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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Puter, ein Wiedehopf und ach, wie viele Gänse entfalteten die gleiche Wunder-
kraft, und immer zappelte eine endlose Kette gemischten Gefolges hinter ihnen
drein! Keine noch so wüste Partei- oder Kliauenbestrelmng, keine noch so haar¬
sträubende Idee oder Hypothese, keine noch so verzerrte Scheingenialität, keine
noch so widersinnige Lehre, die sich nicht einen immer wachsenden Anhang ver¬
schafft hätte. Schwan kleb an! Und wie viele, die gar nicht anzukleben be¬
gehren, sondern im Gegenteil andre retten und aus der Gefolgschaft obligater
Schwäne oder Gänse herausreißen möchten, werden bei dieser Gelegenheit ding¬
fest gemacht. Es giebt eine Art, Leidenschaften, falsche Richtungen und Irr¬
tümer zu bekämpfen, bei der man, ohne es zu wollen, die bekämpften Übel
fördert, dem als leblos und nichtig erkannten gleichwohl eine Bedeutung bei¬
mißt. Das ist immer ein Zeichen eigner Unsicherheit und bedenklich schwan¬
kender Empfindung. Die Gewohnheit, mit der Masse zu gehn, sich vom großen
Zulauf imponiren zu lassen, die Furcht, unter die "Zurückgebliebnen" gerechnet
zu werden, spielt selbst bei leidlich tüchtigen Menschen eine so verhängnisvolle
Rolle, daß wir über gewisse Erscheinungen gar nicht zu erstaunen brauchen.
Der Zug rauscht heran, rauscht vorüber -- Schwan kleb an! -- wer will
gern im Straßengraben sitzen bleiben?

Das Buch, das uns zu diesen nicht sehr erfreulichen Betrachtungen Anlaß
giebt, nennt sich Gründeutschland, ein Streifzug durch die jüngste deutsche
Dichtung von Professor or. Friedrich Kirchner (Wien und Leipzig, Kirchner
und Schmidt, 1893) und will "ein Versuch sein, die modernen Dichter vom
literarhistorischen Standpunkte aus zu würdigen." Unter den "modernen"
Dichter" versteht aber auch Kirchner nicht etwa die wirklich schöpferischen, poe¬
tischen Naturen, die mit nngebrochner, aber anch nnbeschmntzter Phantasie,
vom Ernst des Daseins erfüllt, am Ganzen des Lebens festhalten und nicht
ausschließlich in den Fratzeuerscheinuugen des Größenwahns, in den Ent¬
artungen der Plutokratie und in dein Elend der niedergedrückten großstädtischen
Massen Leben sehen und suchen, sondern lediglich die Gruppe jener Jüngern,
die sich selbst als die "Modernen" ankündigen, die, nachdem sie ein Jahrzehnt
hindurch die gesamte Poesie von Homer bis zu ihren unmittelbaren Vorgängern
unwahr genannt, nach dem Erdgeruch der Wirklichkeit, nach der Zuverlässig¬
keit und Überzeugungskraft des wissenschaftlichen Experiments gerufen haben,
jetzt wieder dabei angelangt sind, daß die moderne Dichtung ungestüm zum
"Wunderbare"" und "Rätselhaften" dränge, daß der Phantasie und dem Traum
"starker Individualitäten" keine Schranken, auch nicht die der Natur, gesetzt
seien, und in dieser Forderung oder Behauptung, meist ohne es zu wisse",
glücklich wieder mit Friedrich Schlegels Charakteristik der "romantischen Dicht¬
art" zusammentreffein "sie allein ist ""endlich, wie sie allein frei ist und das
als erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich
leide." Der Satz ist gerade ein Jahrhundert alt, kann also wieder einmal als


Puter, ein Wiedehopf und ach, wie viele Gänse entfalteten die gleiche Wunder-
kraft, und immer zappelte eine endlose Kette gemischten Gefolges hinter ihnen
drein! Keine noch so wüste Partei- oder Kliauenbestrelmng, keine noch so haar¬
sträubende Idee oder Hypothese, keine noch so verzerrte Scheingenialität, keine
noch so widersinnige Lehre, die sich nicht einen immer wachsenden Anhang ver¬
schafft hätte. Schwan kleb an! Und wie viele, die gar nicht anzukleben be¬
gehren, sondern im Gegenteil andre retten und aus der Gefolgschaft obligater
Schwäne oder Gänse herausreißen möchten, werden bei dieser Gelegenheit ding¬
fest gemacht. Es giebt eine Art, Leidenschaften, falsche Richtungen und Irr¬
tümer zu bekämpfen, bei der man, ohne es zu wollen, die bekämpften Übel
fördert, dem als leblos und nichtig erkannten gleichwohl eine Bedeutung bei¬
mißt. Das ist immer ein Zeichen eigner Unsicherheit und bedenklich schwan¬
kender Empfindung. Die Gewohnheit, mit der Masse zu gehn, sich vom großen
Zulauf imponiren zu lassen, die Furcht, unter die „Zurückgebliebnen" gerechnet
zu werden, spielt selbst bei leidlich tüchtigen Menschen eine so verhängnisvolle
Rolle, daß wir über gewisse Erscheinungen gar nicht zu erstaunen brauchen.
Der Zug rauscht heran, rauscht vorüber — Schwan kleb an! — wer will
gern im Straßengraben sitzen bleiben?

Das Buch, das uns zu diesen nicht sehr erfreulichen Betrachtungen Anlaß
giebt, nennt sich Gründeutschland, ein Streifzug durch die jüngste deutsche
Dichtung von Professor or. Friedrich Kirchner (Wien und Leipzig, Kirchner
und Schmidt, 1893) und will „ein Versuch sein, die modernen Dichter vom
literarhistorischen Standpunkte aus zu würdigen." Unter den „modernen"
Dichter» versteht aber auch Kirchner nicht etwa die wirklich schöpferischen, poe¬
tischen Naturen, die mit nngebrochner, aber anch nnbeschmntzter Phantasie,
vom Ernst des Daseins erfüllt, am Ganzen des Lebens festhalten und nicht
ausschließlich in den Fratzeuerscheinuugen des Größenwahns, in den Ent¬
artungen der Plutokratie und in dein Elend der niedergedrückten großstädtischen
Massen Leben sehen und suchen, sondern lediglich die Gruppe jener Jüngern,
die sich selbst als die „Modernen" ankündigen, die, nachdem sie ein Jahrzehnt
hindurch die gesamte Poesie von Homer bis zu ihren unmittelbaren Vorgängern
unwahr genannt, nach dem Erdgeruch der Wirklichkeit, nach der Zuverlässig¬
keit und Überzeugungskraft des wissenschaftlichen Experiments gerufen haben,
jetzt wieder dabei angelangt sind, daß die moderne Dichtung ungestüm zum
„Wunderbare»" und „Rätselhaften" dränge, daß der Phantasie und dem Traum
„starker Individualitäten" keine Schranken, auch nicht die der Natur, gesetzt
seien, und in dieser Forderung oder Behauptung, meist ohne es zu wisse»,
glücklich wieder mit Friedrich Schlegels Charakteristik der „romantischen Dicht¬
art" zusammentreffein „sie allein ist »»endlich, wie sie allein frei ist und das
als erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich
leide." Der Satz ist gerade ein Jahrhundert alt, kann also wieder einmal als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/37>, abgerufen am 30.06.2024.