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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Deutschland und das Mittelmeer

vieler Franzosen immer wieder auf Deutschland zurücklenken mögen, tiefer
reichen die Zwiste, die Frankreich und Italien trennen. Von Deutschland
kann Frankreich nur die Verlornen Provinzen zurückgewinnen, den Kampfpreis
eines französisch-italienischen Krieges bildet die Vorherrschaft im westlichen
Mittelmeer, mit der die Beherrschung des auch an Fruchtbarkeit und Be¬
wohnbarkeit europäischsten Teiles von Afrika und der nächstgelegnen Eingänge
zum Sudan, d. h. eine Weltmachtstellung in Afrika verbunden ist. Von zwei
Strömungen, denen sich die politischen Geister in Italien überlassen, wird die
auf die Gewinnung Südtirols und des Küstenlandes gerichtete immer schwächer
und gilt als die unpraktischere; die nach Süden und auf das Meer gerichtete
erstarkt, sie trägt die Gedanken der praktischen Politiker. Die Mittelmeerpolitik
hat Italien dem Dreibunde zugeführt, der Dreibund befestigt in Italien die
Überzeugung, daß die Zukunft Italiens nicht in den Alpen, sondern ans und über
dem Meere liege. Zugleich bindet dieses Band England mit Italien zusammen,
denn von der Ausbreitung Frankreichs zur See sind Italien und England
am meisten und England mehr als Italien, weil an viel mehr Punkten be¬
droht. Auf der andern Seite bildet der gemeinsame Kampf gegen Englands
Seeherrschaft den Kitt des französisch-russischen Einverständnisses, das die kurz¬
sichtige öffentliche Meinung der beiden Länder in erster Linie gegen Deutsch¬
land gerichtet wähnt. Deutschland bietet freilich den besten Vorwand, die wankel¬
mütigen Franzosen auf Rußlands Seite zu ziehen; aber eine Weltmacht wie
Rußland und eine auf die Erbschaft Englands als See- und Kolonialmacht
spekulirende Macht wie Frankreich verständigen sich über Ziele, die über Rhein
und Weichsel hinausliegen. Der Kampf, der über den Besitz des Bosporus,
Ägyptens, Indiens, um die Herrschaft im Mittelmeere und im Indischen
Ozean gekämpft werden muß, soll nicht als neuer siebenjähriger Krieg
-- der alte siebenjährige Krieg entschied bekanntlich Englands Triumph als
Kolonialmacht in Asien und Amerika -- auf deutschem Boden ausgefochten
zu werden. Die natürlichen Kampfplätze liegen diesmal glücklicherweise süd¬
licher.




Deutschland und das Mittelmeer

vieler Franzosen immer wieder auf Deutschland zurücklenken mögen, tiefer
reichen die Zwiste, die Frankreich und Italien trennen. Von Deutschland
kann Frankreich nur die Verlornen Provinzen zurückgewinnen, den Kampfpreis
eines französisch-italienischen Krieges bildet die Vorherrschaft im westlichen
Mittelmeer, mit der die Beherrschung des auch an Fruchtbarkeit und Be¬
wohnbarkeit europäischsten Teiles von Afrika und der nächstgelegnen Eingänge
zum Sudan, d. h. eine Weltmachtstellung in Afrika verbunden ist. Von zwei
Strömungen, denen sich die politischen Geister in Italien überlassen, wird die
auf die Gewinnung Südtirols und des Küstenlandes gerichtete immer schwächer
und gilt als die unpraktischere; die nach Süden und auf das Meer gerichtete
erstarkt, sie trägt die Gedanken der praktischen Politiker. Die Mittelmeerpolitik
hat Italien dem Dreibunde zugeführt, der Dreibund befestigt in Italien die
Überzeugung, daß die Zukunft Italiens nicht in den Alpen, sondern ans und über
dem Meere liege. Zugleich bindet dieses Band England mit Italien zusammen,
denn von der Ausbreitung Frankreichs zur See sind Italien und England
am meisten und England mehr als Italien, weil an viel mehr Punkten be¬
droht. Auf der andern Seite bildet der gemeinsame Kampf gegen Englands
Seeherrschaft den Kitt des französisch-russischen Einverständnisses, das die kurz¬
sichtige öffentliche Meinung der beiden Länder in erster Linie gegen Deutsch¬
land gerichtet wähnt. Deutschland bietet freilich den besten Vorwand, die wankel¬
mütigen Franzosen auf Rußlands Seite zu ziehen; aber eine Weltmacht wie
Rußland und eine auf die Erbschaft Englands als See- und Kolonialmacht
spekulirende Macht wie Frankreich verständigen sich über Ziele, die über Rhein
und Weichsel hinausliegen. Der Kampf, der über den Besitz des Bosporus,
Ägyptens, Indiens, um die Herrschaft im Mittelmeere und im Indischen
Ozean gekämpft werden muß, soll nicht als neuer siebenjähriger Krieg
— der alte siebenjährige Krieg entschied bekanntlich Englands Triumph als
Kolonialmacht in Asien und Amerika — auf deutschem Boden ausgefochten
zu werden. Die natürlichen Kampfplätze liegen diesmal glücklicherweise süd¬
licher.




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[0214] Deutschland und das Mittelmeer vieler Franzosen immer wieder auf Deutschland zurücklenken mögen, tiefer reichen die Zwiste, die Frankreich und Italien trennen. Von Deutschland kann Frankreich nur die Verlornen Provinzen zurückgewinnen, den Kampfpreis eines französisch-italienischen Krieges bildet die Vorherrschaft im westlichen Mittelmeer, mit der die Beherrschung des auch an Fruchtbarkeit und Be¬ wohnbarkeit europäischsten Teiles von Afrika und der nächstgelegnen Eingänge zum Sudan, d. h. eine Weltmachtstellung in Afrika verbunden ist. Von zwei Strömungen, denen sich die politischen Geister in Italien überlassen, wird die auf die Gewinnung Südtirols und des Küstenlandes gerichtete immer schwächer und gilt als die unpraktischere; die nach Süden und auf das Meer gerichtete erstarkt, sie trägt die Gedanken der praktischen Politiker. Die Mittelmeerpolitik hat Italien dem Dreibunde zugeführt, der Dreibund befestigt in Italien die Überzeugung, daß die Zukunft Italiens nicht in den Alpen, sondern ans und über dem Meere liege. Zugleich bindet dieses Band England mit Italien zusammen, denn von der Ausbreitung Frankreichs zur See sind Italien und England am meisten und England mehr als Italien, weil an viel mehr Punkten be¬ droht. Auf der andern Seite bildet der gemeinsame Kampf gegen Englands Seeherrschaft den Kitt des französisch-russischen Einverständnisses, das die kurz¬ sichtige öffentliche Meinung der beiden Länder in erster Linie gegen Deutsch¬ land gerichtet wähnt. Deutschland bietet freilich den besten Vorwand, die wankel¬ mütigen Franzosen auf Rußlands Seite zu ziehen; aber eine Weltmacht wie Rußland und eine auf die Erbschaft Englands als See- und Kolonialmacht spekulirende Macht wie Frankreich verständigen sich über Ziele, die über Rhein und Weichsel hinausliegen. Der Kampf, der über den Besitz des Bosporus, Ägyptens, Indiens, um die Herrschaft im Mittelmeere und im Indischen Ozean gekämpft werden muß, soll nicht als neuer siebenjähriger Krieg — der alte siebenjährige Krieg entschied bekanntlich Englands Triumph als Kolonialmacht in Asien und Amerika — auf deutschem Boden ausgefochten zu werden. Die natürlichen Kampfplätze liegen diesmal glücklicherweise süd¬ licher.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/214>, abgerufen am 22.07.2024.