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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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wo man vermischte Gedichte und zerstreute Aufsätze von Standespersonen mit
günstigem Vorurteil begrüßte und eine andre, wo der Wiederschein gewisser
litterarischer Studien in poetischen Arbeiten besonders geschätzt wurde. Das
alles aber liegt hinter uns und wird also auch den drei Bänden von Ed¬
mund Dorers nachgelassenen Schriften, herausgegeben von Adolf
Friedrich Grafen von Schack (Dresden, L. Ehlermann, 1893) schwerlich zu
gute kommen; eher könnte die Thatsache, daß Dorer zu den Dichtern gehört,
mit denen die deutsche Schweiz unsre Litteratur bereichert hat, für die Wür¬
digung dieses Nachlasses in einzelnen Kreisen ins Gewicht fallen. Und viel¬
leicht vermögen einige Besonderheiten, die freilich nicht eben dichterische Be¬
sonderheiten sind, dem verstorbnen Dichter und Schriftsteller einige Freunde
zu gewinnen. Der hochgeschätzte Herausgeber hält es zwar in seinem Vorwort
für möglich, daß Dorers Schriften "bekannt und allgemein gelesen werden,"
und Joseph Viktor Widmann, der Schweizer Landsmann Dorers, rühmt ihn
als "einen Schriftsteller, der noch wußte, daß die Poesie, wie alle echte Kunst,
heiter sein soll, und daß nicht umsonst der griechische Sonnengott auch der
Führer des Reigens der Musen war," und beklagt bei seinem Tode den schmerz¬
lichen Verlust "einer hellenisch schönen Dichternatur." Wir aber fürchten, daß
nicht nur "die naturalistischen Sumpfvögel und Fledermäuse, die mit wüstem
Gelärm den Helikon in einen widerlichen Blocksberg zu verwandeln drohen,"
sondern fast alle, die von der Poesie einen tiefern und mächtigern Eindruck
verlangen, als den einer gebildeten Unterhaltung, dieser Sammlung von ly¬
rischen Gedichten, Fastnachtsspielen, poetischen Übersetzungen und vermischten
Aufsätzen nur einen bescheidnen Platz zwischen der wahrhaft lebendigen poetischen
Produktion und den Miseellaneen der Litteratur zusprechen werden. Als Ge¬
dächtnismal für eine feinsinnige Natur und einen reichgenährten Geist hat
solche Sammlung ihr gutes Recht, aber als Wall gegen die Flut der Bar¬
barei und der Sensationssucht versagt sie den Dienst.

Der Verfasser dieser "nachgelassenen Schriften," Edmund Dorer, als Sohn
des 1864 verstorbnen Landammanns des Kantons Aargau, Eduard Dorer-
Egloff (der sich gleichfalls als lyrischer Dichter, als poetischer Übersetzer, als
Sammler und Kenner von Volksliedern bethätigt hatte), 1831 zu Baden im
Aargau geboren, studierte in München und Leipzig Philologie und Philosophie,
lebte, nach wiederholten Reisen in Italien und Spanien, teils an den ver¬
schiedensten Orten seiner schweizerischen Heimat, teils in Dresden, wohin er
von 1858 an immer wieder zurückkehrte, und wo er am 5. Mai 1890 gestorben
ist. Durch eignes Vermögen der Notwendigkeit eines Berufs und Erwerbs
entrückt, konnte er sich seinen Studien und geistigen Neigungen frei und un¬
gehemmt hingeben. Aber von kränklicher Leibesbeschaffenheit, womit die Un¬
ruhe seines Blutes, die ihn von Ort zu Ort trieb, zusammenzuhängen schien,
in spätern Jahren auch von mancherlei Sorgen gedrückt, da er einen größern


Grenzboten IV 1893 47

wo man vermischte Gedichte und zerstreute Aufsätze von Standespersonen mit
günstigem Vorurteil begrüßte und eine andre, wo der Wiederschein gewisser
litterarischer Studien in poetischen Arbeiten besonders geschätzt wurde. Das
alles aber liegt hinter uns und wird also auch den drei Bänden von Ed¬
mund Dorers nachgelassenen Schriften, herausgegeben von Adolf
Friedrich Grafen von Schack (Dresden, L. Ehlermann, 1893) schwerlich zu
gute kommen; eher könnte die Thatsache, daß Dorer zu den Dichtern gehört,
mit denen die deutsche Schweiz unsre Litteratur bereichert hat, für die Wür¬
digung dieses Nachlasses in einzelnen Kreisen ins Gewicht fallen. Und viel¬
leicht vermögen einige Besonderheiten, die freilich nicht eben dichterische Be¬
sonderheiten sind, dem verstorbnen Dichter und Schriftsteller einige Freunde
zu gewinnen. Der hochgeschätzte Herausgeber hält es zwar in seinem Vorwort
für möglich, daß Dorers Schriften „bekannt und allgemein gelesen werden,"
und Joseph Viktor Widmann, der Schweizer Landsmann Dorers, rühmt ihn
als „einen Schriftsteller, der noch wußte, daß die Poesie, wie alle echte Kunst,
heiter sein soll, und daß nicht umsonst der griechische Sonnengott auch der
Führer des Reigens der Musen war," und beklagt bei seinem Tode den schmerz¬
lichen Verlust „einer hellenisch schönen Dichternatur." Wir aber fürchten, daß
nicht nur „die naturalistischen Sumpfvögel und Fledermäuse, die mit wüstem
Gelärm den Helikon in einen widerlichen Blocksberg zu verwandeln drohen,"
sondern fast alle, die von der Poesie einen tiefern und mächtigern Eindruck
verlangen, als den einer gebildeten Unterhaltung, dieser Sammlung von ly¬
rischen Gedichten, Fastnachtsspielen, poetischen Übersetzungen und vermischten
Aufsätzen nur einen bescheidnen Platz zwischen der wahrhaft lebendigen poetischen
Produktion und den Miseellaneen der Litteratur zusprechen werden. Als Ge¬
dächtnismal für eine feinsinnige Natur und einen reichgenährten Geist hat
solche Sammlung ihr gutes Recht, aber als Wall gegen die Flut der Bar¬
barei und der Sensationssucht versagt sie den Dienst.

Der Verfasser dieser „nachgelassenen Schriften," Edmund Dorer, als Sohn
des 1864 verstorbnen Landammanns des Kantons Aargau, Eduard Dorer-
Egloff (der sich gleichfalls als lyrischer Dichter, als poetischer Übersetzer, als
Sammler und Kenner von Volksliedern bethätigt hatte), 1831 zu Baden im
Aargau geboren, studierte in München und Leipzig Philologie und Philosophie,
lebte, nach wiederholten Reisen in Italien und Spanien, teils an den ver¬
schiedensten Orten seiner schweizerischen Heimat, teils in Dresden, wohin er
von 1858 an immer wieder zurückkehrte, und wo er am 5. Mai 1890 gestorben
ist. Durch eignes Vermögen der Notwendigkeit eines Berufs und Erwerbs
entrückt, konnte er sich seinen Studien und geistigen Neigungen frei und un¬
gehemmt hingeben. Aber von kränklicher Leibesbeschaffenheit, womit die Un¬
ruhe seines Blutes, die ihn von Ort zu Ort trieb, zusammenzuhängen schien,
in spätern Jahren auch von mancherlei Sorgen gedrückt, da er einen größern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/377>, abgerufen am 30.06.2024.