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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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bei der niedern Bevölkerung die Grundlage für die Vaterlandsliebe. Es bietet
für den Sozialpolitiker kein erfreuliches Bild, wenn an den üblichen Umzugs-
terminen auf den verkehrsreichen Landstraßen im Laufe eines einzigen Tages
eine ganze Reihe von Arbeiterfamilien mit allen ihren Habseligkeiten vorüber¬
kommt, um einen neuen Wohnsitz aufzusuchen. Je nach ihrem Besitz an fah¬
renden Gütern ist dann eine Familie auf drei, vier, fünf oder noch mehr Wagen
untergebracht, auf denen sich Eltern und Kinder, Schweine und Geflügel, Vor¬
räte an Getreide und Kartoffeln, Bettzeug und Hausgeräte einträchtig neben
und über einander befinden. Ist die Familie in ihrer Art wohlhabend, so
geht hinter einem der Wagen und an ihn angebunden das wertvollste Besitz¬
tum, eine Kuh. In dieser Weise wechseln jährlich Tausende von Arbeiter¬
familien ihren Wohnsitz, ihre Arbeitsstätte, ihren Arbeitgeber; mit jedem Wechsel
geht ein Stück Liebe und Anhänglichkeit zu Heimat, Freunde", Arbeitgebern
verloren. Nach dem bekannten Sprichwort: "Dreimal Umziehen ist so viel wie
einmal Abbrennen" ist auch der materielle Verlust, den die Arbeiter durch den
Umzug erleide", nicht gering." Und da die Kuhhaltung bei den Jnftleute"
aus den angeführte" Ursachen ohnehin immer seltner wird, so werden dann
schon diese Umzüge das übrige besorgen; es wird bald keine kuhhaltenden Jnst-
lente mehr geben. Der wandernde Jnstmcinn steht durch seinen Besitz und seine
Lebensgewohnheiten immer noch eine Stufe über dein "Losnrbeiter," aber er
verschwindet auf die angegebne Weise mehr und mehr, während sich die Zahl
der Losarbeiter vermehrt.

Wird lediglich das Einkommen berücksichtigt und dieses in Gelde berechnet,
so hat sich den amtlichen Durchschuittsberechuungen nach die Lage der länd¬
lichen Arbeiter seit ihrem Entstehen gebessert. Im Jahre 1873 ließ der Kon¬
greß deutscher Landwirte Erhebungen veranstalten; nach diesen betrug in den
alten Provinzen des östlichen Flügels der preußische" Monarchie das durch¬
schnittliche Familieneinkommen (Arbeitslohn der Frau und Naturalien mit¬
gerechnet) der freie" Tagelöhner 559,44, das der Gutstagelöhner (Jnseen)
658,82 Mark. Die niedrigste" Zahlen hatte der Regierungsbezirk Gumbinnen
mit 387 und 513,6, die höchsten Merseburg mit "63,6 und 867 Mark.
V. d. Goltz berechnet die Steigerung seit 1848 auf 41,7 Prozent. Er
findet sie schon deswegen nicht übermäßig, weil sich ja in dem gleichen Zeit¬
räume die Ansprüche aller Stände gesteigert und die Besoldungen aller Be-
amtenklassen gehoben hätten. Viele von diesen haben gerade erst nach dem
Jahre 1873 eine so bedeutende Aufbesserung erfahren, daß sie um hundert und
mehr Prozent höher stehen als am Anfange des Jahrhunderts, während die
ländlichen Tagelohne seit 1873 nach v. d. Goltz im ganzen zwar ein
wenig, aber nur an wenigen Orten stark gestiegen, an manchen sogar ge¬
sunken sind.

Zwischen dem nördlichen Flügel des vstelbischen Landes und dem südlichen,


bei der niedern Bevölkerung die Grundlage für die Vaterlandsliebe. Es bietet
für den Sozialpolitiker kein erfreuliches Bild, wenn an den üblichen Umzugs-
terminen auf den verkehrsreichen Landstraßen im Laufe eines einzigen Tages
eine ganze Reihe von Arbeiterfamilien mit allen ihren Habseligkeiten vorüber¬
kommt, um einen neuen Wohnsitz aufzusuchen. Je nach ihrem Besitz an fah¬
renden Gütern ist dann eine Familie auf drei, vier, fünf oder noch mehr Wagen
untergebracht, auf denen sich Eltern und Kinder, Schweine und Geflügel, Vor¬
räte an Getreide und Kartoffeln, Bettzeug und Hausgeräte einträchtig neben
und über einander befinden. Ist die Familie in ihrer Art wohlhabend, so
geht hinter einem der Wagen und an ihn angebunden das wertvollste Besitz¬
tum, eine Kuh. In dieser Weise wechseln jährlich Tausende von Arbeiter¬
familien ihren Wohnsitz, ihre Arbeitsstätte, ihren Arbeitgeber; mit jedem Wechsel
geht ein Stück Liebe und Anhänglichkeit zu Heimat, Freunde», Arbeitgebern
verloren. Nach dem bekannten Sprichwort: »Dreimal Umziehen ist so viel wie
einmal Abbrennen« ist auch der materielle Verlust, den die Arbeiter durch den
Umzug erleide», nicht gering." Und da die Kuhhaltung bei den Jnftleute»
aus den angeführte» Ursachen ohnehin immer seltner wird, so werden dann
schon diese Umzüge das übrige besorgen; es wird bald keine kuhhaltenden Jnst-
lente mehr geben. Der wandernde Jnstmcinn steht durch seinen Besitz und seine
Lebensgewohnheiten immer noch eine Stufe über dein „Losnrbeiter," aber er
verschwindet auf die angegebne Weise mehr und mehr, während sich die Zahl
der Losarbeiter vermehrt.

Wird lediglich das Einkommen berücksichtigt und dieses in Gelde berechnet,
so hat sich den amtlichen Durchschuittsberechuungen nach die Lage der länd¬
lichen Arbeiter seit ihrem Entstehen gebessert. Im Jahre 1873 ließ der Kon¬
greß deutscher Landwirte Erhebungen veranstalten; nach diesen betrug in den
alten Provinzen des östlichen Flügels der preußische» Monarchie das durch¬
schnittliche Familieneinkommen (Arbeitslohn der Frau und Naturalien mit¬
gerechnet) der freie» Tagelöhner 559,44, das der Gutstagelöhner (Jnseen)
658,82 Mark. Die niedrigste» Zahlen hatte der Regierungsbezirk Gumbinnen
mit 387 und 513,6, die höchsten Merseburg mit «63,6 und 867 Mark.
V. d. Goltz berechnet die Steigerung seit 1848 auf 41,7 Prozent. Er
findet sie schon deswegen nicht übermäßig, weil sich ja in dem gleichen Zeit¬
räume die Ansprüche aller Stände gesteigert und die Besoldungen aller Be-
amtenklassen gehoben hätten. Viele von diesen haben gerade erst nach dem
Jahre 1873 eine so bedeutende Aufbesserung erfahren, daß sie um hundert und
mehr Prozent höher stehen als am Anfange des Jahrhunderts, während die
ländlichen Tagelohne seit 1873 nach v. d. Goltz im ganzen zwar ein
wenig, aber nur an wenigen Orten stark gestiegen, an manchen sogar ge¬
sunken sind.

Zwischen dem nördlichen Flügel des vstelbischen Landes und dem südlichen,


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[0363] bei der niedern Bevölkerung die Grundlage für die Vaterlandsliebe. Es bietet für den Sozialpolitiker kein erfreuliches Bild, wenn an den üblichen Umzugs- terminen auf den verkehrsreichen Landstraßen im Laufe eines einzigen Tages eine ganze Reihe von Arbeiterfamilien mit allen ihren Habseligkeiten vorüber¬ kommt, um einen neuen Wohnsitz aufzusuchen. Je nach ihrem Besitz an fah¬ renden Gütern ist dann eine Familie auf drei, vier, fünf oder noch mehr Wagen untergebracht, auf denen sich Eltern und Kinder, Schweine und Geflügel, Vor¬ räte an Getreide und Kartoffeln, Bettzeug und Hausgeräte einträchtig neben und über einander befinden. Ist die Familie in ihrer Art wohlhabend, so geht hinter einem der Wagen und an ihn angebunden das wertvollste Besitz¬ tum, eine Kuh. In dieser Weise wechseln jährlich Tausende von Arbeiter¬ familien ihren Wohnsitz, ihre Arbeitsstätte, ihren Arbeitgeber; mit jedem Wechsel geht ein Stück Liebe und Anhänglichkeit zu Heimat, Freunde», Arbeitgebern verloren. Nach dem bekannten Sprichwort: »Dreimal Umziehen ist so viel wie einmal Abbrennen« ist auch der materielle Verlust, den die Arbeiter durch den Umzug erleide», nicht gering." Und da die Kuhhaltung bei den Jnftleute» aus den angeführte» Ursachen ohnehin immer seltner wird, so werden dann schon diese Umzüge das übrige besorgen; es wird bald keine kuhhaltenden Jnst- lente mehr geben. Der wandernde Jnstmcinn steht durch seinen Besitz und seine Lebensgewohnheiten immer noch eine Stufe über dein „Losnrbeiter," aber er verschwindet auf die angegebne Weise mehr und mehr, während sich die Zahl der Losarbeiter vermehrt. Wird lediglich das Einkommen berücksichtigt und dieses in Gelde berechnet, so hat sich den amtlichen Durchschuittsberechuungen nach die Lage der länd¬ lichen Arbeiter seit ihrem Entstehen gebessert. Im Jahre 1873 ließ der Kon¬ greß deutscher Landwirte Erhebungen veranstalten; nach diesen betrug in den alten Provinzen des östlichen Flügels der preußische» Monarchie das durch¬ schnittliche Familieneinkommen (Arbeitslohn der Frau und Naturalien mit¬ gerechnet) der freie» Tagelöhner 559,44, das der Gutstagelöhner (Jnseen) 658,82 Mark. Die niedrigste» Zahlen hatte der Regierungsbezirk Gumbinnen mit 387 und 513,6, die höchsten Merseburg mit «63,6 und 867 Mark. V. d. Goltz berechnet die Steigerung seit 1848 auf 41,7 Prozent. Er findet sie schon deswegen nicht übermäßig, weil sich ja in dem gleichen Zeit¬ räume die Ansprüche aller Stände gesteigert und die Besoldungen aller Be- amtenklassen gehoben hätten. Viele von diesen haben gerade erst nach dem Jahre 1873 eine so bedeutende Aufbesserung erfahren, daß sie um hundert und mehr Prozent höher stehen als am Anfange des Jahrhunderts, während die ländlichen Tagelohne seit 1873 nach v. d. Goltz im ganzen zwar ein wenig, aber nur an wenigen Orten stark gestiegen, an manchen sogar ge¬ sunken sind. Zwischen dem nördlichen Flügel des vstelbischen Landes und dem südlichen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/363>, abgerufen am 22.07.2024.