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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Griindeutschland

funkelnagelneu verkündet und der staunenden Welt zur Veherzigung dargeboten
werden. Man braucht nur die "romantische" Dichtart mit der "modernen"
Dichtart zu vertausche".

Doch Kirchner hat es in seinem Buche nicht mit dieser Wendung zum Wunder¬
baren, sondern mit den Jüngsten in der ein Lustrum hinter uns liegenden "Periode"
zu thun, wo sich besagte Jüngste in anmutigen Flegeljnhren noch selbst als "Griin¬
deutschland" bezeichneten und jedenfalls Naturalisten, waschechte Naturalisten zu
sein begehrten. Und da ist es denn wunderbar- der Verfasser, der uach seiner Vor¬
rede nach möglichster Gerechtigkeit gestrebt hat, der versichert, daß in dem Titel
"Gründeutschland" nicht etwa eine Ironie, sondern die Anerkennung liege, daß
"die deutsche Poesie durch die Jüngstdeutschen grüne, das heißt frisch und fröh¬
lich (!) treibe," der, trotz mancher Übertreibung, Verirrung und Verzerrung,
doch "eine große Zahl tüchtiger Leistungen" in der jüngsten deutschen Dich¬
tung gefunden haben will, der am Schlüsse in leisem Widerspruch mit der
unmaßgeblichen Einschränkung: "trotz alledem scheint uns die Revolution in
der Litteratur, welche die Jüngstdeutschen in Szene gesetzt zu haben glauben,
weder nötig noch nützlich" versichert, daß diese Richtung Nutzen stiften werde,
ja schon Nutzen gestiftet habe, der den Naturalismus "als notwendige Reaktion
gegen den extremen Idealismus, sowie gegen die sentimentale Süßlichkeit mancher
Schriftsteller oder die französelnde Pikanterie andrer" betrachtet wissen will,
giebt in seiner Einzelbesprechung der naturalistischen Litteratur eine Blütenlese
von Geschmacklosigkeiten, Brutalitäten und Scheußlichkeiten aus den Dramen
und Romanen der gepriesenen Modernen, die der ausgesprochenste Gegner nicht
besser veranstalten könnte.

"Unweise ist, wer ein Pfund Eiderdunen gegen einen Zentner Eisen in
die Wagschale legt," sagt ein russisches Volkssprichwort, und wer seine Kenntnis
Gründentschlands uur aus deu Proben schöpft, die Friedrich Kirchner anführt,
wird schwerlich in Versuchung kommen, mit dem Verfasser in Strindberg und
Mackay, in Konrad Alberti und Hermann Bahr die "neuen Souueuaare" zu
erkennen, die der greise Goethe fliegen sah. Die Sache ist offenbar die: der
Verfasser hat geglaubt, sich dem Berliner Zug zur "Moderne" nicht entziehen
zu können (Schwan kleb an!), hat sich jede Reflexion angeeignet, die für eine
günstige Beurteilung der neuesten Litteraturexperimente spricht, hat sich redlich
bemüht, den überhitzten Genialitäten Gründeutschlands Geschmack und Genuß
abzugewinnen und ist dann doch, als er vom einzelnen Rechenschaft zu geben
hatte, von Ekel und sittlicher Entrüstung, von einem gesunden Instinkt für
das eigentliche und unabänderliche Verhältnis der Kunst zum Leben über¬
mannt worden. Er hat sich, wenn er es auch wünschte und wollte, doch der
Erkenntnis nicht entziehen können, daß der moderne Naturalismus Natur¬
wahrheit nicht im ästhetischen, sondern im physiologisch-pathologischen Sinne
versteht, daß seine Schilderungen der Gesellschaft, die er einseitig für alle Laster


Griindeutschland

funkelnagelneu verkündet und der staunenden Welt zur Veherzigung dargeboten
werden. Man braucht nur die „romantische" Dichtart mit der „modernen"
Dichtart zu vertausche».

Doch Kirchner hat es in seinem Buche nicht mit dieser Wendung zum Wunder¬
baren, sondern mit den Jüngsten in der ein Lustrum hinter uns liegenden „Periode"
zu thun, wo sich besagte Jüngste in anmutigen Flegeljnhren noch selbst als „Griin¬
deutschland" bezeichneten und jedenfalls Naturalisten, waschechte Naturalisten zu
sein begehrten. Und da ist es denn wunderbar- der Verfasser, der uach seiner Vor¬
rede nach möglichster Gerechtigkeit gestrebt hat, der versichert, daß in dem Titel
„Gründeutschland" nicht etwa eine Ironie, sondern die Anerkennung liege, daß
„die deutsche Poesie durch die Jüngstdeutschen grüne, das heißt frisch und fröh¬
lich (!) treibe," der, trotz mancher Übertreibung, Verirrung und Verzerrung,
doch „eine große Zahl tüchtiger Leistungen" in der jüngsten deutschen Dich¬
tung gefunden haben will, der am Schlüsse in leisem Widerspruch mit der
unmaßgeblichen Einschränkung: „trotz alledem scheint uns die Revolution in
der Litteratur, welche die Jüngstdeutschen in Szene gesetzt zu haben glauben,
weder nötig noch nützlich" versichert, daß diese Richtung Nutzen stiften werde,
ja schon Nutzen gestiftet habe, der den Naturalismus „als notwendige Reaktion
gegen den extremen Idealismus, sowie gegen die sentimentale Süßlichkeit mancher
Schriftsteller oder die französelnde Pikanterie andrer" betrachtet wissen will,
giebt in seiner Einzelbesprechung der naturalistischen Litteratur eine Blütenlese
von Geschmacklosigkeiten, Brutalitäten und Scheußlichkeiten aus den Dramen
und Romanen der gepriesenen Modernen, die der ausgesprochenste Gegner nicht
besser veranstalten könnte.

„Unweise ist, wer ein Pfund Eiderdunen gegen einen Zentner Eisen in
die Wagschale legt," sagt ein russisches Volkssprichwort, und wer seine Kenntnis
Gründentschlands uur aus deu Proben schöpft, die Friedrich Kirchner anführt,
wird schwerlich in Versuchung kommen, mit dem Verfasser in Strindberg und
Mackay, in Konrad Alberti und Hermann Bahr die „neuen Souueuaare" zu
erkennen, die der greise Goethe fliegen sah. Die Sache ist offenbar die: der
Verfasser hat geglaubt, sich dem Berliner Zug zur „Moderne" nicht entziehen
zu können (Schwan kleb an!), hat sich jede Reflexion angeeignet, die für eine
günstige Beurteilung der neuesten Litteraturexperimente spricht, hat sich redlich
bemüht, den überhitzten Genialitäten Gründeutschlands Geschmack und Genuß
abzugewinnen und ist dann doch, als er vom einzelnen Rechenschaft zu geben
hatte, von Ekel und sittlicher Entrüstung, von einem gesunden Instinkt für
das eigentliche und unabänderliche Verhältnis der Kunst zum Leben über¬
mannt worden. Er hat sich, wenn er es auch wünschte und wollte, doch der
Erkenntnis nicht entziehen können, daß der moderne Naturalismus Natur¬
wahrheit nicht im ästhetischen, sondern im physiologisch-pathologischen Sinne
versteht, daß seine Schilderungen der Gesellschaft, die er einseitig für alle Laster


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/38>, abgerufen am 02.07.2024.