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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Die Krisis in Amerika

ländische Wettbewerb ferngehalten, im Lande selbst aber unterbot einer den
andern, versuchte einer den andern aus dem Felde zu schlage". Die Fabri¬
kation ging ins Fabelhafte. Wer früher Dutzende einer gewissen Ware her¬
gestellt hatte, fand es jetzt unvorteilhaft, weniger als Hunderte desselben Ar¬
tikels anzufertigen, mir um den Preis des einzelnen Stückes so niedrig zu
machen, wie nur irgend möglich.

Die Folgen konnten nicht ausbleiben. Es kam die Zeit der allgemeinen
"Liquidation." Das Angebot war schon lange viel höher als die Nachfrage.
Überproduktion auf alleu Gebieten! Dazu kam die Schwierigkeit, flüssige Kapi¬
talien zur Fortsetzung des Betriebs ans der alten Welt zu erhalten. Hun¬
derte, Tausende von Fabriken mußten geschlossen werden. Hunderttausende von
Arbeitern verloren ihre Beschäftigung und waren bald brot- und mittellos.
Handel und Wandel lagen darnieder.

Um dem Leser einen ungefähren Begriff von dem Umfange des Krachs
zu geben, seien hier einige Zahlen angeführt, die sich auf die größte ameri¬
kanische Industriestadt beziehen, ans Chicago, wobei jedoch bemerkt werden
muß, daß in vielen andern Städten die Verhältnisse noch weit ungünstiger
lagen, da Chicago durch die Weltausstellung enorme Summen Bargeld aus
dem ganzen Lande (sechs Monate lang durchschnittlich 1 Million Dollars täg¬
lich) an sich zog.

Es war Ende September dieses Jahres, als die Polizei von Chicago von
Haus zu Haus ging und Ermittelungen über die Zahl der arbeitslosen Männer
anstellte, während gleichzeitig ein Ausschuß vou Vertrauensmännern der Bürger¬
schaft 10 709 Gewerbetreibende, Industrielle und Kaufleute der Stadt aufsuchte,
um sich Angaben über die Zahl der seit dem 1. Juli entlassenen Angestellten
machen zu lassen. Beide Berichte ergaben übereinstimmend, daß bei einer Ein¬
wohnerzahl von 1500000 nicht weniger als 100000 Männer in Chicago be¬
schäftigungslos waren, und daß das Personal in den verschiednen Fabriken
und Handelsgeschäften um 41'/z Prozent vermindert worden war.

Am schlimmsten sah es in der Eisen- und Stahlindustrie aus; sie hatte
am 1. Juli in Chicago 19 558 Arbeiter beschäftigt, am 15. September aber
nur noch 5248. In den Maschinenwerkstätteu hatten im Juni 7636 Arbeiter
ihr Brot verdient, im September war die Zahl ans 2135 zusammengeschmolzen;
in den Gießereien waren von 7459 Leuten 3627 entlassen worden. Ebenso
hatten die Bauhandwerke gelitten. Ähnliche, wenn nicht noch schlimmere Ver¬
hältnisse herrschten im ganzen Lande.

Trotzdem darf man die Lage nicht für trostlos ansehen. Die Vereinigten
Staaten sind zu jugendkräftig, als daß sie sich nicht schnell von einem solchen
Schlage erholen sollten. Das Kleid, das sich die meisten Städte angelegt
haben, ist für den Augenblick zu groß; aber das Kind wird hineinwachsen, und
in fünf bis zehn Jahren wird es abermals eines neuen bedürfen. Handel


Die Krisis in Amerika

ländische Wettbewerb ferngehalten, im Lande selbst aber unterbot einer den
andern, versuchte einer den andern aus dem Felde zu schlage«. Die Fabri¬
kation ging ins Fabelhafte. Wer früher Dutzende einer gewissen Ware her¬
gestellt hatte, fand es jetzt unvorteilhaft, weniger als Hunderte desselben Ar¬
tikels anzufertigen, mir um den Preis des einzelnen Stückes so niedrig zu
machen, wie nur irgend möglich.

Die Folgen konnten nicht ausbleiben. Es kam die Zeit der allgemeinen
„Liquidation." Das Angebot war schon lange viel höher als die Nachfrage.
Überproduktion auf alleu Gebieten! Dazu kam die Schwierigkeit, flüssige Kapi¬
talien zur Fortsetzung des Betriebs ans der alten Welt zu erhalten. Hun¬
derte, Tausende von Fabriken mußten geschlossen werden. Hunderttausende von
Arbeitern verloren ihre Beschäftigung und waren bald brot- und mittellos.
Handel und Wandel lagen darnieder.

Um dem Leser einen ungefähren Begriff von dem Umfange des Krachs
zu geben, seien hier einige Zahlen angeführt, die sich auf die größte ameri¬
kanische Industriestadt beziehen, ans Chicago, wobei jedoch bemerkt werden
muß, daß in vielen andern Städten die Verhältnisse noch weit ungünstiger
lagen, da Chicago durch die Weltausstellung enorme Summen Bargeld aus
dem ganzen Lande (sechs Monate lang durchschnittlich 1 Million Dollars täg¬
lich) an sich zog.

Es war Ende September dieses Jahres, als die Polizei von Chicago von
Haus zu Haus ging und Ermittelungen über die Zahl der arbeitslosen Männer
anstellte, während gleichzeitig ein Ausschuß vou Vertrauensmännern der Bürger¬
schaft 10 709 Gewerbetreibende, Industrielle und Kaufleute der Stadt aufsuchte,
um sich Angaben über die Zahl der seit dem 1. Juli entlassenen Angestellten
machen zu lassen. Beide Berichte ergaben übereinstimmend, daß bei einer Ein¬
wohnerzahl von 1500000 nicht weniger als 100000 Männer in Chicago be¬
schäftigungslos waren, und daß das Personal in den verschiednen Fabriken
und Handelsgeschäften um 41'/z Prozent vermindert worden war.

Am schlimmsten sah es in der Eisen- und Stahlindustrie aus; sie hatte
am 1. Juli in Chicago 19 558 Arbeiter beschäftigt, am 15. September aber
nur noch 5248. In den Maschinenwerkstätteu hatten im Juni 7636 Arbeiter
ihr Brot verdient, im September war die Zahl ans 2135 zusammengeschmolzen;
in den Gießereien waren von 7459 Leuten 3627 entlassen worden. Ebenso
hatten die Bauhandwerke gelitten. Ähnliche, wenn nicht noch schlimmere Ver¬
hältnisse herrschten im ganzen Lande.

Trotzdem darf man die Lage nicht für trostlos ansehen. Die Vereinigten
Staaten sind zu jugendkräftig, als daß sie sich nicht schnell von einem solchen
Schlage erholen sollten. Das Kleid, das sich die meisten Städte angelegt
haben, ist für den Augenblick zu groß; aber das Kind wird hineinwachsen, und
in fünf bis zehn Jahren wird es abermals eines neuen bedürfen. Handel


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[0306] Die Krisis in Amerika ländische Wettbewerb ferngehalten, im Lande selbst aber unterbot einer den andern, versuchte einer den andern aus dem Felde zu schlage«. Die Fabri¬ kation ging ins Fabelhafte. Wer früher Dutzende einer gewissen Ware her¬ gestellt hatte, fand es jetzt unvorteilhaft, weniger als Hunderte desselben Ar¬ tikels anzufertigen, mir um den Preis des einzelnen Stückes so niedrig zu machen, wie nur irgend möglich. Die Folgen konnten nicht ausbleiben. Es kam die Zeit der allgemeinen „Liquidation." Das Angebot war schon lange viel höher als die Nachfrage. Überproduktion auf alleu Gebieten! Dazu kam die Schwierigkeit, flüssige Kapi¬ talien zur Fortsetzung des Betriebs ans der alten Welt zu erhalten. Hun¬ derte, Tausende von Fabriken mußten geschlossen werden. Hunderttausende von Arbeitern verloren ihre Beschäftigung und waren bald brot- und mittellos. Handel und Wandel lagen darnieder. Um dem Leser einen ungefähren Begriff von dem Umfange des Krachs zu geben, seien hier einige Zahlen angeführt, die sich auf die größte ameri¬ kanische Industriestadt beziehen, ans Chicago, wobei jedoch bemerkt werden muß, daß in vielen andern Städten die Verhältnisse noch weit ungünstiger lagen, da Chicago durch die Weltausstellung enorme Summen Bargeld aus dem ganzen Lande (sechs Monate lang durchschnittlich 1 Million Dollars täg¬ lich) an sich zog. Es war Ende September dieses Jahres, als die Polizei von Chicago von Haus zu Haus ging und Ermittelungen über die Zahl der arbeitslosen Männer anstellte, während gleichzeitig ein Ausschuß vou Vertrauensmännern der Bürger¬ schaft 10 709 Gewerbetreibende, Industrielle und Kaufleute der Stadt aufsuchte, um sich Angaben über die Zahl der seit dem 1. Juli entlassenen Angestellten machen zu lassen. Beide Berichte ergaben übereinstimmend, daß bei einer Ein¬ wohnerzahl von 1500000 nicht weniger als 100000 Männer in Chicago be¬ schäftigungslos waren, und daß das Personal in den verschiednen Fabriken und Handelsgeschäften um 41'/z Prozent vermindert worden war. Am schlimmsten sah es in der Eisen- und Stahlindustrie aus; sie hatte am 1. Juli in Chicago 19 558 Arbeiter beschäftigt, am 15. September aber nur noch 5248. In den Maschinenwerkstätteu hatten im Juni 7636 Arbeiter ihr Brot verdient, im September war die Zahl ans 2135 zusammengeschmolzen; in den Gießereien waren von 7459 Leuten 3627 entlassen worden. Ebenso hatten die Bauhandwerke gelitten. Ähnliche, wenn nicht noch schlimmere Ver¬ hältnisse herrschten im ganzen Lande. Trotzdem darf man die Lage nicht für trostlos ansehen. Die Vereinigten Staaten sind zu jugendkräftig, als daß sie sich nicht schnell von einem solchen Schlage erholen sollten. Das Kleid, das sich die meisten Städte angelegt haben, ist für den Augenblick zu groß; aber das Kind wird hineinwachsen, und in fünf bis zehn Jahren wird es abermals eines neuen bedürfen. Handel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/306>, abgerufen am 22.07.2024.