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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Flüchtlinge

Der Platz bedeckte sich mit abgerissenen Zweigen, mit den zerfetzten und zer¬
stampften Blättern der Bäume, die selbst, von Sturm und Regen gepeitscht, in
wildem Aufruhr gegeneinander zu stehen schienen und sich mit tausend Armen an¬
griffen. Lucie flehte und weinte, aber sie erhielt ans nichts Antwort. Der Kampf
dauerte fort, und das Mädchen stand dabei und sah in den Streit der Männer
mit stummem Entsetzen und mit tiefer Schaul. Sie biß die Zähne in die Lippen,
daß sie bluteten, und sie hielt sich mit den Händen an den Bäumen fest, um nicht
umzusinken.

Auf einmal ließ der Regen nach, der bis dahin herabgerauscht war, und es
wurde still um sie. Hatte das Wetter ausgetobt, oder sammelten sich die Gewalten,
die Riesengeister, die zu ihren Häupten mit einander rangen, zum letzten Schlage?
Die Bäume standen regungslos, kaum daß noch ein Blatt zitterte, dann aber lohte
es plötzlich auf, ein Feilerwirbel, der den ganzen Wald für einen Augenblick in
Flammen setzte. Aber in diesem furchtbaren Scheine, der die Augen fast blind machte,
sah das Mädchen doch etwas, das ihr noch ein größeres Grauen einflößte, als
alle Schrecken der tobenden Elemente.

Er will dich töten, Franz! schrie sie anßer sich. Ein Messer, Franz! Mörder,
Mörder!

Das war das letzte, was sie sah. Es folgte ein schmetternder Schlag, der
sie zu Boden warf.

Als sie wieder erwachte, stand Franz vor ihr, noch fassungslos und mit flie¬
gendem Atem. Zuerst flog es ihr durch die Seele, wie ein großes, flammendes
Licht. Du lebst! stammelte sie freudig. Denn aber war es ihr, als sänke Nacht,
tiefe, finstere Nacht auf sie herab. Sie sahen sich verwirrt an, sie rangen nach
Worten, und plötzlich brach Lucie in el" heftiges lautes Weinen aus. Franz wandte
sich von ihr und ging zu dem Verwundeten, er beugte sich über ihn und versuchte
mit seiner zitternden Hand die Blutung zu stillen.

Lucie richtete sich auf.

Ist er tot? fragte sie mit stockender Stimme.

Nein.

O Franz, warum hast du das gethan?

Ich konnte nicht anders. Er oder ich! Ich entriß ihm das Messer, sonst
läge ich hier.

O mein Gott, klagte sie, warum hast du das geschehe" lassen? O meine
Eltern, meine armen Eltern! O deine arme Mutter, Franz!

Franz starrte auf den Boden, ohne zu antworten. Nun fing sie wieder an
zu weinen und zu schluchzen.

Hör auf! rief er endlich ungeduldig. Davon wirds nicht besser. Es ist
einmal geschehen. Wir müssen Hilfe schaffen.

Sie sah ihn lange an und holte tief Atem. Ja, Franz, und dann müssen
wir fliehen.

Wir? fragte er verwundert.

Ja, wir beide, Franz. Ich kann ja nun nicht mehr nach Hause, lieber sterben.
Wir sind beide schuldig an diesem Manne. Mail wird uns verfolgen, und nur
müssen fliehe", denn wen" sie uns fassen, so lauert etwas auf uns, was schlimmer
ist als der Tod.

Franz stand unschlüssig vor ihr. Er wußte nicht, was er antworten sollte.
Das, was er auf sich geladen hatte, diese blutige, schreckliche That, raubte ihm
jede Fähigkeit, ihre Lage kaltblütig zu überdenken. Es war ihm, als wären sie


Die Flüchtlinge

Der Platz bedeckte sich mit abgerissenen Zweigen, mit den zerfetzten und zer¬
stampften Blättern der Bäume, die selbst, von Sturm und Regen gepeitscht, in
wildem Aufruhr gegeneinander zu stehen schienen und sich mit tausend Armen an¬
griffen. Lucie flehte und weinte, aber sie erhielt ans nichts Antwort. Der Kampf
dauerte fort, und das Mädchen stand dabei und sah in den Streit der Männer
mit stummem Entsetzen und mit tiefer Schaul. Sie biß die Zähne in die Lippen,
daß sie bluteten, und sie hielt sich mit den Händen an den Bäumen fest, um nicht
umzusinken.

Auf einmal ließ der Regen nach, der bis dahin herabgerauscht war, und es
wurde still um sie. Hatte das Wetter ausgetobt, oder sammelten sich die Gewalten,
die Riesengeister, die zu ihren Häupten mit einander rangen, zum letzten Schlage?
Die Bäume standen regungslos, kaum daß noch ein Blatt zitterte, dann aber lohte
es plötzlich auf, ein Feilerwirbel, der den ganzen Wald für einen Augenblick in
Flammen setzte. Aber in diesem furchtbaren Scheine, der die Augen fast blind machte,
sah das Mädchen doch etwas, das ihr noch ein größeres Grauen einflößte, als
alle Schrecken der tobenden Elemente.

Er will dich töten, Franz! schrie sie anßer sich. Ein Messer, Franz! Mörder,
Mörder!

Das war das letzte, was sie sah. Es folgte ein schmetternder Schlag, der
sie zu Boden warf.

Als sie wieder erwachte, stand Franz vor ihr, noch fassungslos und mit flie¬
gendem Atem. Zuerst flog es ihr durch die Seele, wie ein großes, flammendes
Licht. Du lebst! stammelte sie freudig. Denn aber war es ihr, als sänke Nacht,
tiefe, finstere Nacht auf sie herab. Sie sahen sich verwirrt an, sie rangen nach
Worten, und plötzlich brach Lucie in el» heftiges lautes Weinen aus. Franz wandte
sich von ihr und ging zu dem Verwundeten, er beugte sich über ihn und versuchte
mit seiner zitternden Hand die Blutung zu stillen.

Lucie richtete sich auf.

Ist er tot? fragte sie mit stockender Stimme.

Nein.

O Franz, warum hast du das gethan?

Ich konnte nicht anders. Er oder ich! Ich entriß ihm das Messer, sonst
läge ich hier.

O mein Gott, klagte sie, warum hast du das geschehe» lassen? O meine
Eltern, meine armen Eltern! O deine arme Mutter, Franz!

Franz starrte auf den Boden, ohne zu antworten. Nun fing sie wieder an
zu weinen und zu schluchzen.

Hör auf! rief er endlich ungeduldig. Davon wirds nicht besser. Es ist
einmal geschehen. Wir müssen Hilfe schaffen.

Sie sah ihn lange an und holte tief Atem. Ja, Franz, und dann müssen
wir fliehen.

Wir? fragte er verwundert.

Ja, wir beide, Franz. Ich kann ja nun nicht mehr nach Hause, lieber sterben.
Wir sind beide schuldig an diesem Manne. Mail wird uns verfolgen, und nur
müssen fliehe», denn wen« sie uns fassen, so lauert etwas auf uns, was schlimmer
ist als der Tod.

Franz stand unschlüssig vor ihr. Er wußte nicht, was er antworten sollte.
Das, was er auf sich geladen hatte, diese blutige, schreckliche That, raubte ihm
jede Fähigkeit, ihre Lage kaltblütig zu überdenken. Es war ihm, als wären sie


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[0388] Die Flüchtlinge Der Platz bedeckte sich mit abgerissenen Zweigen, mit den zerfetzten und zer¬ stampften Blättern der Bäume, die selbst, von Sturm und Regen gepeitscht, in wildem Aufruhr gegeneinander zu stehen schienen und sich mit tausend Armen an¬ griffen. Lucie flehte und weinte, aber sie erhielt ans nichts Antwort. Der Kampf dauerte fort, und das Mädchen stand dabei und sah in den Streit der Männer mit stummem Entsetzen und mit tiefer Schaul. Sie biß die Zähne in die Lippen, daß sie bluteten, und sie hielt sich mit den Händen an den Bäumen fest, um nicht umzusinken. Auf einmal ließ der Regen nach, der bis dahin herabgerauscht war, und es wurde still um sie. Hatte das Wetter ausgetobt, oder sammelten sich die Gewalten, die Riesengeister, die zu ihren Häupten mit einander rangen, zum letzten Schlage? Die Bäume standen regungslos, kaum daß noch ein Blatt zitterte, dann aber lohte es plötzlich auf, ein Feilerwirbel, der den ganzen Wald für einen Augenblick in Flammen setzte. Aber in diesem furchtbaren Scheine, der die Augen fast blind machte, sah das Mädchen doch etwas, das ihr noch ein größeres Grauen einflößte, als alle Schrecken der tobenden Elemente. Er will dich töten, Franz! schrie sie anßer sich. Ein Messer, Franz! Mörder, Mörder! Das war das letzte, was sie sah. Es folgte ein schmetternder Schlag, der sie zu Boden warf. Als sie wieder erwachte, stand Franz vor ihr, noch fassungslos und mit flie¬ gendem Atem. Zuerst flog es ihr durch die Seele, wie ein großes, flammendes Licht. Du lebst! stammelte sie freudig. Denn aber war es ihr, als sänke Nacht, tiefe, finstere Nacht auf sie herab. Sie sahen sich verwirrt an, sie rangen nach Worten, und plötzlich brach Lucie in el» heftiges lautes Weinen aus. Franz wandte sich von ihr und ging zu dem Verwundeten, er beugte sich über ihn und versuchte mit seiner zitternden Hand die Blutung zu stillen. Lucie richtete sich auf. Ist er tot? fragte sie mit stockender Stimme. Nein. O Franz, warum hast du das gethan? Ich konnte nicht anders. Er oder ich! Ich entriß ihm das Messer, sonst läge ich hier. O mein Gott, klagte sie, warum hast du das geschehe» lassen? O meine Eltern, meine armen Eltern! O deine arme Mutter, Franz! Franz starrte auf den Boden, ohne zu antworten. Nun fing sie wieder an zu weinen und zu schluchzen. Hör auf! rief er endlich ungeduldig. Davon wirds nicht besser. Es ist einmal geschehen. Wir müssen Hilfe schaffen. Sie sah ihn lange an und holte tief Atem. Ja, Franz, und dann müssen wir fliehen. Wir? fragte er verwundert. Ja, wir beide, Franz. Ich kann ja nun nicht mehr nach Hause, lieber sterben. Wir sind beide schuldig an diesem Manne. Mail wird uns verfolgen, und nur müssen fliehe», denn wen« sie uns fassen, so lauert etwas auf uns, was schlimmer ist als der Tod. Franz stand unschlüssig vor ihr. Er wußte nicht, was er antworten sollte. Das, was er auf sich geladen hatte, diese blutige, schreckliche That, raubte ihm jede Fähigkeit, ihre Lage kaltblütig zu überdenken. Es war ihm, als wären sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/388>, abgerufen am 24.08.2024.