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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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war hier alles im Handumdrehen besorgt, was anderswo erst nach wochen¬
langem Hin- und Herschreiben Erledigung gefunden hätte. Es liegt freilich
in der Natur der Sache, daß in Militärstaaten, denen es mehr um Registri-
rung der Kopfzahl und der frischen Rekruten zu thun ist, als um deren ge¬
sundes Weiterleben und dereinstigen Verbleib, auch mehr auf Geburtsscheine
und Taufscheine, als auf richtige und zuverlässige Totenscheine gegeben wird.

Mit einem überraschend geringen Veamtenpcrsonal, wie ich mich dann
durch genaue Erkundigungen überzeugte, wurde hier streng darauf geachtet,
daß kein Scharlach-, Diphtheritis- oder Masernfall der Nachbarschaft, der
Schule und der Behörde verheimlicht werden konnte. Die roten, gelben,
blauen Papiere, die hier, weithin sichtbar, sofort nach dem Auftreten jeder
Aiisteckungskrankheit ans Haus geklebt werden, unterrichten Publikum und
Behörden aufs einfachste, ohne überflüssige Schreibereien. Die erste Forderung
ist Hilfe; aktenmüßige Buchung u. tgi. kommt erst in zweiter Linie. Zur
Desinfektion wird sofort der Polizeiarzt mit den nötigen Mitteln entsandt,
und auch zur Behandlung, wo Armut hindert, einen ordentlichen Arzt zu¬
zuziehen.

Sehr umfangreich sind die Formnlare der Totenscheine, die von dem Arzt
ausgefüllt werden müssen, der die letzte Behandlung geleitet hat. Alle Fragen
nach Todesursache, Leichenbefund n. f. w. zu beantworten, kostet wohl eine
halbe Stunde Zeit, zwingt den Arzt zum Nachdenken und Nachschlagen über
seine Fülle, ermöglicht eine genaue Statistik über Verbleib und Ableben der
Raffen und Nationen, diese halbe Stunde Fragebogeuarbeit über jeden Todes¬
fall fördert Sicherheit von Leben und Gesundheit gegenüber verbrecherischen
und gesundheitswidrigen Eingriffen und nötigt den Arzt zur Mitarbeit an
der Welthhgiene, die sich im stillen so vorbereitet, Leben und Gesundheit
schützend nach allen Richtungen, während statistische Bureauarbeit zentrali-
sirend alles Arbeitsmaterial zusammenfegt, dessen spätere Verwertung immer
fraglich ist. Durch ansftthrliche Totenscheine, an die sich oft Gelegenheit
zur Selbstbeobachtung und zur Leichenöffnung mit dem Coroner schließt,
wird der Arzt zum Weiterstudiren angeregt, und eine geeignete Weiter¬
führung dieses so angefangnen Systems führt zuletzt in ihren Konsequenzen
zu den praktischen Anfängen einer Asfanirnng des Ganzen im welthygieuischen
Sinne.

Das ist einer der mancherlei Punkte, in denen wir Deutschen von der
großen, neuen Republik des Westens überholt sind. Allein Manchestertum,
aller Dollarjagd zum Trotz beginnt hier mit dem schuldigen Respekt vor Ge¬
sundheitsschutz durch Leichenkontrolle eine Forderung der gesamten Mensch¬
heit sich geltend zu machen. In einem Lande ohne Militarismus und ohne
traditionellen Zwang beginnt die wirtschaftliche Gerechtigkeit der allgemeinen
Interessengemeinschaft ihre ersten Forderungen zu erzwingen, unbewußt, nicht


Bilder aus dem Westen

war hier alles im Handumdrehen besorgt, was anderswo erst nach wochen¬
langem Hin- und Herschreiben Erledigung gefunden hätte. Es liegt freilich
in der Natur der Sache, daß in Militärstaaten, denen es mehr um Registri-
rung der Kopfzahl und der frischen Rekruten zu thun ist, als um deren ge¬
sundes Weiterleben und dereinstigen Verbleib, auch mehr auf Geburtsscheine
und Taufscheine, als auf richtige und zuverlässige Totenscheine gegeben wird.

Mit einem überraschend geringen Veamtenpcrsonal, wie ich mich dann
durch genaue Erkundigungen überzeugte, wurde hier streng darauf geachtet,
daß kein Scharlach-, Diphtheritis- oder Masernfall der Nachbarschaft, der
Schule und der Behörde verheimlicht werden konnte. Die roten, gelben,
blauen Papiere, die hier, weithin sichtbar, sofort nach dem Auftreten jeder
Aiisteckungskrankheit ans Haus geklebt werden, unterrichten Publikum und
Behörden aufs einfachste, ohne überflüssige Schreibereien. Die erste Forderung
ist Hilfe; aktenmüßige Buchung u. tgi. kommt erst in zweiter Linie. Zur
Desinfektion wird sofort der Polizeiarzt mit den nötigen Mitteln entsandt,
und auch zur Behandlung, wo Armut hindert, einen ordentlichen Arzt zu¬
zuziehen.

Sehr umfangreich sind die Formnlare der Totenscheine, die von dem Arzt
ausgefüllt werden müssen, der die letzte Behandlung geleitet hat. Alle Fragen
nach Todesursache, Leichenbefund n. f. w. zu beantworten, kostet wohl eine
halbe Stunde Zeit, zwingt den Arzt zum Nachdenken und Nachschlagen über
seine Fülle, ermöglicht eine genaue Statistik über Verbleib und Ableben der
Raffen und Nationen, diese halbe Stunde Fragebogeuarbeit über jeden Todes¬
fall fördert Sicherheit von Leben und Gesundheit gegenüber verbrecherischen
und gesundheitswidrigen Eingriffen und nötigt den Arzt zur Mitarbeit an
der Welthhgiene, die sich im stillen so vorbereitet, Leben und Gesundheit
schützend nach allen Richtungen, während statistische Bureauarbeit zentrali-
sirend alles Arbeitsmaterial zusammenfegt, dessen spätere Verwertung immer
fraglich ist. Durch ansftthrliche Totenscheine, an die sich oft Gelegenheit
zur Selbstbeobachtung und zur Leichenöffnung mit dem Coroner schließt,
wird der Arzt zum Weiterstudiren angeregt, und eine geeignete Weiter¬
führung dieses so angefangnen Systems führt zuletzt in ihren Konsequenzen
zu den praktischen Anfängen einer Asfanirnng des Ganzen im welthygieuischen
Sinne.

Das ist einer der mancherlei Punkte, in denen wir Deutschen von der
großen, neuen Republik des Westens überholt sind. Allein Manchestertum,
aller Dollarjagd zum Trotz beginnt hier mit dem schuldigen Respekt vor Ge¬
sundheitsschutz durch Leichenkontrolle eine Forderung der gesamten Mensch¬
heit sich geltend zu machen. In einem Lande ohne Militarismus und ohne
traditionellen Zwang beginnt die wirtschaftliche Gerechtigkeit der allgemeinen
Interessengemeinschaft ihre ersten Forderungen zu erzwingen, unbewußt, nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/283>, abgerufen am 01.07.2024.