Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unser Zoitungselend

sagt" des künftigen Tages mitteilt -- es ist sür viele schwer, solchen Reiz¬
mittel" zu widerstehen. Man brauchte diese Wandlung des Geschmacks, der
mit dem Augenblick, wo die politische Windstille der Welt von einem Welt¬
sturm abgelöst werden wird, umschlagen muß, nicht allzu tragisch zu nehmen,
wäre nicht mit ihr eine schlimme Gefahr verbunden, die Gefahr der Ver-
simpelung und des Rückfalls aus dem Bürgertum, das seinen Anteil an dem
Staate fordert und tapfer festhält, in das Philistertum, das an der Bierbank
"ein politisch Lied ein garstig Lied" schilt." So die Nationalzeitung.

Ein Sprößling des heiligen Köln schloß einmal seinen Schulaufsatz über
den Frühling mit den denkwürdigen Worten: "Im Frühling sieht mer Lied,
Lus un Bäumcher." Darunter schrieb sein Schulmeister das treffliche Urteil:
"Rech gut, nur nich ganz korrek." Diese kurze Zensur möchten wir auch uuter
all die weichherzigen Klagelieder setzen, die gegenwärtig beim Publikum wie bei
der Presse so beliebt sind. Was nützt es denn, in allen Tonarten über alle
möglichen Übel dieser Welt zu klagen, wenn man es bei der bloßen Klage
bewenden laßt! Wer von einem Mißstand in unserm öffentlichen Leben über¬
zeugt ist, der soll sich nicht allzulange dabei aufhalten, die gute alte Zeit zu
beweinen. Wer herzhaft zugreift und sich bemüht, des Übels Grund auf¬
zudecken, erweist uns einen bessern Dienst, denn Erkenntnis ist der erste Schritt
zur Besserung. Freilich, dabei muß man Dinge zur Sprache bringen, die zwar
jedermann im Zeitungsstande kennt, die aber mancher Mann aus dieser Zunft
gern mit dem Mantel christlicher Liebe deckt. Denn nicht die Leser allein und
nicht die Zeitungen allein tragen die Schuld an dem Verfall der deutschen
Presse, sondern Publikum, Redakteure und Verleger dürften ihn etwa zu gleichen
Teilen auf dem Gewissen haben. Darum soll auch nicht etwa der National-
zeitnng irgend welcher Vorwurf gemacht werden; im Gegenteil, da die meisten
Zeitungen ihren Klagegesang wiederholt haben, so darf man sein Urteil Wohl
ganz allgemein aussprechen.

Soviel steht fest: die sogenannten parteilosen Blätter haben in jüngster
Zeit überall großen Erfolg gehabt. Wie ist das aber gekommen? Warum
bestellen die Bürgersleute ihr altgewohntes Tageblatt, das die Fahne der
Partei "unentwegt" hochhielt und sie nebenbei mit den nötigsten Neuigkeiten
versorgte, ab und schafften einen "Generalanzeiger" an? Die "Generalanzeiger"
pflegen bei ihrer Gründung mit allen Mitteln einer geriebnen Geschäftskuust
anzulocken, das ist wahr; aber man folgt einer neuen Verlockung doch nur,
wenn einen bei der alten Liebe nichts mehr fesselt. Und hier liegt der Grund
sür den Erfolg der farb- und charakterlosen Zeitungen: unsre politische Presse
ist im Stoff zu vielseitig und im geistigen Inhalt zu einseitig geworden. Unter
den großen Blättern ist eine wüste Hetzjagd nach Neuigkeiten ausgebrochen,
und täglich gießen sie einen Riesenkorb voll fuukelncigelneuer Nachrichten ohne
allen Zusammenhang, im buntesten Durcheinander über den arme" Zeitungs-


Unser Zoitungselend

sagt« des künftigen Tages mitteilt — es ist sür viele schwer, solchen Reiz¬
mittel» zu widerstehen. Man brauchte diese Wandlung des Geschmacks, der
mit dem Augenblick, wo die politische Windstille der Welt von einem Welt¬
sturm abgelöst werden wird, umschlagen muß, nicht allzu tragisch zu nehmen,
wäre nicht mit ihr eine schlimme Gefahr verbunden, die Gefahr der Ver-
simpelung und des Rückfalls aus dem Bürgertum, das seinen Anteil an dem
Staate fordert und tapfer festhält, in das Philistertum, das an der Bierbank
»ein politisch Lied ein garstig Lied« schilt." So die Nationalzeitung.

Ein Sprößling des heiligen Köln schloß einmal seinen Schulaufsatz über
den Frühling mit den denkwürdigen Worten: „Im Frühling sieht mer Lied,
Lus un Bäumcher." Darunter schrieb sein Schulmeister das treffliche Urteil:
„Rech gut, nur nich ganz korrek." Diese kurze Zensur möchten wir auch uuter
all die weichherzigen Klagelieder setzen, die gegenwärtig beim Publikum wie bei
der Presse so beliebt sind. Was nützt es denn, in allen Tonarten über alle
möglichen Übel dieser Welt zu klagen, wenn man es bei der bloßen Klage
bewenden laßt! Wer von einem Mißstand in unserm öffentlichen Leben über¬
zeugt ist, der soll sich nicht allzulange dabei aufhalten, die gute alte Zeit zu
beweinen. Wer herzhaft zugreift und sich bemüht, des Übels Grund auf¬
zudecken, erweist uns einen bessern Dienst, denn Erkenntnis ist der erste Schritt
zur Besserung. Freilich, dabei muß man Dinge zur Sprache bringen, die zwar
jedermann im Zeitungsstande kennt, die aber mancher Mann aus dieser Zunft
gern mit dem Mantel christlicher Liebe deckt. Denn nicht die Leser allein und
nicht die Zeitungen allein tragen die Schuld an dem Verfall der deutschen
Presse, sondern Publikum, Redakteure und Verleger dürften ihn etwa zu gleichen
Teilen auf dem Gewissen haben. Darum soll auch nicht etwa der National-
zeitnng irgend welcher Vorwurf gemacht werden; im Gegenteil, da die meisten
Zeitungen ihren Klagegesang wiederholt haben, so darf man sein Urteil Wohl
ganz allgemein aussprechen.

Soviel steht fest: die sogenannten parteilosen Blätter haben in jüngster
Zeit überall großen Erfolg gehabt. Wie ist das aber gekommen? Warum
bestellen die Bürgersleute ihr altgewohntes Tageblatt, das die Fahne der
Partei „unentwegt" hochhielt und sie nebenbei mit den nötigsten Neuigkeiten
versorgte, ab und schafften einen „Generalanzeiger" an? Die „Generalanzeiger"
pflegen bei ihrer Gründung mit allen Mitteln einer geriebnen Geschäftskuust
anzulocken, das ist wahr; aber man folgt einer neuen Verlockung doch nur,
wenn einen bei der alten Liebe nichts mehr fesselt. Und hier liegt der Grund
sür den Erfolg der farb- und charakterlosen Zeitungen: unsre politische Presse
ist im Stoff zu vielseitig und im geistigen Inhalt zu einseitig geworden. Unter
den großen Blättern ist eine wüste Hetzjagd nach Neuigkeiten ausgebrochen,
und täglich gießen sie einen Riesenkorb voll fuukelncigelneuer Nachrichten ohne
allen Zusammenhang, im buntesten Durcheinander über den arme» Zeitungs-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0308" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/216032"/>
          <fw type="header" place="top"> Unser Zoitungselend</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_913" prev="#ID_912"> sagt« des künftigen Tages mitteilt &#x2014; es ist sür viele schwer, solchen Reiz¬<lb/>
mittel» zu widerstehen. Man brauchte diese Wandlung des Geschmacks, der<lb/>
mit dem Augenblick, wo die politische Windstille der Welt von einem Welt¬<lb/>
sturm abgelöst werden wird, umschlagen muß, nicht allzu tragisch zu nehmen,<lb/>
wäre nicht mit ihr eine schlimme Gefahr verbunden, die Gefahr der Ver-<lb/>
simpelung und des Rückfalls aus dem Bürgertum, das seinen Anteil an dem<lb/>
Staate fordert und tapfer festhält, in das Philistertum, das an der Bierbank<lb/>
»ein politisch Lied ein garstig Lied« schilt."  So die Nationalzeitung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_914"> Ein Sprößling des heiligen Köln schloß einmal seinen Schulaufsatz über<lb/>
den Frühling mit den denkwürdigen Worten: &#x201E;Im Frühling sieht mer Lied,<lb/>
Lus un Bäumcher." Darunter schrieb sein Schulmeister das treffliche Urteil:<lb/>
&#x201E;Rech gut, nur nich ganz korrek." Diese kurze Zensur möchten wir auch uuter<lb/>
all die weichherzigen Klagelieder setzen, die gegenwärtig beim Publikum wie bei<lb/>
der Presse so beliebt sind. Was nützt es denn, in allen Tonarten über alle<lb/>
möglichen Übel dieser Welt zu klagen, wenn man es bei der bloßen Klage<lb/>
bewenden laßt! Wer von einem Mißstand in unserm öffentlichen Leben über¬<lb/>
zeugt ist, der soll sich nicht allzulange dabei aufhalten, die gute alte Zeit zu<lb/>
beweinen. Wer herzhaft zugreift und sich bemüht, des Übels Grund auf¬<lb/>
zudecken, erweist uns einen bessern Dienst, denn Erkenntnis ist der erste Schritt<lb/>
zur Besserung. Freilich, dabei muß man Dinge zur Sprache bringen, die zwar<lb/>
jedermann im Zeitungsstande kennt, die aber mancher Mann aus dieser Zunft<lb/>
gern mit dem Mantel christlicher Liebe deckt. Denn nicht die Leser allein und<lb/>
nicht die Zeitungen allein tragen die Schuld an dem Verfall der deutschen<lb/>
Presse, sondern Publikum, Redakteure und Verleger dürften ihn etwa zu gleichen<lb/>
Teilen auf dem Gewissen haben. Darum soll auch nicht etwa der National-<lb/>
zeitnng irgend welcher Vorwurf gemacht werden; im Gegenteil, da die meisten<lb/>
Zeitungen ihren Klagegesang wiederholt haben, so darf man sein Urteil Wohl<lb/>
ganz allgemein aussprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_915" next="#ID_916"> Soviel steht fest: die sogenannten parteilosen Blätter haben in jüngster<lb/>
Zeit überall großen Erfolg gehabt. Wie ist das aber gekommen? Warum<lb/>
bestellen die Bürgersleute ihr altgewohntes Tageblatt, das die Fahne der<lb/>
Partei &#x201E;unentwegt" hochhielt und sie nebenbei mit den nötigsten Neuigkeiten<lb/>
versorgte, ab und schafften einen &#x201E;Generalanzeiger" an? Die &#x201E;Generalanzeiger"<lb/>
pflegen bei ihrer Gründung mit allen Mitteln einer geriebnen Geschäftskuust<lb/>
anzulocken, das ist wahr; aber man folgt einer neuen Verlockung doch nur,<lb/>
wenn einen bei der alten Liebe nichts mehr fesselt. Und hier liegt der Grund<lb/>
sür den Erfolg der farb- und charakterlosen Zeitungen: unsre politische Presse<lb/>
ist im Stoff zu vielseitig und im geistigen Inhalt zu einseitig geworden. Unter<lb/>
den großen Blättern ist eine wüste Hetzjagd nach Neuigkeiten ausgebrochen,<lb/>
und täglich gießen sie einen Riesenkorb voll fuukelncigelneuer Nachrichten ohne<lb/>
allen Zusammenhang, im buntesten Durcheinander über den arme» Zeitungs-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0308] Unser Zoitungselend sagt« des künftigen Tages mitteilt — es ist sür viele schwer, solchen Reiz¬ mittel» zu widerstehen. Man brauchte diese Wandlung des Geschmacks, der mit dem Augenblick, wo die politische Windstille der Welt von einem Welt¬ sturm abgelöst werden wird, umschlagen muß, nicht allzu tragisch zu nehmen, wäre nicht mit ihr eine schlimme Gefahr verbunden, die Gefahr der Ver- simpelung und des Rückfalls aus dem Bürgertum, das seinen Anteil an dem Staate fordert und tapfer festhält, in das Philistertum, das an der Bierbank »ein politisch Lied ein garstig Lied« schilt." So die Nationalzeitung. Ein Sprößling des heiligen Köln schloß einmal seinen Schulaufsatz über den Frühling mit den denkwürdigen Worten: „Im Frühling sieht mer Lied, Lus un Bäumcher." Darunter schrieb sein Schulmeister das treffliche Urteil: „Rech gut, nur nich ganz korrek." Diese kurze Zensur möchten wir auch uuter all die weichherzigen Klagelieder setzen, die gegenwärtig beim Publikum wie bei der Presse so beliebt sind. Was nützt es denn, in allen Tonarten über alle möglichen Übel dieser Welt zu klagen, wenn man es bei der bloßen Klage bewenden laßt! Wer von einem Mißstand in unserm öffentlichen Leben über¬ zeugt ist, der soll sich nicht allzulange dabei aufhalten, die gute alte Zeit zu beweinen. Wer herzhaft zugreift und sich bemüht, des Übels Grund auf¬ zudecken, erweist uns einen bessern Dienst, denn Erkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Freilich, dabei muß man Dinge zur Sprache bringen, die zwar jedermann im Zeitungsstande kennt, die aber mancher Mann aus dieser Zunft gern mit dem Mantel christlicher Liebe deckt. Denn nicht die Leser allein und nicht die Zeitungen allein tragen die Schuld an dem Verfall der deutschen Presse, sondern Publikum, Redakteure und Verleger dürften ihn etwa zu gleichen Teilen auf dem Gewissen haben. Darum soll auch nicht etwa der National- zeitnng irgend welcher Vorwurf gemacht werden; im Gegenteil, da die meisten Zeitungen ihren Klagegesang wiederholt haben, so darf man sein Urteil Wohl ganz allgemein aussprechen. Soviel steht fest: die sogenannten parteilosen Blätter haben in jüngster Zeit überall großen Erfolg gehabt. Wie ist das aber gekommen? Warum bestellen die Bürgersleute ihr altgewohntes Tageblatt, das die Fahne der Partei „unentwegt" hochhielt und sie nebenbei mit den nötigsten Neuigkeiten versorgte, ab und schafften einen „Generalanzeiger" an? Die „Generalanzeiger" pflegen bei ihrer Gründung mit allen Mitteln einer geriebnen Geschäftskuust anzulocken, das ist wahr; aber man folgt einer neuen Verlockung doch nur, wenn einen bei der alten Liebe nichts mehr fesselt. Und hier liegt der Grund sür den Erfolg der farb- und charakterlosen Zeitungen: unsre politische Presse ist im Stoff zu vielseitig und im geistigen Inhalt zu einseitig geworden. Unter den großen Blättern ist eine wüste Hetzjagd nach Neuigkeiten ausgebrochen, und täglich gießen sie einen Riesenkorb voll fuukelncigelneuer Nachrichten ohne allen Zusammenhang, im buntesten Durcheinander über den arme» Zeitungs-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/308
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/308>, abgerufen am 22.07.2024.