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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr.

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Wanderung von jährlich zwei- bis dreitausend Arbeitern, Wanderkrämern n, s. w.,
durch Handel, Schiffahrt, Fischerei -- vergebens bemühen sich die Franzosen,
ihre eignen Schiffer auf die reichen Edelkorallen- und Schwammgründe der
algerischen und tunesischen Küste zu bringen --, und besouders durch die alte,
vpfervolle Thätigkeit italienischer Mönche in den Kirchlein und Schulen der
tunesischen Diaspora glaubten die Italiener, die in ein paar Stunden von der
sizilianischen Südküste nach La Goelette, Biserta u. s. w- sahren, ein Vorrecht
auf die Ausnutzung dieses geschichtlichen Brach- und Trümmerfeldes zu haben.
Wenn die ganze französische Auswanderung ein Fünftel und weniger von der
italienischen betrügt, so liegt die geringere Notwendigkeit für Frankreich, ein
fruchtbares, dünnbevölkertes Land dem eignen Bevölkerungsüberfluß dienstbar
zu machen, auf der Hand, und man begreift, daß die Italiener in dem Schutz¬
vertrage vom 12. Mai 1881 eine doppelt empfindliche Äußerung der von keiner
entsprechenden Volkskraft getragnen und gedrängten französischen Herrschsucht
erblicken. In der That, für Frankreich mit seinen fast 80000 Quadrat-
meilen umfassenden Kolonien und Schutzstaaten ist Tunis in jeder andern Hin¬
sicht als der rein politischen ein Luxusgegenstand. Die politische Bedeutung
von Tunis liegt aber für Frankreich ausschließlich in der Bedrohung Italiens
und in der Ausdehnung seiner Herrschaft im Mittelmeer. Daß Frankreich
Tunis zur Abrundung seiner afrikanischen Kolonien bedürfe, glaubt niemand,
der auch nur die Karte von Afrika im Kopfe hat. Die Befestigung von Bi¬
serta lehrt übrigens klar genug, wo Frankreich hier hinauswill. Über die
Straße von Sizilien weg, die, eine breitere Meerenge, das östliche und west¬
liche Mittelmeer verbindet, hat sich der alte römisch-punische Konflikt erneuert,
den nur das Zurückweichen Frankreichs aus der Stelle des nider Karthago
oder der Verzicht Italiens auf eine unabhängige Stellung im Mittelmeer, das
sein einziges Meer ist, beenden wird.

Als Frankreich an das Syrtenmeer vorrückte, erinnerte sich auch die
Pforte wieder deutlicher ihres angrenzenden afrikanischen Besitzes, an der tief
nach Süden einschneidenden und dadurch für den Verkehr mit Jnnerafrika
so günstig gelegnen Küste von Tripolis und ans der gegen Kreta vorsprin¬
genden Barlahalbinsel. Auch die Lockerung der Schutzherrschaft über Ägypten
ließ diesen immerhin beträchtlichen Rest von der doppelten Größe Deutschlands
jetzt wertvoller erscheinen. Dazu kommen religionspolitische Rücksichten auf
den vom südlichen Bergast ausstrahlenden, tief in den Sudan reichenden Ein¬
fluß der religiösen Bruderschaft der Sennssia, die eine leidenschaftliche Pro¬
paganda für eine schroffe Form des Islam macht. Italien mochte früher
hoffen, das wirtschaftliche Übergewicht seiner in den Hafenplätzen von Tripolis
und Benghasi stark vertretenen Volksgenossen einst politisch ausmünzen zu
können, fand aber die Pforte argwöhnischer geworden und gab den Plan auf,
sodaß jetzt nur noch der Gelehrte an ihn erinnert wird durch die vorzüglichen


Wanderung von jährlich zwei- bis dreitausend Arbeitern, Wanderkrämern n, s. w.,
durch Handel, Schiffahrt, Fischerei — vergebens bemühen sich die Franzosen,
ihre eignen Schiffer auf die reichen Edelkorallen- und Schwammgründe der
algerischen und tunesischen Küste zu bringen —, und besouders durch die alte,
vpfervolle Thätigkeit italienischer Mönche in den Kirchlein und Schulen der
tunesischen Diaspora glaubten die Italiener, die in ein paar Stunden von der
sizilianischen Südküste nach La Goelette, Biserta u. s. w- sahren, ein Vorrecht
auf die Ausnutzung dieses geschichtlichen Brach- und Trümmerfeldes zu haben.
Wenn die ganze französische Auswanderung ein Fünftel und weniger von der
italienischen betrügt, so liegt die geringere Notwendigkeit für Frankreich, ein
fruchtbares, dünnbevölkertes Land dem eignen Bevölkerungsüberfluß dienstbar
zu machen, auf der Hand, und man begreift, daß die Italiener in dem Schutz¬
vertrage vom 12. Mai 1881 eine doppelt empfindliche Äußerung der von keiner
entsprechenden Volkskraft getragnen und gedrängten französischen Herrschsucht
erblicken. In der That, für Frankreich mit seinen fast 80000 Quadrat-
meilen umfassenden Kolonien und Schutzstaaten ist Tunis in jeder andern Hin¬
sicht als der rein politischen ein Luxusgegenstand. Die politische Bedeutung
von Tunis liegt aber für Frankreich ausschließlich in der Bedrohung Italiens
und in der Ausdehnung seiner Herrschaft im Mittelmeer. Daß Frankreich
Tunis zur Abrundung seiner afrikanischen Kolonien bedürfe, glaubt niemand,
der auch nur die Karte von Afrika im Kopfe hat. Die Befestigung von Bi¬
serta lehrt übrigens klar genug, wo Frankreich hier hinauswill. Über die
Straße von Sizilien weg, die, eine breitere Meerenge, das östliche und west¬
liche Mittelmeer verbindet, hat sich der alte römisch-punische Konflikt erneuert,
den nur das Zurückweichen Frankreichs aus der Stelle des nider Karthago
oder der Verzicht Italiens auf eine unabhängige Stellung im Mittelmeer, das
sein einziges Meer ist, beenden wird.

Als Frankreich an das Syrtenmeer vorrückte, erinnerte sich auch die
Pforte wieder deutlicher ihres angrenzenden afrikanischen Besitzes, an der tief
nach Süden einschneidenden und dadurch für den Verkehr mit Jnnerafrika
so günstig gelegnen Küste von Tripolis und ans der gegen Kreta vorsprin¬
genden Barlahalbinsel. Auch die Lockerung der Schutzherrschaft über Ägypten
ließ diesen immerhin beträchtlichen Rest von der doppelten Größe Deutschlands
jetzt wertvoller erscheinen. Dazu kommen religionspolitische Rücksichten auf
den vom südlichen Bergast ausstrahlenden, tief in den Sudan reichenden Ein¬
fluß der religiösen Bruderschaft der Sennssia, die eine leidenschaftliche Pro¬
paganda für eine schroffe Form des Islam macht. Italien mochte früher
hoffen, das wirtschaftliche Übergewicht seiner in den Hafenplätzen von Tripolis
und Benghasi stark vertretenen Volksgenossen einst politisch ausmünzen zu
können, fand aber die Pforte argwöhnischer geworden und gab den Plan auf,
sodaß jetzt nur noch der Gelehrte an ihn erinnert wird durch die vorzüglichen


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[0208] Wanderung von jährlich zwei- bis dreitausend Arbeitern, Wanderkrämern n, s. w., durch Handel, Schiffahrt, Fischerei — vergebens bemühen sich die Franzosen, ihre eignen Schiffer auf die reichen Edelkorallen- und Schwammgründe der algerischen und tunesischen Küste zu bringen —, und besouders durch die alte, vpfervolle Thätigkeit italienischer Mönche in den Kirchlein und Schulen der tunesischen Diaspora glaubten die Italiener, die in ein paar Stunden von der sizilianischen Südküste nach La Goelette, Biserta u. s. w- sahren, ein Vorrecht auf die Ausnutzung dieses geschichtlichen Brach- und Trümmerfeldes zu haben. Wenn die ganze französische Auswanderung ein Fünftel und weniger von der italienischen betrügt, so liegt die geringere Notwendigkeit für Frankreich, ein fruchtbares, dünnbevölkertes Land dem eignen Bevölkerungsüberfluß dienstbar zu machen, auf der Hand, und man begreift, daß die Italiener in dem Schutz¬ vertrage vom 12. Mai 1881 eine doppelt empfindliche Äußerung der von keiner entsprechenden Volkskraft getragnen und gedrängten französischen Herrschsucht erblicken. In der That, für Frankreich mit seinen fast 80000 Quadrat- meilen umfassenden Kolonien und Schutzstaaten ist Tunis in jeder andern Hin¬ sicht als der rein politischen ein Luxusgegenstand. Die politische Bedeutung von Tunis liegt aber für Frankreich ausschließlich in der Bedrohung Italiens und in der Ausdehnung seiner Herrschaft im Mittelmeer. Daß Frankreich Tunis zur Abrundung seiner afrikanischen Kolonien bedürfe, glaubt niemand, der auch nur die Karte von Afrika im Kopfe hat. Die Befestigung von Bi¬ serta lehrt übrigens klar genug, wo Frankreich hier hinauswill. Über die Straße von Sizilien weg, die, eine breitere Meerenge, das östliche und west¬ liche Mittelmeer verbindet, hat sich der alte römisch-punische Konflikt erneuert, den nur das Zurückweichen Frankreichs aus der Stelle des nider Karthago oder der Verzicht Italiens auf eine unabhängige Stellung im Mittelmeer, das sein einziges Meer ist, beenden wird. Als Frankreich an das Syrtenmeer vorrückte, erinnerte sich auch die Pforte wieder deutlicher ihres angrenzenden afrikanischen Besitzes, an der tief nach Süden einschneidenden und dadurch für den Verkehr mit Jnnerafrika so günstig gelegnen Küste von Tripolis und ans der gegen Kreta vorsprin¬ genden Barlahalbinsel. Auch die Lockerung der Schutzherrschaft über Ägypten ließ diesen immerhin beträchtlichen Rest von der doppelten Größe Deutschlands jetzt wertvoller erscheinen. Dazu kommen religionspolitische Rücksichten auf den vom südlichen Bergast ausstrahlenden, tief in den Sudan reichenden Ein¬ fluß der religiösen Bruderschaft der Sennssia, die eine leidenschaftliche Pro¬ paganda für eine schroffe Form des Islam macht. Italien mochte früher hoffen, das wirtschaftliche Übergewicht seiner in den Hafenplätzen von Tripolis und Benghasi stark vertretenen Volksgenossen einst politisch ausmünzen zu können, fand aber die Pforte argwöhnischer geworden und gab den Plan auf, sodaß jetzt nur noch der Gelehrte an ihn erinnert wird durch die vorzüglichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215723/208>, abgerufen am 22.07.2024.