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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Deutschland und Frankreich

nicht Frankreich den ^Vorteil allein lassen darf, gegen diesen Alp anzukämpfen.
In der That, wenn Frankreich eines Tages die Forderung erhebt, England
solle nicht länger über die Schlüssel zum Mittelmeer und zum Indischen Ozean
allein verfügen, wird nicht Deutschland, die Vormacht Mitteleuropas, die For¬
derung unterstützen müssen, die einem Bedürfnis Europas entspricht? Und es
giebt in allen Teilen der Erde Forderungen, die die Beseitigung britischer
Vorrechte und Anmaßungen anstreben; denn die englische Macht ist so groß
geworden, daß sie alle einengt und überall stört, und so wird jede Erleichterung
dankbar empfunden.

Auf dieser Saite hat der erste Napoleon mit großem Geschick, wenn
auch nicht mit endgiltigen Erfolg gespielt. Er begriff, daß die Vormacht
Europas die Festlandsiuteresfen gegen den brutalen Egoismus der Insulaner
zu vertreten habe. Die Jahre nach den Befreiungskriegen haben gezeigt, daß
er England besser verstanden hatte als alle andern; aber seine eigne Herrsch¬
sucht machte ihm die reine Durchführung dieses Gedankens unmöglich. Die
entvölkerten Länder des kriegsmüden Europas empfanden damals noch nicht,
was sich ihnen jetzt von Jahr zu Jahr schwerer aufdrängt: daß durch die
Wegnahme aller noch verfügbaren Länder der Erde, die für europäische Ein¬
wanderer zugänglich sind, England den Pfahl in das Fleisch Europas stieß.
Der einzige, dem es nichts zu nehmen vermochte, dem es auch nicht hinter¬
listig beikommen konnte, Nußland, sieht eine gesunde Zukunft, wenn nicht für
seinen Staat, so doch für sein Volk, bei dem Überfluß freien Landes in Nord¬
asien vor sich. Jenes kleine Inselreich hat Kanada, Australien, Südafrika, d. h.
ein fast dreifaches Enropa. Das große Deutschland muß ängstlich warten,
ob die Angelsachsen in Nordamerika seine Auswanderung, die eine Notwendig¬
keit geworden ist, noch zulassen wollen, oder ob sie die Thüren schließen werden.

In dieser Beziehung ist Frankreich mit seiner so langsam wachsenden Bevöl¬
kerung und seiner kleinen Auswanderung -- die schwache Seite seiner Kolonial¬
politik! -- günstiger dran als Deutschland, das übrigens noch einen besondern
Grund hat, zu wünschen, daß der heutige Zustand aufhöre. Frankreich hat
von der Schonung, die Europa seinem Schmerz angedeihen ließ, reichlichen
Gewinn gezogen. Es hat sich ungestört, wie nie vorher, der innern Kräf¬
tigung hingegeben, die seine Stärke weit über den frühern Höhepunkt hinaus
gesteigert hat. Was einst die Nachbarn beunruhigt hätte, das sah jetzt jeder
mit der größten Befriedigung an. Man ging auf den Fußspitzen, um die Ruhe
des politischen Krankenzimmers nicht zu stören. Die wundervolle Episode von
1875, wo sich England und Rußland um die Wette bemühten, Frankreich die
Furcht vor einem unerwarteten Angriffe Deutschlands auszureden, und zur Er¬
munterung des aufgeregten Patienten weidlich über Deutschland loszogen, an
dessen Pläne sie nicht glaubten, wird immer bezeichnend für diese Stimmung
bleiben. Die Kolonialplüne, ein altes Lieblingsspielzeug Frankreichs, wurden


Deutschland und Frankreich

nicht Frankreich den ^Vorteil allein lassen darf, gegen diesen Alp anzukämpfen.
In der That, wenn Frankreich eines Tages die Forderung erhebt, England
solle nicht länger über die Schlüssel zum Mittelmeer und zum Indischen Ozean
allein verfügen, wird nicht Deutschland, die Vormacht Mitteleuropas, die For¬
derung unterstützen müssen, die einem Bedürfnis Europas entspricht? Und es
giebt in allen Teilen der Erde Forderungen, die die Beseitigung britischer
Vorrechte und Anmaßungen anstreben; denn die englische Macht ist so groß
geworden, daß sie alle einengt und überall stört, und so wird jede Erleichterung
dankbar empfunden.

Auf dieser Saite hat der erste Napoleon mit großem Geschick, wenn
auch nicht mit endgiltigen Erfolg gespielt. Er begriff, daß die Vormacht
Europas die Festlandsiuteresfen gegen den brutalen Egoismus der Insulaner
zu vertreten habe. Die Jahre nach den Befreiungskriegen haben gezeigt, daß
er England besser verstanden hatte als alle andern; aber seine eigne Herrsch¬
sucht machte ihm die reine Durchführung dieses Gedankens unmöglich. Die
entvölkerten Länder des kriegsmüden Europas empfanden damals noch nicht,
was sich ihnen jetzt von Jahr zu Jahr schwerer aufdrängt: daß durch die
Wegnahme aller noch verfügbaren Länder der Erde, die für europäische Ein¬
wanderer zugänglich sind, England den Pfahl in das Fleisch Europas stieß.
Der einzige, dem es nichts zu nehmen vermochte, dem es auch nicht hinter¬
listig beikommen konnte, Nußland, sieht eine gesunde Zukunft, wenn nicht für
seinen Staat, so doch für sein Volk, bei dem Überfluß freien Landes in Nord¬
asien vor sich. Jenes kleine Inselreich hat Kanada, Australien, Südafrika, d. h.
ein fast dreifaches Enropa. Das große Deutschland muß ängstlich warten,
ob die Angelsachsen in Nordamerika seine Auswanderung, die eine Notwendig¬
keit geworden ist, noch zulassen wollen, oder ob sie die Thüren schließen werden.

In dieser Beziehung ist Frankreich mit seiner so langsam wachsenden Bevöl¬
kerung und seiner kleinen Auswanderung — die schwache Seite seiner Kolonial¬
politik! — günstiger dran als Deutschland, das übrigens noch einen besondern
Grund hat, zu wünschen, daß der heutige Zustand aufhöre. Frankreich hat
von der Schonung, die Europa seinem Schmerz angedeihen ließ, reichlichen
Gewinn gezogen. Es hat sich ungestört, wie nie vorher, der innern Kräf¬
tigung hingegeben, die seine Stärke weit über den frühern Höhepunkt hinaus
gesteigert hat. Was einst die Nachbarn beunruhigt hätte, das sah jetzt jeder
mit der größten Befriedigung an. Man ging auf den Fußspitzen, um die Ruhe
des politischen Krankenzimmers nicht zu stören. Die wundervolle Episode von
1875, wo sich England und Rußland um die Wette bemühten, Frankreich die
Furcht vor einem unerwarteten Angriffe Deutschlands auszureden, und zur Er¬
munterung des aufgeregten Patienten weidlich über Deutschland loszogen, an
dessen Pläne sie nicht glaubten, wird immer bezeichnend für diese Stimmung
bleiben. Die Kolonialplüne, ein altes Lieblingsspielzeug Frankreichs, wurden


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[0300] Deutschland und Frankreich nicht Frankreich den ^Vorteil allein lassen darf, gegen diesen Alp anzukämpfen. In der That, wenn Frankreich eines Tages die Forderung erhebt, England solle nicht länger über die Schlüssel zum Mittelmeer und zum Indischen Ozean allein verfügen, wird nicht Deutschland, die Vormacht Mitteleuropas, die For¬ derung unterstützen müssen, die einem Bedürfnis Europas entspricht? Und es giebt in allen Teilen der Erde Forderungen, die die Beseitigung britischer Vorrechte und Anmaßungen anstreben; denn die englische Macht ist so groß geworden, daß sie alle einengt und überall stört, und so wird jede Erleichterung dankbar empfunden. Auf dieser Saite hat der erste Napoleon mit großem Geschick, wenn auch nicht mit endgiltigen Erfolg gespielt. Er begriff, daß die Vormacht Europas die Festlandsiuteresfen gegen den brutalen Egoismus der Insulaner zu vertreten habe. Die Jahre nach den Befreiungskriegen haben gezeigt, daß er England besser verstanden hatte als alle andern; aber seine eigne Herrsch¬ sucht machte ihm die reine Durchführung dieses Gedankens unmöglich. Die entvölkerten Länder des kriegsmüden Europas empfanden damals noch nicht, was sich ihnen jetzt von Jahr zu Jahr schwerer aufdrängt: daß durch die Wegnahme aller noch verfügbaren Länder der Erde, die für europäische Ein¬ wanderer zugänglich sind, England den Pfahl in das Fleisch Europas stieß. Der einzige, dem es nichts zu nehmen vermochte, dem es auch nicht hinter¬ listig beikommen konnte, Nußland, sieht eine gesunde Zukunft, wenn nicht für seinen Staat, so doch für sein Volk, bei dem Überfluß freien Landes in Nord¬ asien vor sich. Jenes kleine Inselreich hat Kanada, Australien, Südafrika, d. h. ein fast dreifaches Enropa. Das große Deutschland muß ängstlich warten, ob die Angelsachsen in Nordamerika seine Auswanderung, die eine Notwendig¬ keit geworden ist, noch zulassen wollen, oder ob sie die Thüren schließen werden. In dieser Beziehung ist Frankreich mit seiner so langsam wachsenden Bevöl¬ kerung und seiner kleinen Auswanderung — die schwache Seite seiner Kolonial¬ politik! — günstiger dran als Deutschland, das übrigens noch einen besondern Grund hat, zu wünschen, daß der heutige Zustand aufhöre. Frankreich hat von der Schonung, die Europa seinem Schmerz angedeihen ließ, reichlichen Gewinn gezogen. Es hat sich ungestört, wie nie vorher, der innern Kräf¬ tigung hingegeben, die seine Stärke weit über den frühern Höhepunkt hinaus gesteigert hat. Was einst die Nachbarn beunruhigt hätte, das sah jetzt jeder mit der größten Befriedigung an. Man ging auf den Fußspitzen, um die Ruhe des politischen Krankenzimmers nicht zu stören. Die wundervolle Episode von 1875, wo sich England und Rußland um die Wette bemühten, Frankreich die Furcht vor einem unerwarteten Angriffe Deutschlands auszureden, und zur Er¬ munterung des aufgeregten Patienten weidlich über Deutschland loszogen, an dessen Pläne sie nicht glaubten, wird immer bezeichnend für diese Stimmung bleiben. Die Kolonialplüne, ein altes Lieblingsspielzeug Frankreichs, wurden

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/300>, abgerufen am 22.07.2024.