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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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hardi im folgenden Jahre zeigt Moltke aristokratische Tendenzen und große
Sympathie für Schleswig-Holstein, "aber nicht wegen der deutsch-nationalen
Elemente, die sich da regen, sondern weil es aristokratische Elemente sind, die
sich dort gegen das demokratische Dänemark auflehnen." Weiterhin dentet er
auf das seltsame Mißverständnis hin, daß sich die konservativen Regierungen
1848 bis 1850 Dänemarks gegen die Herzogtümer annahmen, denn gerade
in den Herzogtümern seien die konservativen Prinzipien aufrecht erhalten
worden.

Außerordentlich interessant, manchmal dabei freilich von unfreiwilliger
Komik, sind Vernhardis Mitteilungen über seinen alten Oheim Ludwig Tieck.
Wenn er ihn besucht, findet er ihn fast stets Casanova lesend. Von Goethe
läßt er nnr Werther und Götz gelten, den zweiten Teil des Faust verachtet
er. "Wäre Goethe das geblieben, was er in seiner Jugend war, so wäre
etwas Großes aus ihm geworden!" Diese Ansicht erläutert er in einer andern
Unterredung dahin, daß Goethe in Frankfurt hätte bleiben müssen, Bürger
werden, die Freuden und Leiden seiner Zeit mit erleben: dann wäre etwas
ans ihm geworden, was eine Parallele zu Shakespeare bilden könnte. Bei
einer dritten Gelegenheit heißt es sogar: "An dem Streben, sich von der Be¬
deutung der Dinge Rechenschaft zu geben, ist Goethe zu Grunde gegangen."
Man wird dem Neffen Recht geben, wenn er findet, der Oheim habe das
Leben als einen wesenlosen Traum behandelt, zu keinem seiner Werke so ernst¬
hafte Borstudien gemacht, wie z. B. Goethe zum Goetz, und sich überhaupt in
seiner Jugend nicht nach wirklichen Kenntnissen umgethan. Sowie freilich
nicht von Poesie und Litteraturgeschichte, sondern von realen Dingen des
Lebens die Rede ist, zeigt sich Tieck als scharfen und unbefangnen Beobachter.
So erkennt er an, daß das Volk durch die allgemeine Dienstpflicht etwas
ganz andres geworden sei. "Ehemals -- sagt er, der ja viel auf dem
Lande gelebt hatte und das Leben der Landleute genau kannte -- war das
Vranntweinsaufen unter den Bauern und Handwerkern ganz allgemein; nun:
fand uuter den Bauern nicht selten Leute, die eigentlich vom Branntwein
lebten, die allen Geschmack für Speise und die Fähigkeit, zu verdauen, ver¬
loren hatten; die starben dann mehr oder weniger blödsinnig im Alter von
vierzig bis fünfzig Jahren. Dergleichen giebt es jetzt nicht mehr, zu der Ver¬
besserung trägt aber gewiß die Emanzipation des Bauernstandes nicht weniger
bei als das Militärsystem."

Die ergötzlichste Episode der Erinnerungen Bernhardts bildet wohl die
Schilderung des Treibens in Weimar im Winter 1851 auf 1852. Da er¬
scheint Semilasso mit reich gelockter Perrücke, schwarz gefärbtem Bart und
falschen Zähnen als greisenhafter Verführer und erntet am Hofe den Ruf,
der größte Lebensphilosoph zu sein. Die von Liszt inszenirte Begeisterung
für Wagner widert Bernhardt an, und mit eben so grausamem als berech-


hardi im folgenden Jahre zeigt Moltke aristokratische Tendenzen und große
Sympathie für Schleswig-Holstein, „aber nicht wegen der deutsch-nationalen
Elemente, die sich da regen, sondern weil es aristokratische Elemente sind, die
sich dort gegen das demokratische Dänemark auflehnen." Weiterhin dentet er
auf das seltsame Mißverständnis hin, daß sich die konservativen Regierungen
1848 bis 1850 Dänemarks gegen die Herzogtümer annahmen, denn gerade
in den Herzogtümern seien die konservativen Prinzipien aufrecht erhalten
worden.

Außerordentlich interessant, manchmal dabei freilich von unfreiwilliger
Komik, sind Vernhardis Mitteilungen über seinen alten Oheim Ludwig Tieck.
Wenn er ihn besucht, findet er ihn fast stets Casanova lesend. Von Goethe
läßt er nnr Werther und Götz gelten, den zweiten Teil des Faust verachtet
er. „Wäre Goethe das geblieben, was er in seiner Jugend war, so wäre
etwas Großes aus ihm geworden!" Diese Ansicht erläutert er in einer andern
Unterredung dahin, daß Goethe in Frankfurt hätte bleiben müssen, Bürger
werden, die Freuden und Leiden seiner Zeit mit erleben: dann wäre etwas
ans ihm geworden, was eine Parallele zu Shakespeare bilden könnte. Bei
einer dritten Gelegenheit heißt es sogar: „An dem Streben, sich von der Be¬
deutung der Dinge Rechenschaft zu geben, ist Goethe zu Grunde gegangen."
Man wird dem Neffen Recht geben, wenn er findet, der Oheim habe das
Leben als einen wesenlosen Traum behandelt, zu keinem seiner Werke so ernst¬
hafte Borstudien gemacht, wie z. B. Goethe zum Goetz, und sich überhaupt in
seiner Jugend nicht nach wirklichen Kenntnissen umgethan. Sowie freilich
nicht von Poesie und Litteraturgeschichte, sondern von realen Dingen des
Lebens die Rede ist, zeigt sich Tieck als scharfen und unbefangnen Beobachter.
So erkennt er an, daß das Volk durch die allgemeine Dienstpflicht etwas
ganz andres geworden sei. „Ehemals — sagt er, der ja viel auf dem
Lande gelebt hatte und das Leben der Landleute genau kannte — war das
Vranntweinsaufen unter den Bauern und Handwerkern ganz allgemein; nun:
fand uuter den Bauern nicht selten Leute, die eigentlich vom Branntwein
lebten, die allen Geschmack für Speise und die Fähigkeit, zu verdauen, ver¬
loren hatten; die starben dann mehr oder weniger blödsinnig im Alter von
vierzig bis fünfzig Jahren. Dergleichen giebt es jetzt nicht mehr, zu der Ver¬
besserung trägt aber gewiß die Emanzipation des Bauernstandes nicht weniger
bei als das Militärsystem."

Die ergötzlichste Episode der Erinnerungen Bernhardts bildet wohl die
Schilderung des Treibens in Weimar im Winter 1851 auf 1852. Da er¬
scheint Semilasso mit reich gelockter Perrücke, schwarz gefärbtem Bart und
falschen Zähnen als greisenhafter Verführer und erntet am Hofe den Ruf,
der größte Lebensphilosoph zu sein. Die von Liszt inszenirte Begeisterung
für Wagner widert Bernhardt an, und mit eben so grausamem als berech-


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[0272] hardi im folgenden Jahre zeigt Moltke aristokratische Tendenzen und große Sympathie für Schleswig-Holstein, „aber nicht wegen der deutsch-nationalen Elemente, die sich da regen, sondern weil es aristokratische Elemente sind, die sich dort gegen das demokratische Dänemark auflehnen." Weiterhin dentet er auf das seltsame Mißverständnis hin, daß sich die konservativen Regierungen 1848 bis 1850 Dänemarks gegen die Herzogtümer annahmen, denn gerade in den Herzogtümern seien die konservativen Prinzipien aufrecht erhalten worden. Außerordentlich interessant, manchmal dabei freilich von unfreiwilliger Komik, sind Vernhardis Mitteilungen über seinen alten Oheim Ludwig Tieck. Wenn er ihn besucht, findet er ihn fast stets Casanova lesend. Von Goethe läßt er nnr Werther und Götz gelten, den zweiten Teil des Faust verachtet er. „Wäre Goethe das geblieben, was er in seiner Jugend war, so wäre etwas Großes aus ihm geworden!" Diese Ansicht erläutert er in einer andern Unterredung dahin, daß Goethe in Frankfurt hätte bleiben müssen, Bürger werden, die Freuden und Leiden seiner Zeit mit erleben: dann wäre etwas ans ihm geworden, was eine Parallele zu Shakespeare bilden könnte. Bei einer dritten Gelegenheit heißt es sogar: „An dem Streben, sich von der Be¬ deutung der Dinge Rechenschaft zu geben, ist Goethe zu Grunde gegangen." Man wird dem Neffen Recht geben, wenn er findet, der Oheim habe das Leben als einen wesenlosen Traum behandelt, zu keinem seiner Werke so ernst¬ hafte Borstudien gemacht, wie z. B. Goethe zum Goetz, und sich überhaupt in seiner Jugend nicht nach wirklichen Kenntnissen umgethan. Sowie freilich nicht von Poesie und Litteraturgeschichte, sondern von realen Dingen des Lebens die Rede ist, zeigt sich Tieck als scharfen und unbefangnen Beobachter. So erkennt er an, daß das Volk durch die allgemeine Dienstpflicht etwas ganz andres geworden sei. „Ehemals — sagt er, der ja viel auf dem Lande gelebt hatte und das Leben der Landleute genau kannte — war das Vranntweinsaufen unter den Bauern und Handwerkern ganz allgemein; nun: fand uuter den Bauern nicht selten Leute, die eigentlich vom Branntwein lebten, die allen Geschmack für Speise und die Fähigkeit, zu verdauen, ver¬ loren hatten; die starben dann mehr oder weniger blödsinnig im Alter von vierzig bis fünfzig Jahren. Dergleichen giebt es jetzt nicht mehr, zu der Ver¬ besserung trägt aber gewiß die Emanzipation des Bauernstandes nicht weniger bei als das Militärsystem." Die ergötzlichste Episode der Erinnerungen Bernhardts bildet wohl die Schilderung des Treibens in Weimar im Winter 1851 auf 1852. Da er¬ scheint Semilasso mit reich gelockter Perrücke, schwarz gefärbtem Bart und falschen Zähnen als greisenhafter Verführer und erntet am Hofe den Ruf, der größte Lebensphilosoph zu sein. Die von Liszt inszenirte Begeisterung für Wagner widert Bernhardt an, und mit eben so grausamem als berech-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/272>, abgerufen am 22.07.2024.