kehrend, von den sein gebildeten Leuten spricht, die sie dort getroffen habe?

Wenn ich mein Sprachgefühl ganz gewissenhaft erforsche, so finde ich dieses:
gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu
benehmen weiß, und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede
ist, mitreden kann. Ein Anzeichen der Bildung ist der Gebrauch von Fremd¬
wörtern, das heißt der richtige: wer in der Bedeutung oder der Aussprache
fehlgreift, der erweckt gegen seine Bildung ein ungünstiges Vorurteil. Dagegen
ist die Bildung so gut wie bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann, das heißt
gebildete Sprachen, französisch oder italienisch, oder gar lateinisch und griechisch;
wer bloß deutsch kann, hat keinen Anspruch auf Bildung. Der Wert der Fremd¬
wörter als Vildungsmerkmal beruht ja eben darauf, daß mau dadurch zu ver¬
stehen giebt, man könne auch fremde Sprachen und würde in ihnen seine Ge¬
danken noch viel feiner und besser auszudrücken wissen, als in der in der Bil¬
dung etwas zurückgebliebnen deutschen Sprache. Damit kommen wir denn ans
das letzte und entscheidende Merkmal: gebildet ist, wer eine "höhere" Schule
durchgemacht hat, mindestens bis Untersekunda, natürlich "mit Erfolg." Und
um über den Erfolg, also über den Besitz der Bildung keinen Zweifel bestehen
zu lasse", ist in Preußen seit kurzem die Einrichtung getroffen worden, daß
der Schiller der Untersekunda unter Staatsaufsicht geprüft und ihm über die
Bildung eine Bescheinigung ausgestellt wird. Zugleich erwirbt er damit einen
Rechtsanspruch darauf, auch im Heer von den Ungebildeten abgesondert zu
werden. Damit hätten wir denn auch einen von Staats wegen festgesetzten
Maßstab der Bildung: es gehört dazu, was in den sechs ersten Jahresknrsen
der höhern Schulen gelernt wird. Ein wesentliches Erfordernis sind zwei
fremde Sprachen; Schulen, die nur eine fremde Sprache treiben, werden grund¬
sätzlich nicht als "höhere" anerkannt.

Da es für jedermann wünschenswert, ja eigentlich die wichtigste Angelegen¬
heit des Lebens ist, daß er samt seiner Familie zu deu Gebildeten gerechnet
werde und sich darüber ausweisen könne, so ist es begreiflich, daß zu unsrer
Zeit die Nachfrage nach Bildungsmitteln und Bildungsgelegenheiten und mit
ihr das Angebot in rascher Zunahme begriffen ist. Die Zahl der höhern
Schulen sür Knaben und Mädchen ist im neunzehnten Jahrhundert, besonders
im letzten Menschenalter, überaus schnell gewachsen; die Zahl der Besucher
hat sich mehr als verdoppelt. Ergänzung und Nachhilfe versprechen die zahl-


Bildung

der Berichterstatter sofort die Bildung des Mannes? Vermutlich am Rock, viel¬
leicht auch an den Handschuhen, die, wenigstens am Werktag, ein Anzeichen der
Bildung sind; sie zeigen, daß der Träger nicht mit den Händen zugreift. Noch
zuverlässiger sind weiße Finger und lange Nägel. Eine Verlagshandlung kündigt
eine neue Litteratur- oder Weltgeschichte für alle Gebildeten an und macht jedem
zur Pflicht, das Werk zu kaufen. Wen meint sie, und wer fühlt sich verpflichtet?
lind was meint die „höhere Tochter," wenn sie, aus einer Gesellschaft zurück¬
kehrend, von den sein gebildeten Leuten spricht, die sie dort getroffen habe?

Wenn ich mein Sprachgefühl ganz gewissenhaft erforsche, so finde ich dieses:
gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu
benehmen weiß, und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede
ist, mitreden kann. Ein Anzeichen der Bildung ist der Gebrauch von Fremd¬
wörtern, das heißt der richtige: wer in der Bedeutung oder der Aussprache
fehlgreift, der erweckt gegen seine Bildung ein ungünstiges Vorurteil. Dagegen
ist die Bildung so gut wie bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann, das heißt
gebildete Sprachen, französisch oder italienisch, oder gar lateinisch und griechisch;
wer bloß deutsch kann, hat keinen Anspruch auf Bildung. Der Wert der Fremd¬
wörter als Vildungsmerkmal beruht ja eben darauf, daß mau dadurch zu ver¬
stehen giebt, man könne auch fremde Sprachen und würde in ihnen seine Ge¬
danken noch viel feiner und besser auszudrücken wissen, als in der in der Bil¬
dung etwas zurückgebliebnen deutschen Sprache. Damit kommen wir denn ans
das letzte und entscheidende Merkmal: gebildet ist, wer eine „höhere" Schule
durchgemacht hat, mindestens bis Untersekunda, natürlich „mit Erfolg." Und
um über den Erfolg, also über den Besitz der Bildung keinen Zweifel bestehen
zu lasse», ist in Preußen seit kurzem die Einrichtung getroffen worden, daß
der Schiller der Untersekunda unter Staatsaufsicht geprüft und ihm über die
Bildung eine Bescheinigung ausgestellt wird. Zugleich erwirbt er damit einen
Rechtsanspruch darauf, auch im Heer von den Ungebildeten abgesondert zu
werden. Damit hätten wir denn auch einen von Staats wegen festgesetzten
Maßstab der Bildung: es gehört dazu, was in den sechs ersten Jahresknrsen
der höhern Schulen gelernt wird. Ein wesentliches Erfordernis sind zwei
fremde Sprachen; Schulen, die nur eine fremde Sprache treiben, werden grund¬
sätzlich nicht als „höhere" anerkannt.

Da es für jedermann wünschenswert, ja eigentlich die wichtigste Angelegen¬
heit des Lebens ist, daß er samt seiner Familie zu deu Gebildeten gerechnet
werde und sich darüber ausweisen könne, so ist es begreiflich, daß zu unsrer
Zeit die Nachfrage nach Bildungsmitteln und Bildungsgelegenheiten und mit
ihr das Angebot in rascher Zunahme begriffen ist. Die Zahl der höhern
Schulen sür Knaben und Mädchen ist im neunzehnten Jahrhundert, besonders
im letzten Menschenalter, überaus schnell gewachsen; die Zahl der Besucher
hat sich mehr als verdoppelt. Ergänzung und Nachhilfe versprechen die zahl-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0424" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216148"/>
            <fw type="header" place="top"> Bildung</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1454" prev="#ID_1453"> der Berichterstatter sofort die Bildung des Mannes? Vermutlich am Rock, viel¬<lb/>
leicht auch an den Handschuhen, die, wenigstens am Werktag, ein Anzeichen der<lb/>
Bildung sind; sie zeigen, daß der Träger nicht mit den Händen zugreift. Noch<lb/>
zuverlässiger sind weiße Finger und lange Nägel. Eine Verlagshandlung kündigt<lb/>
eine neue Litteratur- oder Weltgeschichte für alle Gebildeten an und macht jedem<lb/>
zur Pflicht, das Werk zu kaufen. Wen meint sie, und wer fühlt sich verpflichtet?<lb/>
lind was meint die &#x201E;höhere Tochter," wenn sie, aus einer Gesellschaft zurück¬<lb/>
kehrend, von den sein gebildeten Leuten spricht, die sie dort getroffen habe?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1455"> Wenn ich mein Sprachgefühl ganz gewissenhaft erforsche, so finde ich dieses:<lb/>
gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu<lb/>
benehmen weiß, und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede<lb/>
ist, mitreden kann. Ein Anzeichen der Bildung ist der Gebrauch von Fremd¬<lb/>
wörtern, das heißt der richtige: wer in der Bedeutung oder der Aussprache<lb/>
fehlgreift, der erweckt gegen seine Bildung ein ungünstiges Vorurteil. Dagegen<lb/>
ist die Bildung so gut wie bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann, das heißt<lb/>
gebildete Sprachen, französisch oder italienisch, oder gar lateinisch und griechisch;<lb/>
wer bloß deutsch kann, hat keinen Anspruch auf Bildung. Der Wert der Fremd¬<lb/>
wörter als Vildungsmerkmal beruht ja eben darauf, daß mau dadurch zu ver¬<lb/>
stehen giebt, man könne auch fremde Sprachen und würde in ihnen seine Ge¬<lb/>
danken noch viel feiner und besser auszudrücken wissen, als in der in der Bil¬<lb/>
dung etwas zurückgebliebnen deutschen Sprache. Damit kommen wir denn ans<lb/>
das letzte und entscheidende Merkmal: gebildet ist, wer eine &#x201E;höhere" Schule<lb/>
durchgemacht hat, mindestens bis Untersekunda, natürlich &#x201E;mit Erfolg." Und<lb/>
um über den Erfolg, also über den Besitz der Bildung keinen Zweifel bestehen<lb/>
zu lasse», ist in Preußen seit kurzem die Einrichtung getroffen worden, daß<lb/>
der Schiller der Untersekunda unter Staatsaufsicht geprüft und ihm über die<lb/>
Bildung eine Bescheinigung ausgestellt wird. Zugleich erwirbt er damit einen<lb/>
Rechtsanspruch darauf, auch im Heer von den Ungebildeten abgesondert zu<lb/>
werden. Damit hätten wir denn auch einen von Staats wegen festgesetzten<lb/>
Maßstab der Bildung: es gehört dazu, was in den sechs ersten Jahresknrsen<lb/>
der höhern Schulen gelernt wird. Ein wesentliches Erfordernis sind zwei<lb/>
fremde Sprachen; Schulen, die nur eine fremde Sprache treiben, werden grund¬<lb/>
sätzlich nicht als &#x201E;höhere" anerkannt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1456" next="#ID_1457"> Da es für jedermann wünschenswert, ja eigentlich die wichtigste Angelegen¬<lb/>
heit des Lebens ist, daß er samt seiner Familie zu deu Gebildeten gerechnet<lb/>
werde und sich darüber ausweisen könne, so ist es begreiflich, daß zu unsrer<lb/>
Zeit die Nachfrage nach Bildungsmitteln und Bildungsgelegenheiten und mit<lb/>
ihr das Angebot in rascher Zunahme begriffen ist. Die Zahl der höhern<lb/>
Schulen sür Knaben und Mädchen ist im neunzehnten Jahrhundert, besonders<lb/>
im letzten Menschenalter, überaus schnell gewachsen; die Zahl der Besucher<lb/>
hat sich mehr als verdoppelt.  Ergänzung und Nachhilfe versprechen die zahl-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0424] Bildung der Berichterstatter sofort die Bildung des Mannes? Vermutlich am Rock, viel¬ leicht auch an den Handschuhen, die, wenigstens am Werktag, ein Anzeichen der Bildung sind; sie zeigen, daß der Träger nicht mit den Händen zugreift. Noch zuverlässiger sind weiße Finger und lange Nägel. Eine Verlagshandlung kündigt eine neue Litteratur- oder Weltgeschichte für alle Gebildeten an und macht jedem zur Pflicht, das Werk zu kaufen. Wen meint sie, und wer fühlt sich verpflichtet? lind was meint die „höhere Tochter," wenn sie, aus einer Gesellschaft zurück¬ kehrend, von den sein gebildeten Leuten spricht, die sie dort getroffen habe? Wenn ich mein Sprachgefühl ganz gewissenhaft erforsche, so finde ich dieses: gebildet ist, wer nicht mit der Hand arbeitet, sich richtig anzuziehen und zu benehmen weiß, und von allen Dingen, von denen in der Gesellschaft die Rede ist, mitreden kann. Ein Anzeichen der Bildung ist der Gebrauch von Fremd¬ wörtern, das heißt der richtige: wer in der Bedeutung oder der Aussprache fehlgreift, der erweckt gegen seine Bildung ein ungünstiges Vorurteil. Dagegen ist die Bildung so gut wie bewiesen, wenn er fremde Sprachen kann, das heißt gebildete Sprachen, französisch oder italienisch, oder gar lateinisch und griechisch; wer bloß deutsch kann, hat keinen Anspruch auf Bildung. Der Wert der Fremd¬ wörter als Vildungsmerkmal beruht ja eben darauf, daß mau dadurch zu ver¬ stehen giebt, man könne auch fremde Sprachen und würde in ihnen seine Ge¬ danken noch viel feiner und besser auszudrücken wissen, als in der in der Bil¬ dung etwas zurückgebliebnen deutschen Sprache. Damit kommen wir denn ans das letzte und entscheidende Merkmal: gebildet ist, wer eine „höhere" Schule durchgemacht hat, mindestens bis Untersekunda, natürlich „mit Erfolg." Und um über den Erfolg, also über den Besitz der Bildung keinen Zweifel bestehen zu lasse», ist in Preußen seit kurzem die Einrichtung getroffen worden, daß der Schiller der Untersekunda unter Staatsaufsicht geprüft und ihm über die Bildung eine Bescheinigung ausgestellt wird. Zugleich erwirbt er damit einen Rechtsanspruch darauf, auch im Heer von den Ungebildeten abgesondert zu werden. Damit hätten wir denn auch einen von Staats wegen festgesetzten Maßstab der Bildung: es gehört dazu, was in den sechs ersten Jahresknrsen der höhern Schulen gelernt wird. Ein wesentliches Erfordernis sind zwei fremde Sprachen; Schulen, die nur eine fremde Sprache treiben, werden grund¬ sätzlich nicht als „höhere" anerkannt. Da es für jedermann wünschenswert, ja eigentlich die wichtigste Angelegen¬ heit des Lebens ist, daß er samt seiner Familie zu deu Gebildeten gerechnet werde und sich darüber ausweisen könne, so ist es begreiflich, daß zu unsrer Zeit die Nachfrage nach Bildungsmitteln und Bildungsgelegenheiten und mit ihr das Angebot in rascher Zunahme begriffen ist. Die Zahl der höhern Schulen sür Knaben und Mädchen ist im neunzehnten Jahrhundert, besonders im letzten Menschenalter, überaus schnell gewachsen; die Zahl der Besucher hat sich mehr als verdoppelt. Ergänzung und Nachhilfe versprechen die zahl-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/424
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/424>, abgerufen am 24.08.2024.