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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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sich geltend machen könnten; alle landwirtschaftlichen Organisationen des Ostens
werden von Rittergutsbesitzern beherrscht. In einem mittelschlesischen Kreise
hatte sich voriges Frühjahr ein Bauer zum Sprecher seiner Standesgenossen
aufgeworfen und eine kleine Zeitung gefunden, in der er seine Betrachtungen
veröffentlichte. Die Rittergutsbesitzer des Kreises haben sich beeilt, den vor¬
lauten Bauer mundtot zu machen, indem sie das Blatt für sich gewannen,
sodaß sie jetzt über beide Blätter der Kreishauptstadt verfügen. Der Bund der
Landwirte könnte sehr leicht den für seine Gründer unerfreulichen Erfolg haben,
diesem Mangel an bäuerlichen Organisationen abzuhelfen. Wie die Antisemiten
dabei angelangt sind, neben dem Juden den Junker als Feind hinzustellen, so
werden manche Bauern, nachdem ihre Leidenschaften einmal aufgewühlt worden
sind, wahrscheinlich sinden, daß es mit dem Sturze des Reichskanzlers keine
Eile hat, und daß es ihnen weit näher liegt, mit dem gnädigen Herrn ein
Hühnchen zu pflücken. Einer der verdientesten Landwirte Preußens, Schultz-
Lupitz, hat denn auch schon eingesehen, welche Gefahren die von dein Bunde
der Landwirte eingeschlagne "demagogische" Richtung birgt, und hat sich durch
eine Erklärung in der Magdeburgischen Zeitung von ihm losgesagt. Wir würden
es natürlich für kein Unglück halten, wenn sich der Bauernstand von seinen
Vormündern freimachte. Daß er Thorheiten begehen würde, fürchten wir nicht;
dazu ist er zu ruhig und zu einsichtig; gelänge es ihm, für den landwirtschaft¬
lichen Mittelstand eine eigne Organisation zu schaffen, so wäre das ein großes
Glück fürs Vaterland wie für die Monarchie. In der Generalversammlung
des Vereins für Sozialpolitik hat der liberale Vaner Wisser aus Windisch¬
holzhausen den Großgrundbesitzern tüchtig die Wahrheit gesagt. Sie haben sich
seine Predigt schweigend angehört und keinen Versuch gemacht, ihn zu wider¬
legen. So steht es um die Vertretung des Bauernstandes. Was das ländliche
Proletariat betrifft, so wird ihm allerdings kein Mensch von gefunden Sinnen
den Beruf zur Gesetzgebung zusprechen, aber ein Organ, wodurch es seine Klagen,
Beschwerden und Bedürfnisse aussprechen könnte, sollte es in einem zivilisirten
Staate doch wohl haben. Vorläufig hat es keine Spur eines solchen. Wo
von ihm in den Parlamenten und Provinziallandtagen die Rede ist, da ge¬
schieht es niemals um seiner selbst willen, sondern nur mit Rücksicht ans das
Interesse der Gutsbesitzer oder, wie die amtliche Heuchelei unsrer Tage zu
sagen gebietet, mit Rücksicht auf das Gedeihen der Landwirtschaft und das
Wohl des Staates.

Aus alledem ergiebt sich, daß der Stand der ostelbischen Großgrundbesitzer
und das Bürgerrecht seiner Arbeiter zusammenpassen wie Feuer und Wasser.
Was er braucht und thatsächlich hat, das ist ein Ständestaat, worin er herrscht
und allein das Vollbürgerrecht genießt, während der Stand seiner Arbeiter
lediglich zu gehorchen und in öffentlichen Angelegenheiten nichts zu sagen hat.
Demnach gliedert sich die Landarbeiterfrage für diesen Teil unsers Vaterlandes


sich geltend machen könnten; alle landwirtschaftlichen Organisationen des Ostens
werden von Rittergutsbesitzern beherrscht. In einem mittelschlesischen Kreise
hatte sich voriges Frühjahr ein Bauer zum Sprecher seiner Standesgenossen
aufgeworfen und eine kleine Zeitung gefunden, in der er seine Betrachtungen
veröffentlichte. Die Rittergutsbesitzer des Kreises haben sich beeilt, den vor¬
lauten Bauer mundtot zu machen, indem sie das Blatt für sich gewannen,
sodaß sie jetzt über beide Blätter der Kreishauptstadt verfügen. Der Bund der
Landwirte könnte sehr leicht den für seine Gründer unerfreulichen Erfolg haben,
diesem Mangel an bäuerlichen Organisationen abzuhelfen. Wie die Antisemiten
dabei angelangt sind, neben dem Juden den Junker als Feind hinzustellen, so
werden manche Bauern, nachdem ihre Leidenschaften einmal aufgewühlt worden
sind, wahrscheinlich sinden, daß es mit dem Sturze des Reichskanzlers keine
Eile hat, und daß es ihnen weit näher liegt, mit dem gnädigen Herrn ein
Hühnchen zu pflücken. Einer der verdientesten Landwirte Preußens, Schultz-
Lupitz, hat denn auch schon eingesehen, welche Gefahren die von dein Bunde
der Landwirte eingeschlagne „demagogische" Richtung birgt, und hat sich durch
eine Erklärung in der Magdeburgischen Zeitung von ihm losgesagt. Wir würden
es natürlich für kein Unglück halten, wenn sich der Bauernstand von seinen
Vormündern freimachte. Daß er Thorheiten begehen würde, fürchten wir nicht;
dazu ist er zu ruhig und zu einsichtig; gelänge es ihm, für den landwirtschaft¬
lichen Mittelstand eine eigne Organisation zu schaffen, so wäre das ein großes
Glück fürs Vaterland wie für die Monarchie. In der Generalversammlung
des Vereins für Sozialpolitik hat der liberale Vaner Wisser aus Windisch¬
holzhausen den Großgrundbesitzern tüchtig die Wahrheit gesagt. Sie haben sich
seine Predigt schweigend angehört und keinen Versuch gemacht, ihn zu wider¬
legen. So steht es um die Vertretung des Bauernstandes. Was das ländliche
Proletariat betrifft, so wird ihm allerdings kein Mensch von gefunden Sinnen
den Beruf zur Gesetzgebung zusprechen, aber ein Organ, wodurch es seine Klagen,
Beschwerden und Bedürfnisse aussprechen könnte, sollte es in einem zivilisirten
Staate doch wohl haben. Vorläufig hat es keine Spur eines solchen. Wo
von ihm in den Parlamenten und Provinziallandtagen die Rede ist, da ge¬
schieht es niemals um seiner selbst willen, sondern nur mit Rücksicht ans das
Interesse der Gutsbesitzer oder, wie die amtliche Heuchelei unsrer Tage zu
sagen gebietet, mit Rücksicht auf das Gedeihen der Landwirtschaft und das
Wohl des Staates.

Aus alledem ergiebt sich, daß der Stand der ostelbischen Großgrundbesitzer
und das Bürgerrecht seiner Arbeiter zusammenpassen wie Feuer und Wasser.
Was er braucht und thatsächlich hat, das ist ein Ständestaat, worin er herrscht
und allein das Vollbürgerrecht genießt, während der Stand seiner Arbeiter
lediglich zu gehorchen und in öffentlichen Angelegenheiten nichts zu sagen hat.
Demnach gliedert sich die Landarbeiterfrage für diesen Teil unsers Vaterlandes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/420>, abgerufen am 22.07.2024.