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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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"In diesem Sinne ist also Glauben ein Element, ja das eigentliche Form-
Prinzip jeder Philosophie. Der Glaube an die Zukunft formt die Auffassung
des geschichtlichen Lebens, und die Pilosophie der Geschichte formt die Welt¬
anschauung eines Menschen. Nicht die Astronomie formt die Weltanschauung....
Die Konstruktion und Deutung aber des geistig-geschichtlichen Lebens, die
kommt nicht aus der Wissenschaft vom Vergangnen, sondern aus der Idee
vom Vollkommneu, die jeder mitbringt. Sie sagt ihm, wohin die Bewegung
geht, und sowie er das weiß, so weiß er auch bald, was es mit der Natur
und der Welt überhaupt auf sich hat. Das mir Wichtige ist das Wesentliche
an der Welt, nach diesem Schema hat der menschliche Geist zu allen Zeiten
geschlossen, und er wird es schwerlich verlernen, es sei denn, daß einmal Kopf
und Herz, Intelligenz und Wille zu völlig getrennter Haushaltung übergehen
sollten. So lange sie in der alten Gemeinschaft leben, wird es bleiben wie
bisher: was den Willen nicht erregt, das vermag die Aufmerksamkeit nicht zu
erregen, das wird übersehen und füllt also für die Bildung der Vorstellung
von der Wirklichkeit aus. So wird notwendig das Wichtige zum Wesentlichen
und das Wesentliche zum allein Wirklichen."

Ist nun auch durch solche Erwägungen, wie sie Paulsen anstellt, dem
einzelnen Denkenden der Besitz einer vom Kirchenglauben unabhängigen Re¬
ligion gesichert, so ist doch damit die zweifache Schwierigkeit nicht gelöst, wie
eine Volksreligion ohne Dogmen bestehen soll, und wie sich, so lange es keine
dogmenlose Volksmoral giebt, der einzelne Denker zur Volksreligion, zur Kirche,
und diese zu ihm zu stellen habe. Denn die Auffassung, daß die Dogmen
fortbestehen sollen, nur nicht als Begriffe, sondern als "Symbole, ist zwar
richtig, ist aber, wie die Erfahrung zeigt, bisher im kirchlichen Leben nicht
durchführbar gewesen. Es bleibt daher vorläufig dabei, was ein andrer Denker
sagt, daß die bisherigen Lösungen der Philosophie, so-weit es sich um das
Leben der Massen, der Menschheit im allgemeine"! handelt, nur eben so viele
neue Fragen sind. "Wo so gewaltige Verwicklungen vorliegen -- sagt
Eucken") -- und bis in den Grundbestand unsrer geistigen Existenz zurück¬
greifen, da kann ein leises Verschieben, ein geschicktes Zurechtstellen der vor-
gefundnen Lehren und Einrichtungen nicht genügen. Aber da darf sich auch
die Kultur nicht den Schein geben, als besitze sie einen untrüglichen Maßstab,
den man nur einfach anzulegen brauche. Es liegt geradezu eine Unwcchr-
hnftigkeit darin, unsern heutigen Stand mit all seinen Problemen und Wider¬
sprüchen als einen sichern und fertigen hinzustellen, mag das von der Religion,
>uag es von der Kultur aus geschehen. Wir alle, d. h. wir, die wir uns



*) In seinem vortrefflichen Buche: Die Grundbegriffe der Gegenwart, historisch
und kritisch entwickelt von Rudolf Ernten, o. ö. Professor an der Universität Jena. Zweite,
völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig, Veit und Comp., 1893. Das Buch ist aus demselben
Geiste geschrieben wie Paniscus Einleitung; etwas schwieriger zu lesen, aber sehr reichhaltig.

„In diesem Sinne ist also Glauben ein Element, ja das eigentliche Form-
Prinzip jeder Philosophie. Der Glaube an die Zukunft formt die Auffassung
des geschichtlichen Lebens, und die Pilosophie der Geschichte formt die Welt¬
anschauung eines Menschen. Nicht die Astronomie formt die Weltanschauung....
Die Konstruktion und Deutung aber des geistig-geschichtlichen Lebens, die
kommt nicht aus der Wissenschaft vom Vergangnen, sondern aus der Idee
vom Vollkommneu, die jeder mitbringt. Sie sagt ihm, wohin die Bewegung
geht, und sowie er das weiß, so weiß er auch bald, was es mit der Natur
und der Welt überhaupt auf sich hat. Das mir Wichtige ist das Wesentliche
an der Welt, nach diesem Schema hat der menschliche Geist zu allen Zeiten
geschlossen, und er wird es schwerlich verlernen, es sei denn, daß einmal Kopf
und Herz, Intelligenz und Wille zu völlig getrennter Haushaltung übergehen
sollten. So lange sie in der alten Gemeinschaft leben, wird es bleiben wie
bisher: was den Willen nicht erregt, das vermag die Aufmerksamkeit nicht zu
erregen, das wird übersehen und füllt also für die Bildung der Vorstellung
von der Wirklichkeit aus. So wird notwendig das Wichtige zum Wesentlichen
und das Wesentliche zum allein Wirklichen."

Ist nun auch durch solche Erwägungen, wie sie Paulsen anstellt, dem
einzelnen Denkenden der Besitz einer vom Kirchenglauben unabhängigen Re¬
ligion gesichert, so ist doch damit die zweifache Schwierigkeit nicht gelöst, wie
eine Volksreligion ohne Dogmen bestehen soll, und wie sich, so lange es keine
dogmenlose Volksmoral giebt, der einzelne Denker zur Volksreligion, zur Kirche,
und diese zu ihm zu stellen habe. Denn die Auffassung, daß die Dogmen
fortbestehen sollen, nur nicht als Begriffe, sondern als «Symbole, ist zwar
richtig, ist aber, wie die Erfahrung zeigt, bisher im kirchlichen Leben nicht
durchführbar gewesen. Es bleibt daher vorläufig dabei, was ein andrer Denker
sagt, daß die bisherigen Lösungen der Philosophie, so-weit es sich um das
Leben der Massen, der Menschheit im allgemeine»! handelt, nur eben so viele
neue Fragen sind. „Wo so gewaltige Verwicklungen vorliegen — sagt
Eucken") — und bis in den Grundbestand unsrer geistigen Existenz zurück¬
greifen, da kann ein leises Verschieben, ein geschicktes Zurechtstellen der vor-
gefundnen Lehren und Einrichtungen nicht genügen. Aber da darf sich auch
die Kultur nicht den Schein geben, als besitze sie einen untrüglichen Maßstab,
den man nur einfach anzulegen brauche. Es liegt geradezu eine Unwcchr-
hnftigkeit darin, unsern heutigen Stand mit all seinen Problemen und Wider¬
sprüchen als einen sichern und fertigen hinzustellen, mag das von der Religion,
>uag es von der Kultur aus geschehen. Wir alle, d. h. wir, die wir uns



*) In seinem vortrefflichen Buche: Die Grundbegriffe der Gegenwart, historisch
und kritisch entwickelt von Rudolf Ernten, o. ö. Professor an der Universität Jena. Zweite,
völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig, Veit und Comp., 1893. Das Buch ist aus demselben
Geiste geschrieben wie Paniscus Einleitung; etwas schwieriger zu lesen, aber sehr reichhaltig.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/21>, abgerufen am 21.06.2024.