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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Landarl'eiterfrage

wie diese und unheilbar sind. Wo es Herren und Knechte giebt, da werden
immer viele Knechte über harte und wunderliche Herren, viele Herren über
faule, ungeschickte und widerspenstige Knechte klagen, und wie zu allen Zeiten
die Knechte, die es nicht länger aushalten zu können glaubten, oder denen die
Aussicht auf etwas Besseres winkte, fortgelaufen sind, sie mochten Sklaven,
Hörige oder Lohnarbeiter heißen, so werden sie fortlaufen uoch im dritten und
vierten Jahrtausend, wenn dann die Welt noch steht. Damit hat sich der Po¬
litiker so wenig zu befassen, wie mit den ewigen Klagen der Hausfrauen über
ihre Dienstboten. Daß das Fortlaufen in dem Stelzenstil unsers heutigen
sogenannten Rechtsstaates Kvntraktbrnch heißt, macht in der Sache keinen Unter¬
schied. Also nicht das allgemein Menschliche, das dem Prediger und dem
Satirenschreiber gehört, ist hier zu besprechen, sondern bloß das Eigentümliche,
das aus unsern heutigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zuständen
entspringt. Und dieses scheidet sich nun in ein ganz Deutschland betreffendes
und in ein besonderes, das nur den Nordosten angeht.

Jenes allgemeine besteht in dem Schwanken des Bedarfs an Arbeitern
zwischen Sommer und Winter. Die Dreschmaschine wirkt, wie uns von Land¬
wirten gesagt wird, namentlich auf den Bauerngütern uoch nicht so schlimm,
weil die verbesserte Kultur im Winter viele Vorbereituugsarbeiteu notwendig
macht, sodaß außer dem Gesinde auch die Tagelöhner ziemlich regelmäßig
beschäftigt werden können, freilich bei geringerm Lohne, weshalb allerdings,
wenn sie aushalten sollen, große Anspruchslosigkeit die Voraussetzung ist. Daß
sich die Wirkung der Maschine ans großen Gütern stärker bemerkbar macht,
dürfen wir so sachkundigen Männern wie dem Freiherrn v. d. Goltz und
Dr. Weber schon glauben. Ganz augenfällig aber ist die Wirkung des Rüben¬
baues, der im Sommer eine Menge Arbeiter notwendig macht, für die es im
Winter schlechterdings nichts zu thun giebt. Liegen nnn auf der einen Seite
des Nübenlandes Jndnstriebezirke und größere Städte, die den Landarbeitern
das ganze Jahr hindurch gleichmäßige Beschäftigung gewähren oder wenigstens
die Aussicht darauf eröffne", und auf der andern Gegenden mit sehr kargen
Löhnen, so ist damit jenes Hin- und Herwogen der ländlichen Arbeiterbevöl¬
kerung gegeben, dessen Hauptschauplatz die Provinz Sachsen zu sein scheint.
Es kommt wenig darauf an, in welchem Grade daneben auf die Arbeiter die
viel besprochnen psychologischen Beweggründe: leichtsinnige Veränderungslust
und Vergnügungssucht, Gefallen an zeitweiliger Ungebundenheit u. tgi. mit¬
wirken. Genug, daß der moderne landwirtschaftliche Betrieb dieses Nomaden-
tuin hervorruft; an psychologischen Triebkräften, eine dnrch äußere Umstände
hervorgerufene Bewegung zu verstärken, fehlt es niemals. Diesem Zustande
kann nun auf keine andre Weise abgeholfen werden, als durch die von uns
und andern schon oft und bei verschiednen Gelegenheiten empfohlene Dezeu-
twlisirung der Industrie, wozu dann allerdings noch eine der alten Hans-


Die Landarl'eiterfrage

wie diese und unheilbar sind. Wo es Herren und Knechte giebt, da werden
immer viele Knechte über harte und wunderliche Herren, viele Herren über
faule, ungeschickte und widerspenstige Knechte klagen, und wie zu allen Zeiten
die Knechte, die es nicht länger aushalten zu können glaubten, oder denen die
Aussicht auf etwas Besseres winkte, fortgelaufen sind, sie mochten Sklaven,
Hörige oder Lohnarbeiter heißen, so werden sie fortlaufen uoch im dritten und
vierten Jahrtausend, wenn dann die Welt noch steht. Damit hat sich der Po¬
litiker so wenig zu befassen, wie mit den ewigen Klagen der Hausfrauen über
ihre Dienstboten. Daß das Fortlaufen in dem Stelzenstil unsers heutigen
sogenannten Rechtsstaates Kvntraktbrnch heißt, macht in der Sache keinen Unter¬
schied. Also nicht das allgemein Menschliche, das dem Prediger und dem
Satirenschreiber gehört, ist hier zu besprechen, sondern bloß das Eigentümliche,
das aus unsern heutigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zuständen
entspringt. Und dieses scheidet sich nun in ein ganz Deutschland betreffendes
und in ein besonderes, das nur den Nordosten angeht.

Jenes allgemeine besteht in dem Schwanken des Bedarfs an Arbeitern
zwischen Sommer und Winter. Die Dreschmaschine wirkt, wie uns von Land¬
wirten gesagt wird, namentlich auf den Bauerngütern uoch nicht so schlimm,
weil die verbesserte Kultur im Winter viele Vorbereituugsarbeiteu notwendig
macht, sodaß außer dem Gesinde auch die Tagelöhner ziemlich regelmäßig
beschäftigt werden können, freilich bei geringerm Lohne, weshalb allerdings,
wenn sie aushalten sollen, große Anspruchslosigkeit die Voraussetzung ist. Daß
sich die Wirkung der Maschine ans großen Gütern stärker bemerkbar macht,
dürfen wir so sachkundigen Männern wie dem Freiherrn v. d. Goltz und
Dr. Weber schon glauben. Ganz augenfällig aber ist die Wirkung des Rüben¬
baues, der im Sommer eine Menge Arbeiter notwendig macht, für die es im
Winter schlechterdings nichts zu thun giebt. Liegen nnn auf der einen Seite
des Nübenlandes Jndnstriebezirke und größere Städte, die den Landarbeitern
das ganze Jahr hindurch gleichmäßige Beschäftigung gewähren oder wenigstens
die Aussicht darauf eröffne», und auf der andern Gegenden mit sehr kargen
Löhnen, so ist damit jenes Hin- und Herwogen der ländlichen Arbeiterbevöl¬
kerung gegeben, dessen Hauptschauplatz die Provinz Sachsen zu sein scheint.
Es kommt wenig darauf an, in welchem Grade daneben auf die Arbeiter die
viel besprochnen psychologischen Beweggründe: leichtsinnige Veränderungslust
und Vergnügungssucht, Gefallen an zeitweiliger Ungebundenheit u. tgi. mit¬
wirken. Genug, daß der moderne landwirtschaftliche Betrieb dieses Nomaden-
tuin hervorruft; an psychologischen Triebkräften, eine dnrch äußere Umstände
hervorgerufene Bewegung zu verstärken, fehlt es niemals. Diesem Zustande
kann nun auf keine andre Weise abgeholfen werden, als durch die von uns
und andern schon oft und bei verschiednen Gelegenheiten empfohlene Dezeu-
twlisirung der Industrie, wozu dann allerdings noch eine der alten Hans-


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[0411] Die Landarl'eiterfrage wie diese und unheilbar sind. Wo es Herren und Knechte giebt, da werden immer viele Knechte über harte und wunderliche Herren, viele Herren über faule, ungeschickte und widerspenstige Knechte klagen, und wie zu allen Zeiten die Knechte, die es nicht länger aushalten zu können glaubten, oder denen die Aussicht auf etwas Besseres winkte, fortgelaufen sind, sie mochten Sklaven, Hörige oder Lohnarbeiter heißen, so werden sie fortlaufen uoch im dritten und vierten Jahrtausend, wenn dann die Welt noch steht. Damit hat sich der Po¬ litiker so wenig zu befassen, wie mit den ewigen Klagen der Hausfrauen über ihre Dienstboten. Daß das Fortlaufen in dem Stelzenstil unsers heutigen sogenannten Rechtsstaates Kvntraktbrnch heißt, macht in der Sache keinen Unter¬ schied. Also nicht das allgemein Menschliche, das dem Prediger und dem Satirenschreiber gehört, ist hier zu besprechen, sondern bloß das Eigentümliche, das aus unsern heutigen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Zuständen entspringt. Und dieses scheidet sich nun in ein ganz Deutschland betreffendes und in ein besonderes, das nur den Nordosten angeht. Jenes allgemeine besteht in dem Schwanken des Bedarfs an Arbeitern zwischen Sommer und Winter. Die Dreschmaschine wirkt, wie uns von Land¬ wirten gesagt wird, namentlich auf den Bauerngütern uoch nicht so schlimm, weil die verbesserte Kultur im Winter viele Vorbereituugsarbeiteu notwendig macht, sodaß außer dem Gesinde auch die Tagelöhner ziemlich regelmäßig beschäftigt werden können, freilich bei geringerm Lohne, weshalb allerdings, wenn sie aushalten sollen, große Anspruchslosigkeit die Voraussetzung ist. Daß sich die Wirkung der Maschine ans großen Gütern stärker bemerkbar macht, dürfen wir so sachkundigen Männern wie dem Freiherrn v. d. Goltz und Dr. Weber schon glauben. Ganz augenfällig aber ist die Wirkung des Rüben¬ baues, der im Sommer eine Menge Arbeiter notwendig macht, für die es im Winter schlechterdings nichts zu thun giebt. Liegen nnn auf der einen Seite des Nübenlandes Jndnstriebezirke und größere Städte, die den Landarbeitern das ganze Jahr hindurch gleichmäßige Beschäftigung gewähren oder wenigstens die Aussicht darauf eröffne», und auf der andern Gegenden mit sehr kargen Löhnen, so ist damit jenes Hin- und Herwogen der ländlichen Arbeiterbevöl¬ kerung gegeben, dessen Hauptschauplatz die Provinz Sachsen zu sein scheint. Es kommt wenig darauf an, in welchem Grade daneben auf die Arbeiter die viel besprochnen psychologischen Beweggründe: leichtsinnige Veränderungslust und Vergnügungssucht, Gefallen an zeitweiliger Ungebundenheit u. tgi. mit¬ wirken. Genug, daß der moderne landwirtschaftliche Betrieb dieses Nomaden- tuin hervorruft; an psychologischen Triebkräften, eine dnrch äußere Umstände hervorgerufene Bewegung zu verstärken, fehlt es niemals. Diesem Zustande kann nun auf keine andre Weise abgeholfen werden, als durch die von uns und andern schon oft und bei verschiednen Gelegenheiten empfohlene Dezeu- twlisirung der Industrie, wozu dann allerdings noch eine der alten Hans-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/411>, abgerufen am 22.07.2024.