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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Harmonie steht mit den Anforderungen einer gesunden Volkswirtschaft. Diese
Tugend fordert nun allerdings, daß der Genuß von Tabak und Branntwein,
der Wirtshausbesuch, der überflüssige Putz und häufige Kleiderwechsel, der
Gebrauch von vielerlei Kleinigkeiten, die heute Mode, aber teils überflüssig,
teils schädlich sind, eingeschränkt oder ganz beseitigt werden, und daß sich dafür
jede Familie ein behagliches, mit allem Nötigen ausgestattetes Heim gründe,
es an kräftiger Nahrung, an Milch für die Kinder, an Obst zur Erfrischung,
an Wein zur Stärkung für die Alten und Schwachen nicht fehlen lasse. Was
wäre da nicht alles zu schaffen, wie müßte die Produktion blühen, wenn sie
nicht so ausschließlich dem Interesse der Reichen, sondern mehr den Bedürf¬
nissen des ganzen Volkes diente, und wenn wir außerdem die gemeinnützigen
Anstalten und Einrichtungen auf jene Höhe bringen wollten, auf der sie sich
unter den römischen Kaisern in deren Gebiet von der Mündung des Tcijo
bis an den Euphrat und vom Themsestrand bis an den Rand der libyschen
Wüste befanden! Ist doch die Wasserversorgung unsrer Städte -- von den
Dörfern spricht ja niemand -- nur ein stümperhafter Versuch, verglichen mit
den Wasserleitungen und den spottbilligen, zum Teil ganz umsonst gebotnen
Badeeinrichtungen, deren sich die Bewohner des römischen Reichs in der Haupt¬
stadt wie im letzten Dorfe erfreuten, und wo fände man im ganzen heutigen
Europa Stätten der Volkserholung, wie die Thermen, die öffentlichen Biblio¬
theken, die Volkshallen und Wandelbahnen der Römer? Und wie weit stehen
unsre heutigen Bauten an Festigkeit, gediegner Pracht und gutem Geschmack
hinter den altrömischen zurück! Und wie ausschließlich ist die Kunst, die in
Altrom ein Bedürfnis aller war, bei uns noch ein Luxus der Reichen! Die
Ergebnisse von Mommsens und Friedländers Forschungen über diesen Gegen¬
stand sind noch viel zu wenig allgemein bekannt. Aber um bei uns den
schäbigen und schädlichen Luxus dnrch die Befriedigung aller echten Bedürf¬
nisse und durch edeln Luxus zu verdrängen, müßte unsre ganze Produktion,
ja unser ganzer Staats- und Gesellschaftsbau eine gründliche Umwälzung er¬
fahren. Die Einkommen der kleinen Handwerker, der Lohnarbeiter, der Unter¬
beamten müßten mindestens auf das Doppelte erhöht und vor allem gesichert
werden -- denn Leute mit unsicherm Einkommen und in unsichrer Stellung
sind niemals wirtschaftlich --, mächtige Jnteressentenringe müßten gesprengt,*)



Wir brauchen noch gar nicht einmal an die großen Branntweinbrenner zu denke";
schon die Besitzer der liederlichen Berliner Cafös sind, teils als große Steuerzahler, teils
ihrer vornehmen Kundschaft wegen, so mächtige Leute, daß sich der Minister deS Innern und
der Polizeipräsident nach der bekannten unvorsichtigen Attacke schleunigst vor ihnen zurück¬
gezogen haben. Sie dürfe" nach wie vor ihr Geschäft die ganze Nacht hindurch betreiben;
nur die anständigen Wirtschaften werden um elf Uhr geschlossen, nur der anständige Gast
wird, wenn er um elf Uhr mit seinem Bier oder seiner Unterhaltung noch nicht fertig ist,
wie ein dummer Junge nach Hause geschickt.

Harmonie steht mit den Anforderungen einer gesunden Volkswirtschaft. Diese
Tugend fordert nun allerdings, daß der Genuß von Tabak und Branntwein,
der Wirtshausbesuch, der überflüssige Putz und häufige Kleiderwechsel, der
Gebrauch von vielerlei Kleinigkeiten, die heute Mode, aber teils überflüssig,
teils schädlich sind, eingeschränkt oder ganz beseitigt werden, und daß sich dafür
jede Familie ein behagliches, mit allem Nötigen ausgestattetes Heim gründe,
es an kräftiger Nahrung, an Milch für die Kinder, an Obst zur Erfrischung,
an Wein zur Stärkung für die Alten und Schwachen nicht fehlen lasse. Was
wäre da nicht alles zu schaffen, wie müßte die Produktion blühen, wenn sie
nicht so ausschließlich dem Interesse der Reichen, sondern mehr den Bedürf¬
nissen des ganzen Volkes diente, und wenn wir außerdem die gemeinnützigen
Anstalten und Einrichtungen auf jene Höhe bringen wollten, auf der sie sich
unter den römischen Kaisern in deren Gebiet von der Mündung des Tcijo
bis an den Euphrat und vom Themsestrand bis an den Rand der libyschen
Wüste befanden! Ist doch die Wasserversorgung unsrer Städte — von den
Dörfern spricht ja niemand — nur ein stümperhafter Versuch, verglichen mit
den Wasserleitungen und den spottbilligen, zum Teil ganz umsonst gebotnen
Badeeinrichtungen, deren sich die Bewohner des römischen Reichs in der Haupt¬
stadt wie im letzten Dorfe erfreuten, und wo fände man im ganzen heutigen
Europa Stätten der Volkserholung, wie die Thermen, die öffentlichen Biblio¬
theken, die Volkshallen und Wandelbahnen der Römer? Und wie weit stehen
unsre heutigen Bauten an Festigkeit, gediegner Pracht und gutem Geschmack
hinter den altrömischen zurück! Und wie ausschließlich ist die Kunst, die in
Altrom ein Bedürfnis aller war, bei uns noch ein Luxus der Reichen! Die
Ergebnisse von Mommsens und Friedländers Forschungen über diesen Gegen¬
stand sind noch viel zu wenig allgemein bekannt. Aber um bei uns den
schäbigen und schädlichen Luxus dnrch die Befriedigung aller echten Bedürf¬
nisse und durch edeln Luxus zu verdrängen, müßte unsre ganze Produktion,
ja unser ganzer Staats- und Gesellschaftsbau eine gründliche Umwälzung er¬
fahren. Die Einkommen der kleinen Handwerker, der Lohnarbeiter, der Unter¬
beamten müßten mindestens auf das Doppelte erhöht und vor allem gesichert
werden — denn Leute mit unsicherm Einkommen und in unsichrer Stellung
sind niemals wirtschaftlich —, mächtige Jnteressentenringe müßten gesprengt,*)



Wir brauchen noch gar nicht einmal an die großen Branntweinbrenner zu denke»;
schon die Besitzer der liederlichen Berliner Cafös sind, teils als große Steuerzahler, teils
ihrer vornehmen Kundschaft wegen, so mächtige Leute, daß sich der Minister deS Innern und
der Polizeipräsident nach der bekannten unvorsichtigen Attacke schleunigst vor ihnen zurück¬
gezogen haben. Sie dürfe» nach wie vor ihr Geschäft die ganze Nacht hindurch betreiben;
nur die anständigen Wirtschaften werden um elf Uhr geschlossen, nur der anständige Gast
wird, wenn er um elf Uhr mit seinem Bier oder seiner Unterhaltung noch nicht fertig ist,
wie ein dummer Junge nach Hause geschickt.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/223>, abgerufen am 22.07.2024.