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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Suggestionen in der Politik

wolle, lebt doch in dem Bannkreise nicht nur persönlicher Interessen, und ohne
ein Mysterium ist es nicht verständlich, wie ans jedem Abgeordneten plötzlich
der "Herr Mikrokosmos" werden soll, nach dessen Bekanntschaft sich Mephi-
stopheles sehnt. In einer wahrhaften Volksvertretung sollen aber alle Inter¬
essen zu Worte kommen, sie soll jeder Gesellschaftsklasse, jedem Berufe die
Möglichkeit gewähren, ihre besondern Bedürfnisse, Wünsche, Beschwerden zur
Sprache zu bringen. Jeder unbeschvltne Staatsbürger soll das Wahlrecht
ausüben können, aber nicht zu dem Zweck, seiner Klasse zur Alleinherrschaft
zu verhelfen. Die Entscheidung, wie zwischen den streitenden Interessen aus¬
zugleichen, wie weit den einzelnen Bedürfnissen ohne Beeinträchtigung der
übrigen Befriedigung zu verschaffen sei, ist nicht Sache der Parlamente, sondern
der Regierungen.

Das verstößt abermals gegen eine suggerirte Meinung, derzufolge die
Minister lediglich dazu basirt, die Aufträge des "hohen Hauses" auszuführen.
Daß die in Parlamenten ausgearbeiteten Gesetze in der Regel die allerschlech-
testen sind, läßt sich nicht leugnen; allein es geht nicht anders, man muß sich
darauf verlassen, daß eine spätere Versammlung die Fehler der frühern aus¬
bessern werde. Da kommen die gegenwärtigen Verhandlungen in Österreich
wie gerufen, und das Lesen dortiger Zeitungen ist sehr zu empfehlen. Was
den Minister Tciaffe zu dem Saltomortale ins allgemeine Wahlrecht bewogen
haben mag, berührt uns hier eben so wenig, wie der Versuch, einem solchen
Dreigespann wie Polen, klerikale Föderalisten und liberale Zentralisten den
parlamentarischen Staatswagen zu überlassen. Dagegen ist von Wichtigkeit,
daß die liberale Partei, die dort leider offiziell die deutsche Bevölkerung ver¬
tritt, und die sonst eitel Bewunderung sür unsern Thersites und seinen "un¬
entwegter" Anhang ist, sich stets bereit gezeigt hat, den großen wie den
bäuerlichen Grundbesitz den Güterschlächtern, den Gewerbestand dem Zwischen¬
handel und der Großindustrie auszuliefern, daß diese selbe Partei jetzt plötzlich
entdeckt hat, jeder Stand habe die Berechtigung der Existenz und einer an¬
gemessenen Vertretung, die Kopfzahl allein dürfe nirgends den Ausschlag geben,
am wenigsten in Österreich. Ja ein Hauptredner dieser Partei vergaß sich so
weit, zu erklären, daß man sich auch in der Politik von der Erfahrung belehren
lassen müsse, und daß nur ein beschränkter Mensch sein Leben lang bei den un¬
reifen Ansichten der Jugend beharre. Die Not der Partei hat dort den Schleier
der Suggestion zerrissen -- Herr Virchow wird sein Antlitz verhüllen.

Werden die Politiker an der Donau die Folgerungen ihrer jetzt aus-
gesprochnen Sätze anerkennen, nämlich: daß sich jede Interessengruppe durch
Männer aus ihrer Mitte, Sach- und Fachverständige, Kenner der örtlichen
Verhältnisse vertreten lassen muß, womit den gewerbsmäßigen Parlamentariern,
den Alleswissern in großen Städten das Handwerk gelegt werden würde?
daß man nötigenfalls anch den Judengemeinden ein eignes Wahlrecht ein-


Suggestionen in der Politik

wolle, lebt doch in dem Bannkreise nicht nur persönlicher Interessen, und ohne
ein Mysterium ist es nicht verständlich, wie ans jedem Abgeordneten plötzlich
der „Herr Mikrokosmos" werden soll, nach dessen Bekanntschaft sich Mephi-
stopheles sehnt. In einer wahrhaften Volksvertretung sollen aber alle Inter¬
essen zu Worte kommen, sie soll jeder Gesellschaftsklasse, jedem Berufe die
Möglichkeit gewähren, ihre besondern Bedürfnisse, Wünsche, Beschwerden zur
Sprache zu bringen. Jeder unbeschvltne Staatsbürger soll das Wahlrecht
ausüben können, aber nicht zu dem Zweck, seiner Klasse zur Alleinherrschaft
zu verhelfen. Die Entscheidung, wie zwischen den streitenden Interessen aus¬
zugleichen, wie weit den einzelnen Bedürfnissen ohne Beeinträchtigung der
übrigen Befriedigung zu verschaffen sei, ist nicht Sache der Parlamente, sondern
der Regierungen.

Das verstößt abermals gegen eine suggerirte Meinung, derzufolge die
Minister lediglich dazu basirt, die Aufträge des „hohen Hauses" auszuführen.
Daß die in Parlamenten ausgearbeiteten Gesetze in der Regel die allerschlech-
testen sind, läßt sich nicht leugnen; allein es geht nicht anders, man muß sich
darauf verlassen, daß eine spätere Versammlung die Fehler der frühern aus¬
bessern werde. Da kommen die gegenwärtigen Verhandlungen in Österreich
wie gerufen, und das Lesen dortiger Zeitungen ist sehr zu empfehlen. Was
den Minister Tciaffe zu dem Saltomortale ins allgemeine Wahlrecht bewogen
haben mag, berührt uns hier eben so wenig, wie der Versuch, einem solchen
Dreigespann wie Polen, klerikale Föderalisten und liberale Zentralisten den
parlamentarischen Staatswagen zu überlassen. Dagegen ist von Wichtigkeit,
daß die liberale Partei, die dort leider offiziell die deutsche Bevölkerung ver¬
tritt, und die sonst eitel Bewunderung sür unsern Thersites und seinen „un¬
entwegter" Anhang ist, sich stets bereit gezeigt hat, den großen wie den
bäuerlichen Grundbesitz den Güterschlächtern, den Gewerbestand dem Zwischen¬
handel und der Großindustrie auszuliefern, daß diese selbe Partei jetzt plötzlich
entdeckt hat, jeder Stand habe die Berechtigung der Existenz und einer an¬
gemessenen Vertretung, die Kopfzahl allein dürfe nirgends den Ausschlag geben,
am wenigsten in Österreich. Ja ein Hauptredner dieser Partei vergaß sich so
weit, zu erklären, daß man sich auch in der Politik von der Erfahrung belehren
lassen müsse, und daß nur ein beschränkter Mensch sein Leben lang bei den un¬
reifen Ansichten der Jugend beharre. Die Not der Partei hat dort den Schleier
der Suggestion zerrissen — Herr Virchow wird sein Antlitz verhüllen.

Werden die Politiker an der Donau die Folgerungen ihrer jetzt aus-
gesprochnen Sätze anerkennen, nämlich: daß sich jede Interessengruppe durch
Männer aus ihrer Mitte, Sach- und Fachverständige, Kenner der örtlichen
Verhältnisse vertreten lassen muß, womit den gewerbsmäßigen Parlamentariern,
den Alleswissern in großen Städten das Handwerk gelegt werden würde?
daß man nötigenfalls anch den Judengemeinden ein eignes Wahlrecht ein-


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[0338] Suggestionen in der Politik wolle, lebt doch in dem Bannkreise nicht nur persönlicher Interessen, und ohne ein Mysterium ist es nicht verständlich, wie ans jedem Abgeordneten plötzlich der „Herr Mikrokosmos" werden soll, nach dessen Bekanntschaft sich Mephi- stopheles sehnt. In einer wahrhaften Volksvertretung sollen aber alle Inter¬ essen zu Worte kommen, sie soll jeder Gesellschaftsklasse, jedem Berufe die Möglichkeit gewähren, ihre besondern Bedürfnisse, Wünsche, Beschwerden zur Sprache zu bringen. Jeder unbeschvltne Staatsbürger soll das Wahlrecht ausüben können, aber nicht zu dem Zweck, seiner Klasse zur Alleinherrschaft zu verhelfen. Die Entscheidung, wie zwischen den streitenden Interessen aus¬ zugleichen, wie weit den einzelnen Bedürfnissen ohne Beeinträchtigung der übrigen Befriedigung zu verschaffen sei, ist nicht Sache der Parlamente, sondern der Regierungen. Das verstößt abermals gegen eine suggerirte Meinung, derzufolge die Minister lediglich dazu basirt, die Aufträge des „hohen Hauses" auszuführen. Daß die in Parlamenten ausgearbeiteten Gesetze in der Regel die allerschlech- testen sind, läßt sich nicht leugnen; allein es geht nicht anders, man muß sich darauf verlassen, daß eine spätere Versammlung die Fehler der frühern aus¬ bessern werde. Da kommen die gegenwärtigen Verhandlungen in Österreich wie gerufen, und das Lesen dortiger Zeitungen ist sehr zu empfehlen. Was den Minister Tciaffe zu dem Saltomortale ins allgemeine Wahlrecht bewogen haben mag, berührt uns hier eben so wenig, wie der Versuch, einem solchen Dreigespann wie Polen, klerikale Föderalisten und liberale Zentralisten den parlamentarischen Staatswagen zu überlassen. Dagegen ist von Wichtigkeit, daß die liberale Partei, die dort leider offiziell die deutsche Bevölkerung ver¬ tritt, und die sonst eitel Bewunderung sür unsern Thersites und seinen „un¬ entwegter" Anhang ist, sich stets bereit gezeigt hat, den großen wie den bäuerlichen Grundbesitz den Güterschlächtern, den Gewerbestand dem Zwischen¬ handel und der Großindustrie auszuliefern, daß diese selbe Partei jetzt plötzlich entdeckt hat, jeder Stand habe die Berechtigung der Existenz und einer an¬ gemessenen Vertretung, die Kopfzahl allein dürfe nirgends den Ausschlag geben, am wenigsten in Österreich. Ja ein Hauptredner dieser Partei vergaß sich so weit, zu erklären, daß man sich auch in der Politik von der Erfahrung belehren lassen müsse, und daß nur ein beschränkter Mensch sein Leben lang bei den un¬ reifen Ansichten der Jugend beharre. Die Not der Partei hat dort den Schleier der Suggestion zerrissen — Herr Virchow wird sein Antlitz verhüllen. Werden die Politiker an der Donau die Folgerungen ihrer jetzt aus- gesprochnen Sätze anerkennen, nämlich: daß sich jede Interessengruppe durch Männer aus ihrer Mitte, Sach- und Fachverständige, Kenner der örtlichen Verhältnisse vertreten lassen muß, womit den gewerbsmäßigen Parlamentariern, den Alleswissern in großen Städten das Handwerk gelegt werden würde? daß man nötigenfalls anch den Judengemeinden ein eignes Wahlrecht ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/338>, abgerufen am 24.07.2024.